Heute in den Feuilletons

Kein Terminkalender-Reflex-Geseier

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2011. Es ist vor allem eine Revolte der arabischen Jugend, sagt Boualem Sansal im taz-Interview. In der FR fordert Tariq Ramadan Demokratie in Ägypten. Die NZZ beobachtet nicht ohne Amüsement die Windungen staatsfrommer arabischer Medien. Für die FAZ berichtet der Schriftsteller Michael Roes aus dem Jemen. Zu Ehren von Thomas Bernhard bringt die Welt ein Dramolett Benjamin von Stuckrad-Barres Netzwertig fragt, was zwei große Qualitätszeitungen ernstlich gegen den News-Aggregator commentarist.de haben könnten.Und Monika Maron wendet sich in ihrer Lessingrede gegen den Begriff des "Fundamentalismus der Aufklärung".

TAZ, 08.02.2011

In einem sehr spannenden Interview mit dem unermüdlichen Reiner Wandler schildert der algerische Schriftsteller Boualem Sansal seine Sicht auf die Revolten in Tunesien und Ägypten: "Das Gespräch ist die Grundlage des Menschseins. Wenn dem Menschen das genommen wird, stirbt er. Das genau passiert in der arabischen und islamischen Welt. Es ist ein langsamer Tod, wenn man über nichts sprechen, sich nicht mit den anderen austauschen, seine Widersprüche diskutieren kann. Die Menschen lehnen sich auf, wenn sie merken, dass der Tod nahe ist." Und vor allem sei es eine Revolte der Jungen: "Die Jugend fühlt sich völlig von der Gesellschaft ausgeschlossen. Es ist die Gesellschaft der Erwachsenen, die angepasst leben, die ein völlig antiquiertes politisches System akzeptieren und weiterhin starke familiäre Traditionen pflegen. Das nimmt den Jugendlichen jeden Tag ein bisschen mehr die Luft zum Atmen, bis das Ganze explodiert."

Weiteres: In seiner Kolumne sinniert Aram Lintzel über Distinktionsgebaren und Hipster Fatigue. Besprochen werden die Ausstellung der beiden Fotografen Adrian Sauer und Timm Rautert im Fotomusum Braunschweig, Elfriede Jelineks "todtrauriges" Textgewebe "Winterreise" an den Münchner Kammerspielen, der Dokumentarfilm "Human Terrain" von David und Michael Udris.

Auf der Meinungsseite stellt Gesine Lötzsch klar, dass sich sich doch nicht "von Konservativen" ihr Geschichtsbild vorschreiben lässt: "Wir müssen aber auch sagen, dass die Idee des Kommunismus nichts, aber auch gar nichts, mit dem zu tun hat, was Stalin, Mao oder Pol Pot darunter verstanden haben."

Und Tom.

NZZ, 08.02.2011

Auf der Medienseite berichtet Mona Sarkis, wie die Geschmeidigkeit arabischer Medien angesichts des ägyptischen Aufstands schwer geprüft wurde: Sie mussten nicht nur ihre Staatstreue pflegen, sondern auch beachten, wie ihr jeweiliger Despot persönlich zu Mubarak stand. Zum Beispiel in Syrien: "Die (Schaden-)Freude über den möglichen Sturz Mubaraks, eines Erzrivalen des syrischen Präsidenten, war hier zwar nicht zu überhören, doch - mit dem eigenen Diktator vor der Tür - blieb auch in Syrien der Demokratiediskurs stumm. Man konzentrierte sich auf die Wiedergabe der Ereignisse. Wesentlich lauter schwiegen die palästinensischen Blätter, wie die 'Ma'an News'-Agentur, das größte unabhängige Nachrichtennetzwerk in Gaza und Cisjordanien, feststellt."

