Heute in den Feuilletons

Bands werden Protestlieder vortragen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2008. Die Welt sieht in der Krise eine Chance auf Poprevolte. In der Berliner Zeitung erklärt die erste Konzertmeisterin der Wiener Philharmoniker, Albena Danailova, wie sie dazu wurde. Für die FR besuchte Claudia Schmölders die europäische Internetbibliothek Europeana. Der taz stellt Natalie Zemon Davis Leo Africanus vor. Die französischen Blogs diskutieren über den linken und rechtsradikalen Stand up-Comedian Dieudonne, der einen Holocaustleugner vor 5.000 Zuschauern mit einem Preis für Frechheit auszeichnete.

FR, 30.12.2008

Claudia Schmölders hat in die Wunderkammer Europas geblickt, in die Europeana, das ehrgeizige Projekt der EU-Kommission, mit dem Europas Kulturgüter digital zugänglich gemacht werden sollen. "Freilich, bis jetzt ist nur ein geringer Teil der existierenden Kulturgüter in diesem Bereich auch wirklich schon digital erfasst. Bezogen auf die aktuellen Datensätze gilt das leider besonders für den deutschen Beitrag. Nur ein Prozent der jetzt vorgestellten Objekte stammt aus Deutschland, dagegen 52 Prozent aus Frankreich, der Rest aus anderen Ländern. Sollte die Finanzkrise von heute das gesamte Projekt einfrieren, bliebe die deutsche Kultur für die zukünftigen Benutzer aus aller Welt also in tiefem Schatten."

Weiteres: Jürgen Otten spricht mit der Pianistin Helene Grimaud über Bach, Beethoven und Glenn Gould. In Times mager testet Christian Schlüter Knicklichter statt Böller. Besprochen werden eine Austellung zu Geräten, die mit dem Blick spielen, im Museum für Gegenwartskunst Siegen und Bücher, darunter Josef Winklers Erzählungen "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" und Jürgen Hofmanns Rückblick auf 68 "Those were the days my friend" (mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 30.12.2008

Der linke und rechtsradikale, postkoloniale und antisemitische Stand up-Comedian Dieudonne hat am zweiten Weihnachtstag vor einem johlenden Publikum von 5.000 Menschen im ehrwürdigen Pariser Zenith den Holocaust-Leugner Robert Faurisson mit einem "Preis für Unfrequentierbarkeit und Frechheit" ausgezeichnet. Überreicht wurde er von einem Techniker in KZ-Kluft mit gelbem Stern. Pierre Assouline kommentiert in seinem Blog auf der Website von Le Monde: "So viel also zu Frankreich im Jahre 2008. Und dass man nicht von einem 'Ausrutscher' spricht, denn man hatte sich sehr wohl unter Kontrolle, alles war von den Protagonisten ausgedacht, diskutiert und wiedergekäut." Assouline setzt auch einige Links, unter anderem zu einem Video von der Aktion. Die fast 400 Kommentare zu seinem Artikel sind zu einem großen Teil pro Dieudonne.

Der französische Soziologe Michel Wieviorka kommentiert die Szene in Rue89, erzählt zunächst eine kurze Geschichte des "Negationismus", der ursprünglich von der extremen Linken erfunden wurde, und will sich nicht über einen neuen Antisemitimus beunruhigen: "Man darf dem Zeitgeist nicht nachgeben und sich allzu große Sorgen über die Provokation von Dieudonne machen. Sie ist abscheulich, gewiss, und es ist widerlich, dass 5000 Zuschauer mit Wohlgefallen applaudiert haben." Dennoch seien die extreme Rechte in Frankreich und Jean-Marie Le Pen, der im Publikum zugegen war, im Niedergang.

Welt, 30.12.2008

Michael Pilz hat einen Traum von zornigen jungen Männern: "Die Krise wird die Popkultur verändern, ihre Haltungen und Formen. Inhalte versprechen wieder, Eltern und Eliten schmerzhafter zu treffen. Wie zuletzt vor 40 Jahren. Darin liegt die viel beschworene Chance der Krise. Die Entrüsteten werden sich nicht mehr mit dem Tragen lustiger Hüte oder onkelhafter Vollbärte begnügen, um sich von den Älteren abzusetzen. Sie werden wieder die ersten Adressaten der Kultur sein. Die Kultur wird den Zerfall für sie beobachten. Anstatt die Krise der Verlagsbranche, der Plattenindustrie oder der Bühnenlandschaft zu beklagen, werden Literaten wieder kämpferische Bücher schreiben. Bands werden Protestlieder vortragen. Die Theaterbühnen werden schon bald ausschließlich bevölkert sein von Arbeitslosen und Problemkindern, von Laien-Darstellern des echten Elends."

