Heute in den Feuilletons

Peter Schmidt . . . ist tot

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2009. Wer aus dem Hitler-Stalin-Pakt gelernt hat, muss jetzt Georgien helfen!, rufen europäische Intellektuelle in der Welt. Die taz feiert atonale Popmusik von David Sylvian. In der FR erzählt Bei Ling, wie mies es Homosexuellen in China ergeht. Die SZ überlegt, wie man einen Toten auf Facebook beerdigt. In der FAZ warnt Pirat Jens Seipenbusch vor der Manipulation von Internetnutzern. In der Huffington Post ahnt Jimmy Wales, was die alten Medien an Wikipedia so schockiert: die Massen sind intelligent!

Welt, 22.09.2009

Haben wir aus dem Hitler-Stalin-Pakt gelernt? Aus dem Münchner Abkommen? Wer das bejaht, muss jetzt Georgien helfen, rufen europäische Intellektuelle, darunter Vaclav Havel, Adam Michnik, Vytautas Landsbergis, Andre Glucksmann und Timothy Garton Ash, in einem Appell an die EU. "20 Jahre nach der Emanzipation des halben Kontinents, wird in Europa eine neue Mauer gebaut - diesmal durch das souveräne Territorium Georgiens. Das stellt die Bürger, Institutionen und Regierungen Europas vor eine große Herausforderung. Wollen wir hinnehmen, dass die Grenzen eines kleinen Landes unilateral unter Anwendung von Gewalt verändert werden? Wollen wir die De-facto-Annexion fremder Territorien durch eine Großmacht tolerieren? Damit die anstehenden Gedenkveranstaltungen sinnstiftend wirken können auf Europas kollektive Identität wie auch seine Zukunft, drängen wir die 27 demokratischen Regierungschefs der Europäischen Union zu einer initiativen Strategie, die Georgien hilft, seine territoriale Integrität mit friedlichen Mitteln wiederzugewinnen und den Rückzug der illegal auf georgischem Boden stationierten russischen Truppen zu erreichen."

Weitere Artikel: Robert Kretzschmar erklärt im Interview, wie die Renovierung des Kölner Stadtarchivs voranschreitet. Kultur schützt nicht vor Versuchung, warnt Berthold Seewald in der Glosse angesichts der Betrugsvorwürfe gegen bedeutende spanische Kulturfunktionäre und der anstehenden Wahl des neuen Unesco-Generaldirektors. Gernot Facius erinnert an Hildegard von Bingen, die demnächst auf der Leinwand in Gestalt von Barbara Sukowa zu sehen ist.

Besprochen werden eine Pasolini-Ausstellung im Literaturhaus Berlin (die Tilman Krause hoffnungslos naiv findet), die Uraufführung von Lukas Bärfuss' neuem Stück "Öl" am Deutschen Theater Berlin (Matthias Heine liebt sie alle: die Schauspieler, den Autor, den Regisseur, den Intendanten und das Deutsche Theater), verschollen geglaubte Musik von Prefab Sprout, die Uraufführung von Philip Glass' neuer Oper "Kepler" in Linz und Barrie Koskys Inszenierung des "Rigoletto" an der Komischen Oper Berlin.

TAZ, 22.09.2009

Tim Caspar Boehme porträtiert den Sänger David Sylvian, der nicht nur improvisierte, sondern auch noch atonale Popmusik macht (und gerade das Album "Manafon" herausgebracht hat): "Der ehemalige Sänger der New Wave-Band Japan, der kurz vor dem ganz großen Durchbruch zu Beginn der Achtziger seine Kollegen verließ, hatte seither seine eigenen Experimente in Sachen Pop durchgeführt, zunächst ohne die Formsprache des Songs aufzugeben. Seine neue Freiheit eröffnete ihm eine Reihe zusätzlicher Ausdrucksmöglichkeiten."

Weitere Artikel: Katharina Granzin resümiert die Lesungen des Internationalen Literaturfestivals in Berlin. Robert Misik schreibt zum Tod von Irving Kristol.

Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung von Verdis "Rigoletto" an der Komischen Oper Berlin und ein Stück des "Freedom Theatre" aus dem Flüchtlingslager Dschenin, das in Frankfurt Premiere hatte.

Tom
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NZZ, 22.09.2009

Markus Bernhard, Kommunikationschef der ETH Zürich, verteidigt die Wissenschaftskommunikation gegen Urs Hafner, der ihr ein simplizistisches Wiossenschaftsbild vorgeworfen hatte: "Bildung und Forschung spielt sich nicht im vielzitierten 'Elfenbeinturm' ab, sondern wirkt immer in der Gesellschaft." Marc Zitzmann besucht das wiedereröffnete Musee Gadagne in Lyon.

