Heute in den Feuilletons

Verunsichert, verwirrt, verschreckt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2010. In der FAZ bekennt David Grossman seine Verzweiflung über den Vorfall vor Gaza. In der NZZ wendet sich Hans Ulrich Gumbrecht gegen den lieben Frieden in Europa. In der Zeit erklärt Heinz Holliger seine Liebe zu Schumanns Wahnsinn. Der Tagesspiegel kommentiert die moralische Aufwallung unserer Medien gegen Horst Köhler: "Immer eins in die Fresse, und wenn er fragt, warum, noch eins für die dumme Frage." Und alle gratulieren MRR.

Tagesspiegel, 02.06.2010

Malte Lehming kommentiert die Stimmung in den zuletzt mal wieder so moralkräftigen deutschen Medien: "Auch die Süddeutsche Zeitung ist nicht zimperlich. Köhler wirke 'wie ein Sponti: der Null-Bock-Horst'. Und so erinnert die deutsche Medienlandschaft in ihrer Empathiearmut an die alte Hooligan-Devise: Immer eins in die Fresse, und wenn er fragt, warum, noch eins für die dumme Frage."
Stichwörter: Süddeutsche Zeitung

Aus den Blogs, 02.06.2010

In einem wunderbaren kleinen Blogeintrag für die NYRB erzählt Edmund White von seiner Reise nach Sizilien, wo er einen "hübschen kleinen Literaturpreis" bekam: "That evening there was a banquet for thirty at which every other Sicilian man seemed to be a prince. They even address one another as 'Principe,' which my Florentine date, Beatrice von Rezzori, told me was very 'Southern.'"

Alles wieder gut. "Henning Mankell is alive and well and calling for sanctions against Israel", meldet Dennis Johnson in Mobylives.

Eigentlich wollen Verleger ein universelles E-Book-Format, aber zugleich sind sie unfähig, eins zu entwickeln, schreibt Jacqui Cheng bei Ars Technica. "'The problem still lies with publishing houses and their inability to talk to one another. Everyone is doing their own thing without any regard for readers or customers,' [author Cesar] Torres said. 'Apple and Amazon would be toast if publishers really got their act together.' There's another element that's holding back publishers from unifying on a more widely compatible, open format. The old guard of publishers is at odds with the more progressive ones over how to handle e-books, adding to strife within the industry. Brooklyn-based writer Edward Champion expressed frustration after attending this year's BookExpo CEO panel, noting that moderator Jonathan Galassi 'maintained the old warhorse position that hardcovers would still be desired by 100 percent of book purchasers,' and that Authors Guild president Scott Turow seemed to be completely oblivious to the fact that customers want e-books the same day hardcover versions are released."

Die erste flattr-Abrechnung für die taz ist da, meldet das Hausblog des Instituts: "143,55 Euro. Angesichts von bisher gerade mal 12 Tagen, die taz.de dabei ist, und der Tatsache, dass Flattr sich noch im Beta-Betrieb befindet, entspricht das Ergebnis unseren Erwartungen."

TAZ, 02.06.2010

Vom Schicksal eines ambitionierten Hauses in der Provinz kann Klaus Irler berichten: Dem Glückstädter Kunstverein, dem Palais für aktuelle Kunst, wurden die durchaus bescheidenen städtischen Zuschüsse gestrichen. "Die Stadtväter wollten lieber Kunst 'für das breite Publikum', um 'möglichst viele Besucherinnen und Besucher in das Haus zu ziehen', sagt der parteilose Bürgermeister Gerhard Blasberg."

Weiteres: Jenny Zylka denkt noch immer über Lena Meyer-Landrut nach: "Seit Jahren werden Popstars nicht mehr Popstars, weil sie eine Art von Musik bevorzugen oder herstellen, sondern weil sie Popstars sein wollen." Katrin Bettina Müller verabschiedet die große Bildhauerin Louise Bourgeois.

Auf der Meinungsseite kommentiert Christian Semler die zunehmende Politikverdrossenheit der Politiker.

Und noch Tom.

Weitere Medien, 02.06.2010

(via aldaily) Einige amerikanische Kritiker haben auf die Tournee der Los Angeles Philharmonic mit ihrem neuen Chefdirigenten Gustavo Dudamel enttäuscht reagiert. Eine ganz gute Zusammenfassung gibt James Rainey - der dabei auch eine gehörige Portion Snobismus der Ostküste konstatiert - in der Los Angeles Times. In der Washington Post erklärt Anne Midgette, Dudamel sei ein talentierter charismatischer Dirigent, der die Leute wieder mit Beethoven und Tschaikowsky ins Konzert locken soll. "He is not the future of classical music. He's not even trying to be. The people who are trying to move classical music into the future are thinking about alternate kinds of programming, new venues, different repertory. (See, for instance, Alan Gilbert's series of YouTube videos palling around with Death, a character in Ligeti's 'Grand Macabre,' which the New York Philharmonic is performing tonight.)"


