Heute in den Feuilletons

Stein auf Stein sanft gestreichelt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.03.2011. In der FR erzählt Najem Wali von einem Traumhaus in Bagdad. In Slate schreibt David Simon, Autor der Serie "The Wire": Für "Snoop" gilt die Unschuldsvermutung. In der New Republic fragt Nicole Krauss: Was wird im Zeitalter des Ebooks aus Buchläden? Die NZZ hält außerirdisches Leben für möglich. Die FAZ liest Jan T. Gross' Buch "Goldene Ernte".  Und die Welt fragt: Wer ist beliebt bei Links und Rechts? Äh, ... ach ja, das war Gaddafi.

FR, 11.03.2011

Der deutsch-irakische Autor Najem Wali erzählt von einem Traumhaus in Bagdad, am Ufer des Tigris. Gebaut wurde es Anfang des 20. Jahrhunderts von Kathim Ibn Arif. Sein ursprünglicher Besitzer war ein irakischer Jude, Sir Sassoon Eskell, fünf Mal Finanzminister im Irak. Es wurde später als Theaterclub benutzt, heute teilen sich das Haus die Armee und junge Filmschaffende, die dort ein Filmkunstzentrum errichtet haben: "Alles daran ist schön: Die Rundungen der Bögen, die Türen, die Balustraden auf dem Flachdach, die hölzernen Fenster, der ausladende Balkon hoch über dem Tigris. Es wirkt fast, als habe die Hand des Meisters hier, von der historischen Al-Raschid-Straße aus leicht zurückgesetzt, Stein auf Stein sanft gestreichelt und liebevoll geformt. Und als wisse die Hand nicht, dass der Besitzer dieses Hauses, das einer ganzen Großfamilie Platz geboten hätte, sein Leben lang unverheiratet bleiben würde. Ja, es wirkt tatsächlich, als habe jener Bagdader Baumeister mit seinem durch kein Unistudium verbauten instinktiven Gespür erkannt, dass dieses Haus so großzügig sein musste, um den Träumen seines zukünftigen Bewohners Platz zu bieten. Dass es so viele Räume und Etagen umfassen musste wie die Träume des Mannes, der darin schlafen und erwachen würde."

Besprochen werden zwei Liszt-Klavierkonzerte mit Daniel Barenboim in Frankfurt, Klaus Königs CD "Requiem. For Martin Luther King jr.", die Ausstellung "Kompass" mit Zeichnungen aus New Yorks Moma im Berliner Martin-Gropius-Bau und Bücher, darunter Jan Karskis "Bericht an die Welt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 11.03.2011

Immer wieder der UN-Menschenrechtsrat! Das Blog UN Watch meldet: "U.N. rights chief Navi Pillay today rejected growing calls to fire Ms. Najat Al-Hajjaji, a long-time representative of the Qaddafi regime, from her post as the UN Human Rights Council's investigator on human rights violations by mercenaries, which many see as a cruel irony."

Felicia Pearson, die in der Serie "The Wire" die unheimliche Killerin "Snoop" spielt, wurde in Baltimore bei einer Drogenrazzia festgenommen. In einem Blog auf Slate veröffentlicht David Simon, Autor der Serie, ein Statement. Es gilt die Unschuldsvermutung, scheibt er. Und: "She worked hard as an actor and was entirely professional, but the entertainment industry as a whole does not offer a great many roles for those who can portray people from the other America."

Weitere Medien, 11.03.2011

Angesichts der fulminanten Erfolge des Ebooks in Amerika denkt die Autorin Nicole Krauss in der New Republic über das Verschwinden von Buchläden nach: "The other day I rented 'Hannah and Her Sisters' after having not seen it for many years. I was struck by how many chance meetings and conversations took place in book or record stores. No one would ever turn to Woody Allen for a realistic portrayal of New York, but, all the same, it surprised me that back then there were so many book and record stores to film in."