Besprochen werden die Retrospektive der Bildhauerin Isa Genzken im Museum Ludwig Köln, ein Konzert unter Pablo Heras-Casado in der Tonhalle Zürich, die Neuausgabe von Knut Hamsuns großem Roman "Hunger", Eva Menasses Erzählungen "Lässliche Todsünden" und schließlich Mohammed Abed Al-Jabris Untersuchung (Leseprobe hier) "Kritik der arabischen Vernunft" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 22.09.2009

Ina Hartwig erzählt von ihrer Begegnung mit dem chinesischen Dichter Bei Ling in Frankfurt: "Beim Verteilen von Schriften seines Verlags Tendenzen war er im August 2000 in Peking auf offener Straße verhaftet worden, hätte Susan Sontag nicht ihre Kontakte zu der damaligen Außenministerin Madeleine Albright aktiviert, säße er womöglich immer noch hinter Gittern. Als Roland Barthes 1974 nach China reiste, sei er sehr vorsichtig gewesen, 'weil er schwul war'; das habe Susan Sontag ihm erzählt. Heute, ergänzt Bei Ling, bringe man Homosexuelle nicht mehr um. Aber im Gefängnis ergehe es ihnen schlimm. 'Die Polizei hasst sie immer noch.'"

Der Regisseur Laurent Chetouane beklagt im Interview mit Tobi Müller das geringe Interesse an der Politik in der Theaterwelt: "Politiker reden immer weiter. Wie viele Dramaturgen im Theater, die nur in ihren Programmheften Politik machen und immer schon vorher auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. In der Kantine aber sind die Fragen andere: Wo mache ich meine nächste Produktion, mit wem werde ich arbeiten? Theater werden heute bloß noch verwaltet, wie Länder auch. Die Bilanz muss bei beiden stimmen. Politik ist das nicht."

Weitere Artikel: Sebastian Moll berichtet von der harschen Kritik der Neokonservativen an Barack Obamas Israel-Politik. In Times mager fordert Harry Nutt mehr Einmischung. Auf der Medienseite stellt Rene Martens Adrian Holovaty und seine Seite Everyblock.com vor, die Informationen auf mikrolokaler Ebene zusammenstellt.

Besprochen werden die Uraufführung von Philip Glass' Oper "Kepler" in Linz, der (für Wilhelm Hindemith missglückte) Saisonstart in Zürich mit "Maria Stuart und Martin Salander" und Ulrich Raulffs Wirkungsgeschichte zu Stefan George "Kreis ohne Meister" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 22.09.2009

In Huffington Post wendet sich der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales gegen Meldungen, die behaupten, es würde eine schärfere redaktionelle Kontrolle eingeführt - im Gegenteil, so Whales, die Wikipedia werde weiter geöffnet: "I believe that the underlying facts about the Wikipedia phenomenon - that the general public is actually intelligent, interested in sharing knowledge, interested in getting the facts straight - are so shocking to most old media people that it is literally impossible for them to report on Wikipedia without following a storyline that goes something like this: 'Yeah, this was a crazy thing that worked for awhile, but eventually they will see the light and realize that top-down control is the only thing that works.'"

Frank Schirrmacher hat im Walde gepfiffen (mehr hier) über Nerds und Piraten, und zuckersüß flötet es zurück, etwa Thomas Knüwer in Indiskretion Ehrensache: "Selten zuvor hat es in Deutschlands Printmedien ein Stück zur Geek-Kultur mit dieser intellektuellen Fallhöhe und einer positiven Grundstimmung gegeben. Das betrifft Schirrmachers Haltung zu jenen, die sich mit Computern beschäftigen, wie seine Meinung zur Piratenpartei. Für diese ist es ein Ritterschlag, wenn Schirrmacher ihren Parteichef Jens Seipenbusch einen 'Intellektuellen von Format' nennt."

Tagesspiegel, 22.09.2009

Ai Weiwei ist wieder einigermaßen wohlauf und bereitet im Münchner Haus der Kunst seine Ausstellung vor, berichtet Benedikt Voigt : "Es ist bestimmt noch nicht oft vorgekommen, dass im Haus der Kunst ein ärztliches Bulletin vorgelesen wird. Doch der Schlag des Beamten, der Aufenthalt auf der Polizeistation in der Provinz Sichuan und die Operation in München - all das ist schon wieder Teil des sich ständig weiterentwickelnden Gesamtkunstwerks Ai Weiwei. Das Handy-Foto, das er bei seiner kurzzeitigen Festnahme in Chengdu im Hotel-Fahrstuhl aufgenommen hat und das ihn mit einigen Zivilpolizisten zeigt, prangt nun großformatig in einem Seitenflügel des Museums."
Stichwörter: Ai Weiwei, München

SZ, 22.09.2009

Was passiert eigentlich, wenn ein Mitglied von Facebook stirbt?, fragt Johann Schloemann: "Stellen wir uns vor, die Nachricht auf seiner Internet-Pinnwand lautet plötzlich: 'Peter Schmidt . . . ist tot'. Was soll man denn jetzt tun? Auf 'Kommentieren' klicken? Oder etwa auf 'Gefällt mir'?" Aber normalerweise bekäme man es ja gar nicht mit, weil die Angehörigen das Passwort nicht haben und Facebook es nicht herausgibt: "Für die Trauernden, die nicht zu den registrierten Online-'Freunden' gehören, für Eltern eines verunglückten Jugendlichen beispielsweise, ist das sehr schwierig."

