Heute in den Feuilletons

Theater ist das Land der alten Männer

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2010. Der "innere Reichsparteitag" aus der gestrigen ZDF-Berichterstattung über Deutschland-Australien, beschäftigt Twitter, die Blogs und die Medien. In der taz kritisiert der politische Journalist Wolfgang Storz den politischen Journalismus in Deutschland. Wie wahnhaft so wahr findet die FR Christa Wolfs neuen Roman. Necla Kelek schreibt in der FAZ über eine Studie, die zeigt, dass muslimischer Hintergrund Integration von Jugendlichen erschwert. Der Tagesspiegel fragt: Warum brauchen ARD und ZDF 550 Mitarbeiter in Südafrika, wenn Sky mit fünfzig  auskommt?

Tagesspiegel, 14.06.2010

Joachim Huber vermisst (in der Sonntagsausgabe) angesichts der Haushaltsabgabe, mit sich ARD und ZDF für die Zukunft großzügig abgesichert haben, die entsprechende Programmleistung: "Das, und nur das ist gefordert: Konkurrenz als Gegenentwurf, nicht als Konkurrenz im Gleichen. ARD und ZDF haben für einen dreistelligen Millionenbetrag die TV-Rechte an 55 der 64 Spiele der Fußball-WM eingekauft. 550 Mitarbeiter wurden nach Südafrika geflogen, wo der Pay-TV-Sender Sky, der alle 64 Spiele live zeigt, mit 70 Mann Personal auskommt. Der Privatsender RTL begnügt sich mit neun Partien, aber kann er deswegen schlechter übertragen? Die WM-Rechte sind schlicht und allein eine Frage des Geldes, der Gebühren. Teil der Grundversorgung sind sie nicht. Es ist wider den öffentlich-rechtlichen Begründungszusammenhang gehandelt, wenn das ZDF beim Kultursender 3sat Millionen streicht, um sie in seine Novität ZDFneo zu stecken."

TAZ, 14.06.2010

Auf der Meinungsseite kritisiert Wolfgang Storz, ehemals Chefredakteur der FR, den Zustand des politischen Journalismus: "Warum hilft Merkel Opel nicht? Warum hat sie Koch vertrieben und Köhler nicht gehalten? Warum hat sie die Finanzkrise nicht im Griff? Warum haut sie nicht auf den Tisch? Der politische Journalismus personalisiert gnadenlos - und wehe die Verantwortlichen haben nicht die Gaben eines Herkules."

Im Kulturteil stöhnt Uwe Mattheiß: "Theater ist das Land alter Männer und ihrer Fantasien." Er empfiehlt bei den Wiener Festwochen statt der Großproduktionen von Frank Castorf und Robert Lepage die screwballschnelle Produktion "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt" der estnischen Theatermacher Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper sowie "Where were you on January 8th?" des iranischen Regisseurs Amir Reza Koohestani.

Außerdem schreibt Brigitte Werneburg den Nachruf auf Sigmar Polke. Jette Gindner verfolgte einen Vortrag der in New York lehrenden, aus Indien stammenden Globalisierungskritikerin und postkolonialen Denkerin Gayatri Chakravorty Spivak in Berlin. Rainer Wandler meldet, dass die Madrider Gay Pride eine israelische Schwulendelegation ausgeladen hat, um sie für die Enterung der Mavi Marmara zu bestrafen.

Besprochen werden Franz Doblers "Letzte Stories" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 14.06.2010

In der Reihe "Der Leser, das unbekannte Wesen" fragt Wieland Freund, was eigentlich aus der Institution des Lesekreises geworden ist. Manuel Brug kommentiert den Abgang des Wiener Staatsopernchefs Ioan Holender nach bald 20-jähriger Herrschaft Hans-Jürgen Heinrichs liest Peter Sloterdijks neue Studie "Scheintod im Denken". Auf der Forumsseite unterhält sich Paul Badde mit dem katholischen Philosophen Robert Spaemann über "Liebe".