Im Kulturteil: Aldo Keel erzählt, wie Norwegen in diesem Jahr seine Polarfahrer Fridtjof Nansen und Roald Amundsen feiert. Joachim Güntner resümiert die jüngsten Debatten zur Präimplantationsdiagnostik. Besprochen werden eine Ausstellung über die Neugestaltung des Pariser Hallen-Viertels, eine Aufführung von Shakespeares "Wie es euch gefällt" in Luzern, Zsuzsa Banks Roman "Die hellen Tage" (Leseprobe hier), Nicole Krauss' Roman "Das große Haus" und Nora Iugas Roman "Die Sechzigjährige und der junge Mann" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 08.02.2011

Morgen hat Thomas Bernhard Achtzigsten. Und was machen die Zeitungen? Kleines Dramolett von Benjamin von Stuckrad-Barre:
"Der Alte Hase: Haben wir nicht mal beschlossen, dass wir keinen Feiertagsjournalismus mehr machen wollen, kein Jubiläumsfeuilleton, kein Terminkalender-Reflex-Geseier? Deshalb haben wir vor zwei Jahren auch nix zu Bernhards 20. Todestag gemacht.
Der Ressortleiter: Und zwar als einzige. Scheiße war das. Und vor meiner Zeit. Bernhard 80 - natürlich machen wir das! Wer könnte denn..."

Weitere Artikel: Henryk M. Broder widmet sich in der Leitglosse dem Burkaverbot in Hessen. Stefan Koldehoff erzählt, dass die ägyptische Antikenverwaltung unter Zahi Hawass unverschämte Preise für Ausstellungspakete im Ausland nahm und dieses Geld dann an die Regierung abführte, statt in die Kunstschätze zu investieren. Frankfurts neues Museum der Weltkulturen wird unter der Erde liegen, womit Dankwart Guratzsch ganz zufrieden ist: So stört es nicht. Harald Peters schreibt zum Tod des Gitarristen Gary Moore.

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung der "Medea" mit Nina Hoss am Deutschen Theater in Berlin und George Balanchines Choreografie "Coppelia" in Dresden.

Aus den Blogs, 08.02.2011

Zwei große Medienhäuser haben mit Androhung rechtlicher Schritte den gerade startenden Aggregator commentarist.de gestoppt. Der Dienst wollte ähnlich wie Google News nach Zitat von einleitenden Artikel-Elementen zu den Medien überleiten. Leider nennen die Betreiber nicht die drohenden Medienhäuser (Spiegel Online erwähnt in seinem Bericht aber die Süddeutsche Zeitung" und die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die bekanntlich auch seit Jahren gegen den Perlentaucher prozessieren). Martin Weigert kommentiert in Netzwertig: "Dass manche etablierten Medienhäuser ihre Probleme mit Aggregatoren im Allgemeinen und Google News im Speziellen haben, ist allgemein bekannt. Aber auch im Fall Commentarist fällt zumindest mir selbst nach langem Reflektieren und Abwägen kein triftiger Grund ein, durch einen Aggregator für Meinungsartikel negative Folgen für Verlage befürchten zu müssen."

Lustige Meldung bei turi2: "Der Streit zwischen Verlegern und Apple um den Verkauf von App-Inhalten führt zu einem Schulterschluss von Verlegern in ganz Europa. Der europäische Zeitungsverlegerverband ENPA fordert Apple dazu auf, Verlagen einen freien Zugang zum iPad zu gewähren, ohne ein bestimmtes Geschäftsmodell vorzuschreiben."

FR, 08.02.2011

Wortreich, aber nicht sehr konkret skizziert Tariq Ramadan, der gemäßigte Islamist und Enkel des ersten aller Muslimbrüder, Hassan al-Banna, seine Sicht der Zukunft Ägyptens: "Die Zukunft wird davon abhängen, ob es gelingt, Plattformen aufzustellen, die die Pluralität der oppositionellen Stimmen vereinigen. Demokratische Wahlen werden später darüber entscheiden, wer legitimiert ist, das Volk zu vertreten."