Spiegel Online, 02.06.2010

Henryk Broder verteidigt Horst Köhler: "Wir haben uns daran gewöhnt, dass man Politiker zum Rücktritt treten muss. Dass einer von sich aus geht, ist ein Skandal, der unsere Phantasie überfordert."
Stichwörter: Köhler, Horst

Welt, 02.06.2010

Zwei Denkstücke von Jacques Schuster (hier) und Michael Stürmer (hier) widmen sich noch einmal dem Köhler-Rücktritt. Uwe Wittstock kommentiert den Sieg der satirischen "Besten Partei" in Island, die mit der Forderung nach kostenlosen Handtüchern in Schwimmbädern 34 Prozent erreichte. Tim Ackermann schreibt zum Tod von Louise Bourgeois. Uwe Wittstock hat sich zum neunzigsten Geburtstag von MRR eine fiktive Talkshow des Jubilars mit Ludwig Börne, Alfred Kerr und Friedrich Schlegel ausgedacht.

FR, 02.06.2010

Arno Widmann gratuliert Marcel Reich-Ranicki: "Ich erinnere mich, wie er bei einer Tagung der Bestenliste des SWR nahezu allein dastand mit seinem Vorschlag, nicht Peter Rühmkorf, sondern Urs Allemann den ersten Preis zu geben. Am nächsten Morgen teilte uns der Organisator der Veranstaltung mit, eine Mehrheit der Jury habe sich für Urs Allemann ausgesprochen."

Weiteres: Christian Schlüter registriert immerhin unter Politikern ein Erschrecken darüber, was sie mit ihrem "dauernden Köhler-Genöle" angerichtet haben. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod der Künstlerin Louise Bourgeois. In Times mager blickt Judith von Sternburg in die verlegerische Trickkiste.

Besprochen werden Rene Polleschs Theaterabend "Peking Opel", Vincenzo Natalis "stilvoller" Schauerfilm "Splice", Oren Movermans Irakfilm "The Messenger" und Whitney Hustons Frankfurter Konzert.

NZZ, 02.06.2010

Komparatist Hans Ulrich Gumbrecht nimmt die gegenwärtige Krise zum Anlass, um von Stanford aus gegen die EU zu sticheln (und die Schweiz explizit auszunehmen). Die Selbstverständlichkeit massiver Konsensbildung in der EU fördere eine "Blindheit gegenüber allen anderen Formen und Werten des sozialen Lebens": "Jegliche militärische Intervention gilt dort mittlerweile (vor dem Hintergrund eines vagen Begriffs von internationalem Recht) als illegitim; und für viele europäische Bürger scheint außer Frage zu stehen, dass sie den Verlust ihrer nationalen Souveränität allemal einem bewaffneten Konflikt vorziehen würden. Grenzkontrollen (etwa bei der Einreise in die Vereinigten Staaten oder nach Russland) gelten als polizeistaatlicher Terror; mit charismatischer Ausstrahlung begabte Politiker will man als potenziell gefährliche 'Medienfiktionen' entlarven; die Aufnahme und der Schutz von Minoritäten haben als Mehrheitsanliegen einen veritablen Status von 'Popularität' gewonnen - zumindest in der Abstraktheit gehobener Stammtischgespräche. Explizit greifbar fungieren diese und ähnliche Positionen als Medium der europäischen Einigung."

Außerdem: Kerstin Stremmel blickt zurück auf das eigensinnige Leben und Werk der Bildhauerin Louise Bourgeois. Besprochen werden Philippe Jordans Inszenierung von Wagners "Walküre" in der Pariser Bastille-Oper, etliche Kinderbücher und Thomas Kaufmanns Neuerscheinung zur deutschen Reformationsgeschichte (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 02.06.2010

"Ein normaler Mensch komponiert nicht - oder er komponiert wie Carl Czerny oder Murzio Clementi", erklärt Komponist Heinz Holliger in einem Gespräch über den vor zweihundert Jahren geborenen Robert Schumann, die Zurichtungen des Lebens und den Wahnsinn: "Ich bin Arztsohn, vielleicht sehe ich das deshalb ein bisschen anders. Für mich ist das Anderssein etwas, das zum Leben gehört. Ich such nicht nach dem Krankhaften in einem Menschen. Ich suche nach Menschen, die keine Grenzen in ihrer Fantasie haben, die hinübergehen können, ob das in die Welt des Wahnsinns ist oder in ein Jenseits, beides ist miteinander verwandt. Solche Leute haben einfach feinere Antennen als andere."

Weiteres: Im Aufmacher erklärt uns Peter Kümmel den Erfolg des Stefan Raab mit dem Begriff des time porn. Christof Siemes würdigt Lena Meyer-Landrut und Hannover. Georg Seeßlen verabschiedet Dennis Hopper: "Nun ist der Störenfried tot; kein Abgrund mehr, in den es sich zu blicken lohnt." Für Thomas Assheuer markiert Craig Venters neuester Biosynthese-Coup eine Zäsur in der "Metapherngeschichte des Abendlandes". Als Londons ersten "Brüll-, Schrei und Stampfchor" stellt Thomas Groß The Gaggle vor.

