Heute in den Feuilletons

Wohlwollender Blick auf ein Desaster

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.12.2009. Cory Doctorow erklärt im Harvard Business Manager, wie er Geld verdient, indem er seine Bücher kostenlos ins Netz stellt. Die Welt annonciert den nächsten Bestseller: Rolf Bauerdicks Roman "Wie die Madonna auf den Mond kam". Microsoft wird Zeitungen keine Inhalte abkaufen, um Google auszustechen, meldet die Financial Times. Die FR lotet den stärksten Ausdruck von Freiheit aus. Im  Blog Mobylives erfahren wir, dass Roberto Bolano ein Lichtenberg-Verehrer war. Und Google hat jetzt ein Wörterbuch.

Aus den Blogs, 04.12.2009

Autor und BoingBoing-Gründer Cory Doctorow spricht im Interview mit dem Harvard Business Manager über seinen neuen Roman "Little Brother", die Zukunft des Internets und das Copyright. "Ich stelle alle meine Bücher kostenlos ins Internet, und die Leute können damit machen, was sie wollen - sie remixen, übersetzen oder an Freunde weitergeben -, solange sie das nicht zu kommerziellen Zwecken tun. Dieses Modell funktioniert, weil ein kostenloses elektronisches Buch für die meisten Menschen kein Ersatz für ein gedrucktes Buch ist, sondern eher ein Anreiz, sich das Buch in gedruckter Form zu kaufen. Ich verkaufe jede Menge gedruckter Bücher, indem ich meine Romane in elektronischer Form kostenfrei ins Internet stelle. Vielleicht wird sich das eines Tages ändern. Es könnte ein Meteor in die Erde einschlagen; oder womöglich verlieren wir Menschen auch irgendwann völlig den Spaß an Romanen. Doch vorläufig verdiene ich gutes Geld damit, meine Bücher ins Internet zu stellen... Bei den meisten Leuten, die heute keines meiner Bücher gekauft haben, liegt das daran, dass sie noch nie von mir gehört haben, und nicht daran, dass ihnen irgendjemand eine kostenlose Kopie davon in die Hand gedrückt hat."

(Via Techcrunch) Adieu, Leo? Google hat still und heimlich ein Wörterbuch eröffnet: Google.com/Dictionary, meldet das Techblog der Los Angeles Times und erläutert weiter: "In addition to Google's own database of definitions, looking up a word on the Dictionary website provides a list of definitions pulled from a variety of academically authoritative sources (oh, and Wikipedia)."

(Via Hemartin) E-Book-News liest einen Essay des New Yorker Autors Alan Kaufman, der die Digitalisierung von Büchern als "Bücherverbrennung" und Pogrom empfindet: "'Hätte man mir früher gesagt, eines Tages würde meine Literatur in einem 7-Zoll-Plastik-Gadget enden, mitten unter tausenden anderen Texten, hätte ich die Schriftstellerei gleich an den Nagel gehängt und wäre Auftragskiller oder Rabbi geworden.' Whow!"

Lichtenbergs Aphorismen gehörten zu den ewigen Lieblingsbüchern von Roberto Bolano, berichtet das Blog Mobylives, das in fünf Folgen Bolanos Lektüren vorstellen wird. Mobylives ist übrigens ein Blog, aus dem ein Verlag entstanden ist - und der hat auch das letzte Interview mit Bolano als Buch herausgebracht. Und hier Bolanos Antwort auf die Frage nach seinen fünf Lieblingsbüchern: "In reality the five books are more like 5,000. I?ll mention these only as the tip of the spear: Don Quixote by Cervantes, Moby Dick by Melville. The complete works of Borges, Hopscotch by Cortazar, A Confederacy of Dunces by Toole. I should also cite Nadja by Breton, the letters of Jacques Vache. Anything Ubu by Jarry, Life: A User?s Manual by Perec. The Castle and The Trial by Kafka. Aphorisms by Lichtenberg. The Tractatus by Wittgenstein. The Invention of Morel by Bioy Casares. The Satyricon by Petronius. The History of Rome by Tito Livio. Pensees by Pascal."