In der Leitglosse erklärt Sylvia Staude, was Wissenschaftler unter dem "decline effect" verstehen (so nennen sie die traurige Erfahrung, dass Experimente bei der Wiederholung meist nicht so gut funktionieren wie beim ersten Mal). Anke Westphal unterhält sich mit dem Filmemacher Cyril Tuschi über seinen Film über Michail Chodorkowski und den Einbruch in seine Produktionsräume. Christian Schlüter schreibt zum Tod des Gitarristen Gary Moore.

Besprochen werden Alfredo Catalanis wunderbare, aber viel zu selten gespielte Oper "La Wally" als konzertante Produktion in Frankfurt, Andrea Breths "Zwischenfälle"-Collage am Burgtheater und Bücher, darunter Arno Geigers Roman "Der alte König in seinem Exil".

Weitere Medien, 08.02.2011

In ihrer Lessingpreisrede, veröffentlicht in der Der Westen, wendet sich Monika Maron auch gegen den Begriff des "Fundamentalismus der Aufklärung": "Seit einiger Zeit steht die Aufklärung in der öffentlichen Debatte unter der Anklage des Fundamentalismus. Aber was sollte das heißen bei gesetzlich garantierter Religionsfreiheit? Ist vielleicht die Forderung nach Toleranz fundamentalistisch? Ist es fundamentalistisch, die Gleichheit der Geschlechter zu fordern oder zu verlangen, dass andere Religionen nicht diffamiert oder gar verfolgt werden? Verlangen wir zu viel, wenn wir von einer unaufgeklärten Religion, die in unsere Gesellschaft einzieht, erwarten, dass sie alle Gesetze, aber auch alle Werte achtet, die dieser Gesellschaft als schützenswert gelten?"

(Via Kenan Malik) Joshua Stacher warnt in Foreign Affairs vor zuviel Optimismus, was den Regimewechsel in Ägypten angeht: "Contrary to the dominant media narrative, over the last ten days the Egyptian state has not experienced a regime breakdown. The protests have certainly rocked the system and have put Mubarak on his heels, but at no time has the uprising seriously threatened Egypt's regime."

(via blog of a bookslut) Shalom Auslander hatte eine Idee für eine Geschichte. Aber dann ging es nicht weiter, erzählt er im Tablet Magazine. Angst. Er brauchte Hilfe, Führung, er brauchte Harold Bloom. "I suspected the story I wanted to write might have something to do with alienation, whatever that was, and so I all but cheered aloud when I saw this:
Alienation (Bloom?s Literary Themes)
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... Suck it, bitches, I thought to myself as I added the item to my cart. Suck it, New York Times Book Review, suck it London Review of Books, suck it New York Review of Books. I?ve got the secrets now - Harold Bloom, OK, motherfucker? The Suge Knight of literary critics. Who's going to bring it against Harold Bloom, who? Wood? Showalter? Please. Nobody can roll with the Bloom. And I had him. Just try not liking my story, lit crits. I?m going to alienate the fuck out of this character."

FAZ, 08.02.2011

Der Schriftsteller und Filmemacher Michael Roes ist soeben aus dem Jemen zurückgekehrt. Ein Filmprojekt mit gehörlosen Jugendlichen hat sich zerschlagen, die Widerstände vor Ort waren zu groß. Trotz der allgegenwärtigen Korruption freilich gelte: "Der Jemen ist anders. Kein Land der arabischen Welt wurde so schnell vom Mittelalter in die Postmoderne katapultiert wie dieser ärmste Staat der arabischen Welt, eigentlich innerhalb nur einer Generation. Das Smartphone neben dem traditionellen Krummdolch im breiten Ledergürtel ist das augenfälligste Bild für die Gleichzeitigkeit von Wandel und Verharren... Die tribalen Strukturen des Landes haben gewiss die Herausbildung eines einheitlichen und funktionierenden Staatswesens verhindert, aber eben auch die vollständige Kontrolle und Unterwerfung seiner Bevölkerung. "