Besprochen werden die Ausstellung "Blumen für Kim Il Sung" über Diktatorenkunst im Wiener Museum für Angewandte Kunst, die Jean-Michel-Basquiat-Schau in der Fondation Beyeler bei Basel, eine Gesamtedition des österreichischen Extremfilmers Ulrich Seidl, Ben Jonsons "Volpone mit Harald Schmidt am Stuttgarter Schauspiel, Oren Movermans Irak-Film "The Messenger". Und Bücher, darunter Richard Yates' Roman "Ruhestörung" (Leseprobe) und Gerbrand Bakkers "Juni" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 02.06.2010

Gratulationscour für Marcel Reich-Ranicki auf der ersten Feuilletonseite. Es schreiben drei ehemalige FAZ-Redakteure, darunter zwei ehemalige MRR-Nachfolger. Lothar Müller blickt auf das Verhältnis MRRs zu Grass und Walser zurück. Thomas Steinfeld würdigt MRR als Lehrer des Publikums. Gustav Seibt empfiehlt nochmal MRRs "Anwälte der Literatur", sein Buch über die großen Kritiker der deutschen Literatur. Besprochen wird überdies die MRR-Ausstellung im Jüdischen Museum von Frankfurt.

Weitere Artikel: Catrin Lorch schreibt zum Tod von Louise Bourgeois. Der Rapper Nas beklagt im Gespräch mit Jonathan Fischer, dass die weißen Medien und Lehrer den schwarzen Amerikanern nicht genug über ihre afrikanischen Wurzeln beibringen. Gustav Seibt berichtet von der Verleihung des Ordens pour le merite, die in Abwesenheit des pflichtvergessenen Bundespräsidenten stattfinden musste.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Mathieu Kassovitz' Film "La Haine" durch Volker Schmidt bei den Wiener Festwochen und Filme, darunter Oren Movermans Irakfilm "The Messenger", eine neue Stieg-Larsson-Verfilmung und Rick Minnichs Dokumentarfilm "Forgetting Dad" über einen Vater ohne Gedächtnis.

Ein Höhepunkt des Seite-3-Journalismus findet sich heute unter folgender Unterzeile: "Im 'Einstein Unter den Linden' sitzt das Personal der Berliner Republik und fasst es nicht. Eine Dame in Pink sagt: 'Köhler schuldet mir eine Erklärung!'"

FAZ, 02.06.2010

Der israelische Schriftsteller David Grossman erklärt in einem kurzen, aber beeindruckenden Artikel seine Trauer und Bitternis über den Vorfall vor Gaza: "Einer kleinen religiös-fanatischen, israelfeindlichen türkischen Organisation (ist es) mit der Unterstützung von einigen Hundert Friedens- und Gerechtigkeitssuchern gelungen, Israel in eine Falle zu locken. Diese Organisation hat Israels Reaktion genau abgeschätzt; sie wusste sehr wohl, dass Israel unweigerlich so handeln würde, wie es dann auch gehandelt hat: zwanghaft wie eine Marionette. In welchem Maße verunsichert, verwirrt, verschreckt muss ein Staat sein, der so vorgeht!"

Mehr als ein Geburtstagsständchen gibt es für Marcel Reich-Ranicki zum Neunzigsten - sogar das FAZ-Titelbild zeigt sein Autorenkürzel. Der Schriftsteller Siegfried Lenz erinnert sich an die Zeit, als der Freund gerade aus Polen gekommen war: "Wir besuchten uns oft, trafen uns im Theater, an gesellschaftlichen Abenden, fuhren regelmäßig ins städtische Hamburger Schwimmbad - er immer in Begleitung seiner Geliebten, der Literatur." Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt lobt den Kritiker als Mann mit Witz. Frank Schirrmacher hat ein Gespräch geführt, in dem sich Reich-Ranicki etwas weniger einsilbig gibt als in den Zeit- und FAS-Interviews. Und in der Glosse würdigt ebenfalls Schirrmacher MRR als Regenten der Kritik, der so manches Staatsoberhaupt überlebt hat.

Weitere Artikel: Von einer Orden-Pour-le-Merite-Veranstaltung in Abwesenheit eines amtierenden Bundespräsidenten berichtet Patrick Bahners. Beim Blick in französische Zeitschriften entdeckt Jürg Altwegg diesmal vor allem Deutsch-Französisches. Als etwas, aber noch nicht völlig entspannt beschreibt Swantje Karich in einer Meldung die Lage der in Finanznot geratenen Hamburger Kunsthalle. Rose-Maria Gropp schreibt zum Tod der Künstlerin Louise Bourgeois. Auf der Geisteswissenschaftenseite insistiert der Afrika-Historiker Andreas Eckert, dass man das mit der Sklaverei im Islam (mehr hier) differenziert sehen muss.

Besprochen werden ein Berliner The-Drums-Konzert (Website der Band), die Uraufführung von Philipp Löhles Farce "Die Überflüssigen" am Berliner Maxim Gorki Theater, die Ausstellung "Ein neuer Blick" mit Architekturfotografie im Berliner Museum für Fotografie, Oren Movermans Film "The Messenger" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).