Welt, 04.12.2009

Hendrik Werner annonciert den kommenden Bestseller, Rolf Bauerdicks Roman "Wie die Madonna auf den Mond kam", dessen Weltrechte sich die Verlage auf der Buchmesse aus den Händen rissen. Bauerdick ist ein viel gereister Fotograf. Sein Roman spielt in Marquez-mäßigen magischen Realismus in einem stilisierten Rumänien und unter den Roma: "Was er in dem Zigeunern gewidmeten Abschnitt seines Werkes versuche, sei ein 'wohlwollender Blick auf ein Desaster'. Viele Roma lebten heute schlechter als vor 20 Jahren. Das habe zwar auch mit mangelndem Integrationswillen zu tun, vor allem aber mit den kruden Ausschlussmechanismen einer zutiefst verunsicherten postsozialistischen Gesellschaft. Für den Verfallsästheten Bauerdick indes steht nach x-facher Inspektion der selbst ihm zufolge wenig auf Ordnung erpichten Roma fest: 'Bei denen gibt es unendlich viel Schönheit im Dreck.'"

Der gleiche Hendrik Werner kommentiert Bernd Neumanns Pläne für eine Deutsche Digitale Bibliothek, die ja schon deshalb gegründet werden muss, weil die von Google eingescannten deutschen Bücher in Deutschland selbst nicht lesbar sein werden. Bei allem Wohlwollen hat Werner ein paar Fragen. Etwa wie die DDB nun mit den berühmten "verwaisten Werken" umgehen wird: "Ob diese Fragen ohne indezente Aushöhlung oder dezente Novellierung des Urheberrechts befriedigend und praktikabel beantwortet werden können, erscheint derzeit ungewiss."

Weitere Artikel: Stefan Kirschner berichtet von der ersten Sitzung des Kulturausschusses im Bundestag. Thomas Lindemann beklagt harsche Zensurmaßnahmen deutscher Behörden an zwei populären Videospielen (nämlich "Call of Duty: Modern Warfare 2" und "Left 4 Dead 2") Hans Zippert bringt aus Anlass der Festnahme eines Schwerverbrechers eine kleine Bielefeld-Satire. Michael Pilz berichtet von einem Konzert Paul McCartneys in der für ihn und die Beatles so historischen Stadt Hamburg. Und im Gespräch mit Rainer Haubrich kommentiert der Architekt Christoph Mäckler die Gerichtsentscheidung für Franco Stellas Stadtschlossentwurf als "Sieg der Baukultur".

Weitere Medien, 04.12.2009

Microsoft strebt keine engere Kooperation mit Zeitungsverlegern an und wird ihnen keine Inhalte abkaufen, um Google auszustechen, sagt laut Financial Times, der für die Suchmaschine Bing zuständige Sprecher: "His comments came a week after it emerged that Microsoft had been in talks over a News Corp-led initiative that would have paid publishers to leave Google as a way to boost Microsoft's own search engine, Bing."

Der wilde Antisemitismus in Ungarn, der sich jüngst gegen Imre Kertesz äußerte, hat seine Ursachen auch in geschichtspoltischen Manipulationen im sozialistischen Ungarn, meint Karl Pfeifer in der Jungle World: "Die ungarische Lebenslüge, die auf einer bequemen 'antifaschistischen' Legende gründete, wonach an der Tragödie Ungarns 1944 lediglich 'die Deutschen' schuld gewesen seien, versuchte, so gut es ging, die Tatsachen unter den Teppich zu kehren. Sogar das Wort 'Jude' wurde tabuisiert und durch das Wort 'Verfolgter' ersetzt, der Widerstand gegen die Nationalsozialisten und ihre ungarischen Helfershelfer maßlos übertrieben."