Besprochen werden Frank Castorfs Tschechow-Montage "Nach Moskau" in Wien und die große Ausstellung des afghanischen Nationalschatzes in Bonn.

NZZ, 14.06.2010

Marco Frei stellt fest, dass vor allem die klassische Musik in Südafrika eine anhaltende Rassentrennung offenbart. Einerseits galt sie im 20. Jahrhundert als Teil der weißen Upperclass und wurde deshalb später mit dem Schlagwort "Eurozentrismus" belegt, anderseits sind Schwarze größtenteils von klassischer Musik ausgeschlossen. Auch verschiedene Festivals überwinden die sozialen Gegensätze nur bedingt, wie ein Klavierabend im Northwards House zeigt: "Eine Gesellschaft kümmert sich um den Erhalt des Anwesens. Der große Garten ist penibel gepflegt, in den Räumen muffelt es nach der 'guten alten Zeit'. Im Salon wird über den britischen Architekten und die Bewohner informiert; der Schwarzen, die seinerzeit in den umliegenden Minen der Besitzer schufteten und auch umkamen, wird nicht gedacht. Statt diesen Ort aufzubrechen und ihn auch mit weißer und schwarzer südafrikanischer Klaviermusik zu konfrontieren, beließ es [der künstlerische Leiter Florian] Uhlig bei Mozart und Schumann. 'Ich habe selbst mit dem Gedanken gespielt, aber es gab Sachzwänge', räumt er ein."

Außerdem: Ursula Sinnreich würdigt Sigmar Polke als einen im Verborgenen wirkenden Magier und "Großmeister der Inszenierung gesellschaftlicher Eindimensionalität", der Bildwelten von "hypnotischer Kraft" erschuf. Anlässlich des "Photo Espana"-Festivals in Madrid porträtiert Brigitte Kramer den Initiator und Kulturunternehmer Alberto Anaut.

Besprochen werden Frank Castorfs anscheinend für Schwerhörige konzipierte, auf zwei Tschechow-Stücken basierende Inszenierung "Nach Moskau! Nach Moskau!" in Wien und Unsuk Chins spektakulär-unterhaltsame Oper "Alice in Wonderland" in der Genfer Oper.

Weitere Medien, 14.06.2010

Im Boston Globe erklärt James Parker, warum er nicht bloggt. Mal abgesehen davon, dass er ein langsamer Schreiber ist und faul: "Not-blogging is mental liberation. Put down your blog, young person, and go and play crazy golf on Route 1. Things happen to you, out there in Life; thoughts occur to you. Do you blog about them? You do not. You leave them where they are, unprocessed, unshared. Uninteresting, quite possibly, and that?s fine, too. Perhaps - amazing idea - you have nothing to say."
Stichwörter: Boston, Rouen

Aus den Blogs, 14.06.2010

Das war natürlich das Thema bei Twitter. ZDF-Reporterin Müller-Hohenstein sagte als Kommentar zu Miroslav Kloses Tor gegen Australien gestern Abend: "Das war natürlich sein innerer Reichsparteitag". Folgendes soll ZDFOnline dann zur Erläuterung getwittert haben, schreibt Benedikt im Blog viralmythen:



Aber das Tweet wurde inzwischen offensichtlich gelöscht. Viele Links zum Inneren Reichsparteitag (auch zum Video mit dem Lapsus) bietet Spiegel Online.

Das Pentagon sucht nach Wikileaks-Gründer Julian Assange, berichtet Philip Shenon in The daily beast. Es geht um die Botschafter-Telegramme, die der Soldat Bradley Manning an Wikileaks geschickt haben soll (mehr hier). "'It looks like they?re playing some sort of semantic games,' one American official said of Wikileaks. 'They may not have 260,000 cables, but they?ve probably got enough cables to make trouble.' ... American officials were unwilling to say what would happen if Assange is tracked down, although they suggested they would have many more legal options available to them if he were still somewhere in the United States."