Weitere Artikel: Von einem feierlichen Erinnerungsabend zum Gedenken an Ronald Reagan, der dieser Tage seinen 100. gefeiert hätte, berichtet Marcus Jauer. Als kalkuliertes Risiko begreift ein durchaus respektvoll gestimmter Jordan Mejias den Kauf der Huffington Post durchs Internet-Fossil AOL. Was sich bei einem Streitgespräch zwischen dem Filmemacher Andrej Ujica ("The Autobiography of Nicolae Ceausescu") und Friedrich Kittler zutrug, referiert Andreas Kilb. Edo Reents hat der Trauerfeier für Bernd Eichinger in München ebenso wie "Iris Berben, Doris Dörrie, Kulturstaatsminister Bernd Neumann, Wolfgang Petersen, Thomas Gottschalk, Axel Milberg, Helmut Markwort, Uwe Ochsenknecht, Edmund Stoiber, Joachim Fuchsberger mit Frau und sehr viele andere" beigewohnt. In der Glosse stellt Swantje Karich fest, dass es der Frauenfußball weit gebracht hat in Deutschland, wenn nun sogar Fußballerinnen-Barbiepuppen auf den Markt kommen. Jan Brachmann berichtet vom Berliner Ultraschall-Festival, das dem dänischen Komponisten Simon Steen-Andersen einen Schwerpunkt widmete. 

Besprochen werden Peter Sellars' Inszenierung von John Adams' Oper "Nixon in China" an der Met in New York, die Mannheimer Uraufführung von Kathrin Rögglas neuem Stück "Unvermeidliche", Klaus Staecks Hommage an Sigmar Polke in der Berliner Akademie der Künste und Bücher, darunter Michel Matveevs Roman "Die Gehetzten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 08.02.2011

Auf Seite 3 berichtet Tobias Kniebe von der Beerdigung Bernd Eichingers: "Die Filmwelt, die Politik, das Showgeschäft, Deutschland und ganz besonders München nehmen Abschied in diesem Moment."

Für den Feuilletonaufmacher besichtigt Sonja Zekri den "Platz der Befreiung", den Tahrir-Platz in Ägypten. Was hier passiert, passiert Ägypten, und wer ihn beherrscht, beherrscht Kairo: "Der Platz der Befreiung ist Kairos Knotenpunkt der wichtigsten Magistralen, mit einer labyrinthischen U-Bahnstation und einem großen Busbahnhof. Wer den Tahrir beherrscht, bringt den Verkehrsfluss der Stadt ins Stocken und zwingt die Autofahrer zu stundenlangen Umwegen über verstopfte Nebenstrecken, als wären die Staus an ruhigeren Tagen nicht schlimm genug." Burkhard Müller denkt in einem zweiten Artikel über die Bedeutung von Plätzen in Geschichte und Gegenwart nach. Und Kai Strittmatter erinnert an den chinesischen Protest auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

Weitere Artikel: Doris Kuhn gratuliert Nick Nolte zum Siebzigsten. Alexander Menden schreibt zum Tod von Gary Moore. Hannah Beitzer verfolgte ein Symposion über die Rolle des Internets in Russland (mehr hier), die leider nicht ganz so befreiend zu sein scheint, wie man sich das wünschte. Eva-Elisabeth Fischer annonciert ein Festival zur Feier des 50-jährigen Jubiläums des Stuttgarter Balletts. Willy Hochkeppel gratuliert dem Philosophen Hans Albert zum Neunzigsten.

Besprochen werden Xavier Dolans Filmdebüt "I Killed My Mother" (mehr hier), Friederike Hellers 'Antigone' an der Berliner Schaubühne, Wagners 'Tannhäuser' unter Ingo Metzmacher und Harry Kupfer in Zürich und Bücher, darunter Eric Selbins Studie "Gerücht und Revolution - Von der Macht des Weitererzählens" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).