FR, 04.12.2009

Harry Nutt breitet das Dilemma aus, vor das uns die Schweizer mit ihrem Minarettverbot gestellt haben und schließt irgendwie dialektisch: "Die forcierte Stigmatisierung der Schweizer und ihrer Demokratie ist jedenfalls kein Ausdruck der Selbstbehauptung so genannter westlicher Werte. Dass man diese nicht unentwegt heiß verehren muss, ist allerdings der stärkste Ausdruck von Freiheit, den es zu verteidigen gilt."

Weiteres: In Times mager weiß Peter Michalzik von einem Fall von Ideenschenkung durch die Werbung zu berichten. Axel Veiel meldet, dass die Pariser Museen auf die geplanten Kürzungen nur eine Antwort kennen: Greve! Auf der Medienseite erzählt Patrick Beuth, wie die Seattle Times mit Google Wave allerdings recht erfolglos einen Mörder jagte.

Besprochen werden der Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard, eine "Wintermärchen"-Aufführung am Schauspiel Frankfurt, eine Inszenierung von Glucks "Iphigenie" in Brüssel sowie ein Konzert des Ensemble Modern mit Stücken von Johann Maria Staud und Johannes Kalitzke.

TAZ, 04.12.2009

Online wird gemeldet dass Regisseur Fatih Akin aus Protest gegen das Schweizer Minarettverbot die Teilnahme an der Premiere seines neuen Films "Soul Kitchen" in der Schweiz abgesagt hat. In einem offenen Brief an die Schweizer Presse schreibt er, dieser Volksentscheid widerspreche seinem Verständnis von Humanismus, Toleranz und dem Glauben an ein harmonisches Miteinander. "Da ich Kind moslemischer Eltern bin, die in Minaretten keinen politischen Islam, sondern lediglich die vollständige Architektur ihrer Gotteshäuser sehen, fühle ich mich durch den Volksentscheid auch persönlich betroffen."

Auf den Kulturseiten gratuliert Andreas Hartmann der Berliner Techno-Institution Hardwax zum zwanzigsten Geburtstag. Besprochen werden der Dokumentarfilm "Herrenkinder" von Eduard Erne und Christian Schneider, die Zöglinge des NS-Erziehungssystems Napola erzählen lassen, und neue CDs von Klimek, Mapstation und Lawrence.

Und Tom.

NZZ, 04.12.2009

Daniel Ender schreibt zum achtzigsten Geburtstag des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der in Wien und im Feuilleton noch immer mit Argwohn betrachtet werde: "Mitunter ist sogar noch immer die Meinung zu hören, er könne gar nicht dirigieren." Roman Bucheli besucht das deutlich aufgefrischte Schiller-Museum in Marbach. Roman Hollenstein durfte zur Besichtigung der Fußballstadien nach Südafrika, am besten hat ihm offenbar Durbans Moses-Mabhida-Stadion von Gerkan Marg und Partner gefallen. Marion Löhndorf bespricht die Londoner Ausstellung über Kunst und Kommerz "Pop Life: Art in a Material World" in der Tate Modern.

Nachtragen müssen wir von gestern noch Joachim Güntners Bericht von der 600-Jahr-Feier der Leipziger Universität unter recht erschwerten Bedingungen.

FAZ, 04.12.2009

An den Fronten in der Klimapolitik wird deutlich, so Mark Siemons, wie sehr sich die globalen Allianzen verschoben haben. China als dem Pro-Kopf-Einkommen nach armes, von der Höhe des Bruttoinlandsprodukts her aber reiches Schwellenland gewinnt gewaltig an Attraktivität für die Entwicklungsländer: "Diese Mischung aus Armut, Wirtschaftskraft und vergangener Ohnmacht hat das Potential, die gewohnten Aufteilungen nachhaltig zu verändern. Die nach wie vor einflusslosen ärmsten Länder der Erde bekommen durch die Schwellenländer, die aus historischen und geopolitischen Gründen mit ihnen gemeinsame Sache machen, eine bislang ungekannte Möglichkeit, auf die Industriestaaten Druck auszuüben."