Außerdem: Hendrik Werner schreibt zum Abschluss der Heiner-Müller-Werkausgabe bei Suhrkamp. Hanns-Georg Rodek bereitet uns auf das Kinojahr 2009 vor. Außerdem hat die Redaktion die schlechtesten Filme von 2008 zusammengestellt. Wolfgang Harndorf schreibt über das Filmfestival auf Kuba. Danny Kemp berichtet von der Entdeckung einer Statue in Bamijan, die der Zerstörung durch die Taliban entging.

Besprochen werden ein "Boris Godunov" in Dresden und einige CDs.

NZZ, 30.12.2008

Joachim Güntner schauderte in der Ausstellung "Raub und Restitution" im Jüdischen Museum Berlin, die ihn tief in den "Abgrund der Niedertracht" blicken und den Holocaust als Mord aus Habgier erkennen ließ. "Für die Berliner Schau wurden 15 Fälle herausgegriffen, die jeweils exemplarische Natur besitzen: Der Raub etwa der reichen Kunstsammlung des Breslauer Anwalts Ismar Littmann erfuhr nachträglich eine ideologische Sanktion, indem daraus Akte des Expressionisten Otto Mueller genommen und zum Zwecke der Verfemung als 'entartete Kunst' gezeigt wurden. Der Fall Rothschild demonstriert, dass es den Nazis um Aneignung des Vermögens insgesamt ging. Die Bücher und Porzellane wiederum, welche die Familie von Klemperer bei ihrer Flucht aus Sachsen zurückließ, künden von der Politik der DDR, die - wie auch die Sowjetunion - eine Restitution von Raubkunst nie nötig fand."

Weitere Artikel: Andrea Köhler findet Brian Singers Stauffenberg-Film "Valkyrie" besser, "als all die absurden Vorschusslorbeeren und Vorverdammungsurteile befürchten ließen". Ludger Lütkehaus freut sich - as every year - auf "Dinner for one". Denn: "Das Ritual ist das Gegenmittel gegen das Verrinnen und Vergehen der Zeit. Im Ritual steht die Zeit still."

Besprochen werden ein Konzert von Edita Gruberova in der Zürcher Tonhalle, Oya Baydars Roman "Verlorene Worte", Hari Kunzrus Roman "Revolution", Irene Nemirovskys Gesellschaftspanorama "Feuer im Herbst" sowie Fabjan Hafners Studie über Peter Handke "Unterwegs ins Neunte Land" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Berliner Zeitung, 30.12.2008

Fritz Trümpi unterhält sich mit Albena Danailova, der ersten Konzertmeisterin der Wiener Philharmoniker und eine der bis heute ganz wenigen Frauen im Orchester. Sie hat für ihr Dortsein eine einfache Erklärung: "Ich habe in Wien zwei Probespiele absolviert und beim zweiten Mal einfach sehr gut gespielt, noch besser als beim ersten Mal."
Stichwörter: Wien, Wiener Philharmoniker

TAZ, 30.12.2008

Die Historikerin Natalie Zemon Davis stellt im Interview Leo Africanus vor, einen "Kulturvermittler des 16. Jahrhunderts", über den sie ein Buch geschrieben hat: "Er schrieb nicht nur dieses eine Buch, sondern viele: über den Islam, über arabische Dichtung. In Rom unterrichtete er Europäer in Lateinisch und Italienisch. Er erzählte ihnen von der Welt, die er zurückgelassen hatte, beschrieb Städte und ethnische Gruppen in Afrika, darunter auch Juden. Zwei seiner engsten Gefährten in Italien waren Juden."

Außerdem: Helmut Höge denkt über die Beziehungen zwischen Piraterie, Failed States und Akkumulation nach. Auf der Medienseite beschreibt Christian Rath die Folgen des neuen BKA-Gesetzes für die Arbeit von Journalisten. In taz zwei ärgert sich Reinhard Siemes über das schlechte Deutsch der "Dampfplauderer in den Medien".