Weitere Artikel: Ganzseitig unterhält sich Franziska Augstein mit Norbert Frei über seine monumentale neue Flick-Biografie. Burkhard Müller hält den an Krebskranke herangetragenen Wunsch, sich bitte nicht zu äußern, im Internetzeitalter für obsolet (mehr zu der Debatte hier). Christine Dössel meldet, dass das Theater an der Ruhr unter Roberto Ciulli Fassbinders als antisemitisch umstrittenes Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" trotz Protesten der jüdischen Gemeinde auf den Spielplan setzt. Alexander Kissler glossiert die ostentativ herausgestrichenen "Kleine-Leute-Biografien" prominenter Politiker und Manager. Zwei Artikel widmen sich dem Musikwettbewerb der ARD - besonders die Sänger, so scheint es, enttäuschten. Holger Liebs beobachtete ein Treffen sämtlicher ehemaliger (sofern noch lebender) Documenta-Chefs in Turin. Auf der Medienseite schildert Thomas Urban rabiate Szenen im polnischen Staatsfernsehen, dessen 31-jähriger Chef auf eine rechtsextreme Vergangenheit zurückblickt und alte Kumpels positioniert hat.

Besprochen werden Ibsen-Inszenierungen an Hamburger Bühnen und Bücher, darunter Aleksandar Hemons Roman "Lazarus" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 22.09.2009

Nachdem er am Sonntag von Frank Schirrmacher als "Intellektueller von Format" belobigt wurde, darf der Vorsitzende der Piratenpartei, Jens Seipenbusch, auf Seite 1 des Feuilletons Wahlkampf machen. Er umgeht das dornige Feld des Urheberrechts und schreibt statt dessen über "die Optimierung der Voraussagbarkeit unseres Verhaltens", die von Akteuren wie Google und dem Staat betrieben wird: "In manchen Bereichen nimmt die sprachliche Übereinstimmung von Realität und fiktionaler Dystopie verblüffende Ausmaße an - so zum Beispiel bei der präventiven Strafverfolgung in der neuen Sicherheitsarchitektur des Bundesinnenministers Schäuble, die die Abteilung 'Precrime' in Erinnerung ruft, die in Steven Spielbergs Film 'Minority Report' von 2002 Menschen für noch gar nicht ausgeführte oder geplante Verbrechen verhaftet."

Weitere Artikel: Hanns Hintermeier glaubt, dass das Google Book Settlement nach der Intervention der amerikanischen Regierung, die mit dem Kartellrecht drohte, neu verhandelt werden muss: "Die Konkurrenz müsse 'Pfade' erhalten, auf denen der Zugang zu diesen Büchern jenseits von Google möglich sei." Jürg Altwegg mokiert sich in der Leitglosse sanft über das dandyhafte Gebaren des französischen Kulturministers Frederic Mitterrand (eines Neffen des einstigen sozialistischen Präsidenten). Niklas Maak würdigt den slowakischen Installationskünstler Roman Ondak, dem in New York eine Retrospektive gewidmet wurde. Andreas Rossmann inspiziert die von Santiago Calatrava und Jacques Voncke neu gestalteten Bahnhöfe von Lüttich und Antwerpen, die die leicht beschleunigten TGV-Strecken von Paris nach Amsterdam und nach Köln säumen. Bernd Noack begibt sich im mittelfränkischen Städtchen Gunzenhausen auf die Spuren J. D. Salingers, der dort nach dem Krieg einige Monate zubrachte (die sein schmales Oeuvre allerdings nicht nachhaltig prägten). Andreas Platthaus hat in Paris eine Verfilmung des "Kleinen Nick" gesehen, die beim Premierenpublikum - Kinder, natürlich - große Begeisterung auslöste. Auf der Medienseite berichtet Gina Thomas, dass der Observer nur in reduzierter Form fortleben wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Impressionismus - Wie das Licht auf die Leinwand kam" in Wien, eine Einspielung der drei Streichquartette von Robert Schumann durch das Philharmonia Quartett Berlin, die "Meistersinger" in Köln und die Modeausstellung "Catwalks" in Düsseldorf.