Weitere Artikel: Rose-Marie Gropp konstatiert dass die Verhandlungen über den Ankauf von Hans Holbeins Schutzmantelmadonna am - mit kolportierten vierzig Millionen Euro - zu niedrigen Angebot des Lands Hessen jedenfalls vorerst gescheitert sind. In der Glosse erteilt Jürgen Kaube den Frankfurter Studierenden einen Tadel, die glauben, sie könnten mit "Sachbeschädigung und Radau" ihre Anliegen durchsetzen. Oliver Jungen erkennt in einem neu eröffneten, mit viel Fördergeld unterstützten "Denklabor" in Köln einen Musterzusammenhang für eine "komplett arbiträr gewordene, überdrehte Projekte mit eingebauter Ruine geradezu herausfordernde Wissenschaftsförderung". Zustimmend kommentiert Christian Geyer das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, der gegen die Rechtlosigkeit deutscher Väter Einspruch erhebt. Wolfgang Günter Lerch war dabei, als in Bamberg türkische Autoren über zeitgenössische Literatur diskutierten. Andreas Rossmann fürchtet, dass Bochum zum Verlierer des kommenden Kulturhauptstadtjahrs wird. Hannes Hintermeier fragt - alles andere als rhetorisch: "Wer zahlt die Digitale Bibliothek?" Eduard Beaucamp erinnert sich an den vor ziemlich genau zwanzig Jahren verstorbenen Künstler Gerhard Altenbourg.

Besprochen werden ein Paul-McCartney-Konzert in Hamburg (das Edo Reents' Verdacht bestätigte, dass McCartney sich längst näher bei Peter Alexander als bei Jimi Hendrix befindet), Olga Ventosa Quintanas Inszenierung einer Theaterfassung von Heinrich Heines "Deutschland. Ein Wintermärchen" in Frankfurt, Sergej Dvortsevoys Film "Tulpan" und Bücher, darunter Nuruddin Farahs Roman "Netze" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 04.12.2009

Im Interview erklären Christian Brey und Harald Schmidt ihr Grundkonzept für die ihnen angetragene Inszenierung der "Lustigen Witwe" in Düsseldorf. Schmidt: "Wenn ich dem Zuschauer sagen will, dass 'Lippen schweigen' die Grenze zur Sentimentalität überschreitet und nichts mit der rauen Wirklichkeit zu tun hat, stelle ich diese Meinung gerne gratis ins Internet - dazu muss ich das Stück nicht auf die Bühne bringen. Nein, das Publikum soll sich voll einseifen lassen. Es soll sich hinreißen lassen von diesem genialen Komponisten, der es geschafft hat, in einem einzigen Werk sieben Welthits unterzubringen."

Weitere Artikel: Johannes Boie stellt im Schnelldurchgang einige der wichtigsten islamkritischen Gruppen in Deutschland vor, von der rechtspopulistischen Website "Politically Incorrect" bis zu den liberal-libertären "Freunden der offenen Gesellschaft". Kia Vahland kommentiert den vorläufigen Abbruch der Verhandlungen um den Verkauf von Holbeins Schutzmantelmadonna an das Land Hessen. Ziemlich ernüchtert berichtet Volker Breidecker von der zur Einmalvorlesung - in diesem Jahr Durs Grünbeins - heruntergekommenen Poetikdozentur in Frankfurt. Laura Weissmüller hat sich das von David Chipperfield entworfene neue Museum Folkwang in Essen angesehen. Ein Urteil, das die Herstellung von Kopien aus digitalen Lehrbüchern, die von Universitätsbibliotheken bezahlt wurden, verbietet, referiert "jsl". "job" gratuliert Harald Naegeli, dem "Sprayer von Zürich", zum Siebzigsten.

Besprochen werden die Aufführung von Merce Cunninghams letzter Choreografie "Nearly 902" in Paris, ein vierhändiges Klavierkonzert von Martha Argerich und Alexander Mogilevsky in München, Til Schweigers neuer Film "Zweiohrküken" (von "schwersten Humorgeschützen" fühlt sich Tobias Kniebe niederkartätscht), und Bücher, darunter Paul Beattys Roman "Slumberland" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).