Besprochen wird die Ausstellung "Munio Weinraub, Amos Gitai - Architektur und Film in Israel" im Münchner Architekturmuseum.

Und Tom.

FAZ, 30.12.2008

Nicht mehr hören mag Klaus Harpprecht das Geschrei der Kulturkritiker und Apokalyptiker (wo er das wohl vernommen hat?). Mit neuesten statistischen Zahlen bewaffnet, belegt er, dass es so viel Kultur und so viele Kulturkonsumenten wie gerade jetzt kaum je gab in Deutschland - von Bibliotheken bis Kino, von Chören bis Museen: "Niemals zuvor wurde, wenn wir uns nicht irren, Kunst in solch üppigen und originellen Varianten unters Volk gebracht, oft genug in den entlegensten Winkeln der Republik. Der Kulturföderalismus - das kostbarste Erbe unserer zerklüfteten Geschichte - lebt in ungebrochener Vitalität fort und fort: die schöne Hinterlassenschaft des Feudalismus, die wir in Wahrheit den Frondiensten der Arbeiter und den Steuergeldern der Bürger verdanken. Das Erbe nährt die Künstler, die Kulturarrangeure, die produktiven Geister zehntausend-, wenn nicht hunderttausendfach."

Weitere Artikel: Frank Schirrmacher, Nils Minkmar und Jürgen Kaube werfen Roland Koch die Stichworte für eine ganzseitige Selbstdarstellung zu. Die luxemburgische Verfassungskrise, die sich am Nein von Großherzog Henri I. zu einem Parlamentsentscheid über die Legalisierung der Beihilfe zur Selbsttötung entzündete, schildert Dirk Schümer. In der Glosse erklärt Christian Geyer, warum er in einer Welt ohne Wahn und Neurosen nicht leben möchte. Wolfgang Sandner porträtiert David Staples, der Architekten in der Frage berät, wie viele Räume Theater und Opern eigentlich brauchen. Mit Krisen-Biografien im Londoner Finanzviertel macht uns eine Reportage von Judith Luig bekannt. Dirk Schümer stellt das neu eröffnete "Casa del Suono" in Parma vor. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite zeigt sich Joachim Müller-Jung von den Forschungsleistungen der neuen "Supermacht des Fortschritts" Indien nicht sehr beeindruckt. Im großen Interview auf der Medienseite hat ARD-Programmdirektor Volker Herres keine Zweifel daran, dass beim Ersten alles zum Besten steht.

Besprochen werden die Ausstellung "Rodin und Freud" im Pariser Musee Rodin, die gut getimete Ausstellung "Recession" in Aachen, die Tanzsuiten-CD "Les characteres de la danse" und Dragan Velikics Roman "Das russische Fenster" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 30.12.2008

Fritz Göttler hat die amerikanischen Kritiken zu "Valkyrie" gelesen und konstatiert, dass es den Kritikern kein bisschen um Stauffenberg und dafür um so mehr um Tom Cruise geht, der mitten in der mid-career-Krise stecke. Till Briegleb erzählt die Geschichte des Künstlers Christoph Faulhaber, der in einer Aktion einmal das Sicherheitspersonal amerikanischer Botschaften fotografierte und nun bei jeder Einreise in die USA vom Sicherheitspersonal der dortigen Flughäfen belästigt wird. Roman Deininger schildert die Probleme des amerikanischen Nationalarchivs mit dem Nachlass George W. Bushs, der, erstmals bei einem amerikanischen Präsidenten, vor allem in Form digitaler Dateien vorliegt. Javier Caceres beschreibt die üble baskische Misswirtschaft am Guggenheim-Museum in Bilbao. Henning Klüver hat im venezianischen Palazzo Grassi eine von Francesco Bonami kuratierte Retrospektive italienischer Gegenwartskunst gesehen, die in Italien heftig umstritten ist. Gerhard Persche unterhält sich mit Michael Bladerer, dem Pressesprecher der Wiener Philharmoniker, die als Wiener Hofopernorchester besser bezahlt werden möchten. Ulrich Schnapauff schreibt zum neunzigsten Geburtstag Jerome D. Salingers.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Rückkehr der Götter" in Berlin, Camus- und Horvath-Inszenierungen in Frankfurt und Bücher, darunter einige Neuerscheinungen über Jürgen Habermas (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).