Henryk Broder empfiehlt in der Weltwoche Eugen Sorgs schwer zu verkraftendes Reportagebuch "Die Lust am Bösen": "Sorg war lange Jahre im Ausland unterwegs, auf dem Balkan, in Afrika und in Asien. Es gibt kaum einen Krisenort, den er nicht besucht hätte, immer auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum Menschen, die gestern noch friedlich zusammen lebten, heute übereinander herfallen und sich dabei wohl fühlen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, das Haus des Nachbarn abzubrennen, seine Frau zu vergewaltigen, ihn erst zu demütigen und dann zu erschlagen." Und was ist die Erklärung dafür? Die Schlacht am Amselfeld? "Unsinn, sagt Sorg, 'die meisten Menschen berauschen sich nicht an Ideen, sondern sie benutzen Ideen, um ihren Rausch zu legitimieren'. Sie stehlen und morden, nicht um alte Rechnungen zu begleichen, sondern sie nutzen die Gelegenheit, um sich auszutoben und dabei zu bereichern."

TAZ, 11.03.2011

Ingo Arend kommentiert die Rückgabe eines 4000 Jahre alten Löwenkopfes aus dem Berliner Pergamonmuseum an die Türkei. "Welche archäologische Sammlung der Welt sich wie ihre Bestände zusammengeklaut hat, gehört seit langem auf den Prüfstand. Was Parzinger zähneknirschend als 'Geste auf freiwilliger Basis' bezeichnet, dürfte dem Druck eines politischen Ultimatums geschuldet gewesen sein."

Besprochen werden ein Hamburger Konzert der schottischen Band Glasvegas, Brecht Evens preisgekrönter Comic "Am falschen Ort" und diverse Mixkultur-Alben: "We're New Here" von Gil Scott-Heron and Jamie XX, "Another Nice Mess" von DJ Marcelle, "Wuppdeckmischmampflow" von Robag Wruhme und "Dust Remixes" von Ellen Allien.

Und Tom.

Welt, 11.03.2011

Der Westen wird zurecht für seine späte Kungelei mit Gaddafi kritisiert, schreibt Richard Herzinger in einem Essay auf der Meinungsseite, aber man kann dem Westen nicht einfach seine Erbschaft in die Schuhe schieben, denn zuvor war Gaddafi der Liebling ganz anderer Kreise: "Der Hass gegen das 'imperialistische' Amerika und eine paranoide Israelfeindschaft bilden bis heute die Grundkonstante in Gaddafis ansonsten wirrem Weltbild. Noch vergangenes Jahr verkündete er, John F. Kennedy sei von den Israelis ermordet worden, weil er deren Atomprogramm habe untersuchen lassen wollen. Derartiges imponierte nicht nur linken 'Antizionisten', sondern ebenso dem rechten Rand - allen voran dem österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider, der laut einem seiner früheren Mitarbeiter von seinem libyschen Gönner 45 Millionen Euro Wahlkampfunterstützung erhalten haben soll. "

Im Feuilleton unterhält sich Andrea Backhaus mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho über gefallene Stars und Vorbilder von Charlie Sheen bis zu Karl-Theodor zu Guttenberg. Dankwart Guratzsch untersucht mit Hilfe einer Studie von Melanie Seidenglanz (mehr hier) vom Institut für deutsche Sprache die Prosa aktueller Rücktrittserklärungen. Paul Badde liest das jüngste Buch Benedikts XVI. über Jesus. Laura Ewert stellt die kommende, in Deutschland aber noch nicht gezündet habende Boygroup The Wanted vor. Besprochen wird Alejandro Gonzalez Inarritus Film "Biutiful" (mehr hier).

NZZ, 11.03.2011

Der emeritierte Biochemiker Gottfried Schatz erklärt, dass er die Existenz außerirdischen Lebens durchaus für möglich hält: "Ob es sich um komplexe Vielzeller mit überragender Intelligenz, bakterienähnliche Einzeller, Systeme mit exotischen chemischen Eigenschaften oder gar um nichtchemische Systeme handelt, spielt für mich dabei keine Rolle."