FR, 14.06.2010

Der Autor David Rieff, erklärter Verfechter eines humanitären Purismus, sieht die Gaza-Flotille als Fortführung des humanitären Interventionismus, der auch im Westen immer politische Ziele verfolgte: "Bernard Kouchner und die anderen 'französischen Ärzte' in Biafra sind nie neutral gewesen, sie standen auf Seiten der Biafra-Separatisten. Respektierten sie damals die Blockadepolitik Nigerias? So wie heute pro-israelische Polemiker wie Caldwell verlangen, die Free-Gaza-Aktivisten hätten die Gaza-Blockade respektieren sollen? Ganz bestimmt nicht. Im Westen hat offenbar nie jemand darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn muslimische Hilfsorganisationen, die nicht weniger, aber auch keinesfalls mehr von Geberstaaten abhängig sind als ihre westlichen Pendants, wie diese vorgehen würden."

Arno Widmann hat schon Christa Wolfs neues Buch "Stadt der Engel" gelesen, in dem die Erzählerin vor ihrer IM-Vergangenheit nach Los Angeles flüchtet. Es war für ihn eine Tortur: "Gerade dieses Wahnhafte, das das Buch ungenießbar macht, ist das Wahre daran. Es wird - wenn Wahrheit denn steigerbar wäre - noch wahrer dadurch, dass die Autorin sich nicht distanziert von diesem Wahn ihrer Ich-Erzählerin, sondern ihn mitzuleben scheint. All die vernichtenden Urteile über das politische und gesellschaftliche Leben der USA sind weniger Teile eines Entschuldungsprozesses der Ich-Erzählerin als vielmehr Dokumente einer Wahrnehmung, die fokussiert ist auf die eigene Geschichte, das 'eigene Land'."

Außerdem: Auf den vorderen Seiten erklärt Navid Kermani im Interview, warum er in der Bundesversammlung für Joachim Gauck als Bundespräsident stimmen wird. Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" ("Fast die gesamte Aufführung nur ein Brüllen", stöhnt Peter Michalzik) und Francisco Antonio de Almeidas Oper "La Giuditta" in Frankfurt.

SZ, 14.06.2010

Einen Tag vor der Eröffnung der Otto-Muehl-Ausstellung im Wiener Leopold Museum hat sich der Künstler brieflich bei den Jugendlichen der Kommune Friedrichshof entschuldigt, für deren Missbrauch er in den Neunzigern sechs Jahre im Gefängnis saß (mehr dazu im Standard). Wie soll man jetzt auf die Bilder gucken?, fragt sich Almuth Spiegler. Jedenfalls nicht so wie die Ausstellung, die die Kunst strikt vom Leben trennt. "Durch die bewusste Konzentration auf Muehl, den Maler, wirft man ihn in seine eigene Falle, die er 1976 formulierte: Wenn Künstler sich damit abfinden, nur Bilder, Skulpturen oder andere Kunstgegenstände zu produzieren, müssen sie als 'gartenzwerge der kf-konsumgesellschaft' (Kleinfamilien-Konsumgesellschaft) bezeichnet werden. Und wirklich: Ohne Verschränkung mit den Umständen, mit dem gescheiterten Lebensexperiment der Kommune, wirkt die Ausstellung nicht wie die eines ambivalenten Revolutionärs der Kunstgeschichte, sondern regelrecht gediegen".

Weitere Artikel: Nancy Spector, Chefkuratorin des New Yorker Guggenheim-Museums erklärt, was es mit der von ihr mitgegründeten Biennale "YouTube Play" auf sich hat (mehr bei Youtube) und nennt ein Beispiel, Ryan Trecartin: "Als Videokünstler benutzt er ein kanonisiertes Medium; er verwendet es aber, um den Einfluss des Internets und sozialer Netzwerke auf die Kreativität zu erforschen." (Hier ein Beispiel: "A family finds entertainement") Andreas Zielcke sieht Politiker unsere Zukunft verspielen. Christian Jostmann hörte eine Debatte über die Angst vor 'Zigeunern' und den Sinn von Bettel-Verboten in Wien, wo das Betteln gerade verboten wurde. Niklas Hofmann schickt Nachrichten aus dem Netz über die Bedeutung von Twitter. Thomas Meyer schreibt zum Tod des Münchner Philosophen Stephan Otto.

Besprochen werden die "Realismus"-Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München ("eine visuelle Achterbahnfahrt", verspricht Willibald Sauerländer), die Ausstellung "Ars Homo Erotica" im Warschauer Nationalmuseum, einige DVDs, Ingo Metzmacher Abschiedskonzert von Berlin mit dem Deutschen Symphonie Orchester Berlin (herber Verlust für Berlin, notiert Wolfgang Schreiber) und Bücher, darunter Hubertus Buchsteins Band über "Demokratie und Lotterie" und "Heikle Geschichten" von Frank Schulz (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 14.06.2010

Die Soziologin Necla Kelek stellt eine unter Leitung des Kriminologen Christian Pfeiffer erstellte Studie (pdf-Dokument) zur Integrationsfähigkeit junger Muslime vor. Diese kommt zum Ergebnis, dass die Stärke der Religiosität mit der der Integrationsverweigerung korreliert. Schuld sind, so Kelek, in erster Linie die Imame bzw. die Verbände, die konservative Imame aus muslimischen Staaten in die Moscheen holen. Hier sollte der Staat eingreifen und ausbilden, meint Kelek. Und grundsätzlicher: "Statt der Pflege religiöser Gruppenidentitäten und Verbandsinteressen muss das Augenmerk endlich auf die Stärkung individueller Persönlichkeiten, gerade bei den Kindern, gerichtet werden. Wenn Imame Teil der deutschen Zivilgesellschaft werden wollen, müssen sie lernen, mit kritischem Verstand Alltag und Religion zu reflektieren, und sich am öffentlichen Diskurs um Bürgerrechte beteiligen."

In ihrer Informatik-Kolumne nennt Constanze Kurz viele gute Gründe, warum der neue Personalausweis mit biometrischen Daten und funkendem Chip niemandem außer dem ihn produzierenden Gewerbe etwas bringt. Oh, und übrigens: "was genau drauf ist auf dem Speicherchip, wird der Besitzer ... nicht wissen. Eine Einsicht zum Vergleich der gespeicherten digitalen Fotos und Fingerabdrücke mit dem am Menschen klebenden Original ist bei Ausgabe des Dokuments gar nicht vorgesehen."

Weitere Artikel: "Einfach nur eklig" findet es Dirk Schümer, dass der wegen Kindesmissbrauchs verurteilte Künstler Otto Muehl in Wien zu seinem 85. Geburtstag eine Ausstellung in Wien bekommt. Ebenfalls Schümer fühlt sich von der Vuvuzela an John Cage erinnert - meint das aber nicht als Kompliment. Andreas Kilb freut sich, dass es in Berlin jetzt einen Kracauerplatz gibt, beschwert sich aber, dass auf der neu angebrachten Gedenktafel die Berufsbezeichnung "Kritiker" für Kracauer fehlt.

Besprochen werden Krzysztof Warlikowskis Brüsseler Inszenierung von Verdis "Macbeth", Thomas Langhoffs Münchner Inszenierung von Harold Pinters "Geburtstagsfeier" am Bayerischen Staatsschauspiel, Igor Folwills Inszenierung einer von Komponist Karsten Gundermann und Librettist Kui Sheng pekingopernmäßig umgebaute Version von Christoph Willibald Glucks "Le Cinesi" bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci, eine Ausstellung mit Werken des Dokumentarfotografen Michael Schmidt im Münchner Haus der Kunst und Bücher, darunter Salvador Plasciencias Debütroman "Menschen aus Papier" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).