Weitere Artikel: Festivalgründerin Margit Ulama erzählt im Interview, was die Besucher des österreichischen Architekturfestivals "Turn On" am Wochenende in Wien erwartet. Joachim Güntner überlegt, warum so viele Menschen, darunter kürzlich Martin Walser im Focus (mehr), Karl Theodor zu Guttenberg immer noch verteidigen.

Besprochen wird eine Werkausgabe des französischen Comiczeichners Jean-Marc Reiser (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 11.03.2011

Von der Causa Guttenberg ausgelöste innerwissenschaftliche Diskussionen zur Frage der Promotion referiert Rudolf Neumaier. Über Queremos, die brasilianische Fan-Funding-Website für Rockkonzerte, berichtet Franziska Schwarz. Peter Laudenbach erzählt, was beim Stückefestival "Find" in Berlin bislang so zu sehen war (mehr dazu in der Nachtkritik). Jens-Christian Rabe erkennt in zwei Grammys eine Rückbesinnung auf die Blues-Ursprünge des Pop. Über die Auswahl für den Mülheimer Dramatikerpreis informiert Till Briegleb. Roswitha Budeus-Budde gratuliert dem KinderbuchautorJanosch, Nicole Hegener dem Kunsthistoriker Matthias Winner zum Achtzigsten.

Besprochen werden ein Konzert der Pianistin Helene Grimaud und der Münchner Philharmoniker unter Christian Thielemann mit Beethovens "Kaiserkonzert", Modeausstellungen in Kunsträumen (in denen sie Catrin Lorch aber deplatziert vorkommen - sie sähe sie lieber in Design-Museen), eine Ausstellung mit Werken des Bildhauers Rudolf Wachter und der Malerin Maria Huber im Athener Goethe-Institut, Yasemin Samderelis Gastarbeiter-Komödie "Almanya", George Nolfis Schicksalsthriller "Der Plan" und Bücher, darunter Friedrich Wilhelm Grafs Streitschrift "Kirchendämmerung" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 11.03.2011

In Polen sorgt das Buch "Goldene Ernte" des Historikers Jan T. Gross und seiner Frau Irena für große Aufregung. Die Autoren behaupten, dass der polnische Antisemitismus während des Zweiten Weltkriegs oft verheerender war als der deutsche. Tomasz Kurianowicz, dessen Vater einst Polen Richtung Deutschland verließ, sieht das Buch skeptisch und hält es doch für hilfreich als Anreger notwendiger Diskussionen. Nicht zuletzt macht er sich auch Gedanken zum Antisemitismus im Gegenwartspolen: "Ich erinnere mich an antisemitische Reden des polnischen Priesters Tadeusz Rydzyk, der heute den erfolgreichen, erzkonservativen Sender Radio Maryja in Torun betreibt. Und als Lech Kaczynskis Präsidentenmaschine abstürzte, gab es Leute, die sagten, dass das Unglück nicht passiert wäre, hätte sich der polnische Präsident israelfreundlicher gezeigt. Ist das kein Antisemitismus?"

Weitere Artikel: Mit offensichtlich guten Hintergrundkenntnissen erzählt Andreas Rossmann, wie es zur Trennung des Beethoven-Hauses in Bonn von seinem nur kurz amtierenden Direktor Philipp Adlung kam. Hannes Hintermeier glossiert in biblischer Sprache den heftigen Kampf um acht Euro Krankenkassen-Zusatzbeitrag.

Besprochen werden die Pariser Uraufführung von Marie NDiayes Stück "Les grandes personnes", die Ausstellung "Vive Reiser!" im Frankfurter Caricatura-Museum, die Ausstellung "Hans Baldung, genannt Grien" in der Berliner Gemäldegalerie, die Ausstellung "Adleraugen über Afghanistan" mit von Bundeswehr-Tornados aus geschossenen Fotografien im Stadtmuseum Schleswig, George Nolfis Philip-K.-Dick-Verfilmung "Der Plan" mit Matt Damon, Alejandro Gonzalez Inarritus Film "Biutiful" und Bücher, darunter die von Raoul Schrott und Arthur Jacobs verfasste Neuropoetik "Gehirn und Gedicht" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).