Heute in den Feuilletons

Opulentes Ungefähr

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2008. In der FAZ erklärt Henryk M. Broder, warum er sich weder vom Gericht noch von der FAZ verbieten lassen möchte, jemanden als antisemtisch zu bezeichnen. Die SZ verabschiedet Wolfgang Wagner. Die taz beobachtet, dass in den USA Weiße und Schwarze noch immer getrennt beten. In der Jungle World plädiert Cord Riechelmann gegen die Gauß'sche Normalverteilung. Und die FR ist enttäuscht von Madonnas Muskelspielen.

Jungle World, 30.08.2008

In einem Themendossier zu Statistik der Herrschaft klopft Cord Riechelman Wahrscheinlichkeitsrechnung und Gauß'sche Normalverteilung auf ihr Potenzial als Unterdrückungsinstrument hin ab: "Die Vorhersagen zur Kriminalitätsrate unter bestimmten Bevölkerungsgruppen ändern an der Kriminalitätsrate ebenso wenig wie die zur Prophy­laxe verordneten Fußfesseln oder die gated communities sonstwo auf der Welt. Der Wetterbericht verhindert keinen Wirbelsturm, und die Erdbebenvorhersagen verhindern keinen Tsunami, solange das Meer auf einer Erde ruht, deren Platten sich stetig gegeneinander reiben. Vorhersagen haben sich längst von ihren Gegenständen getrennt, und ihren Beruhigungs- und Kontrolleffekten kann man nur entkommen, wenn man zu den Gegenständen zurückfindet. Nur dann kann auch das blinde Wirken statistischer Ab­straktio­nen, die Schüler nach der Gauß'schen Normalverteilung zurechterziehen oder ganze Bevölkerungsgruppen oder Stadtteile mit Kriminalitätserwartungen in die Schleife der Planerfüllung treiben, beendet werden."
Stichwörter: Cord, Kriminalitätsrate, Tsunami

TAZ, 30.08.2008

In der zweiten taz berichtet Bettina Gaus von ihrer Reportagereise durch die USA und ihre Parallelgesellschaften: "In Louisiana besuche ich wieder einmal einen Gottesdienst, dieses Mal den einer baptistischen Gemeinde in der Kleinstadt Jennings. Zum ersten Mal fällt mir auf: Auch meine gänzlich zufällige Auswahl von Kirchen ändert nichts daran, dass ich stets nur gemeinsam mit anderen weißen Gläubigen bete. Mag sein, dass Schwarze und Weiße inzwischen auf Augenhöhe miteinander arbeiten. Zur Schule gehen. Sie heiraten ja auch, gelegentlich. Aber offenbar wird selbst dann immer noch getrennt gebetet." (Der Bericht von dieser Reise ist als Buch erhältlich.)

Weitere Artikel: Weder Barbet Schroeders Thriller "Inju - Das Monster im Schatten" noch Takeshi Kitanos Tragikomödie "Achilles und die Schildkröte" haben Cristina Nord im Wettbewerb von Venedig so recht überzeugen können. Anja Quickert resümiert das Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg. Für die Themen des Tages hat Tobias Rapp zum Abschied Wolfgang Wagners eine Gebrauchsanweisung für Bayreuth geschrieben, deren erster Satz vielleicht schon der wichtigste ist: "Die Wagners sind die deutsche Königsfamilie." Auf der Meinungsseite unterhält sich Ines Kappert mit dem amerikanischen Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha über den Kleinfamilien- und anderen Wahlkampfkitsch der Obamas. In der zweiten taz berichtet Pascal Beucker, dass die Moschee zu Köln nach langen Diskussionen nun gebaut werden kann.

Besprochen werden ein Iggy-and-the-Stooges-Konzert in Berlin, Michael Thalheimers Inszenierung von "Was ihr wollt" am Deutschen Theater" und Bücher, darunter Sven Regeners Roman "Der kleine Bruder" und Hans-Ulrich Wehlers Abschlussband seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Das taz-mag-Dossier widmet sich dem schönen Thema Mathematik. Judith Luig erinnert daran, dass die moderne Mathematik im "Dritten Reich" als "jüdisch" galt. Über Zahlen in Märchen und Mythen denkt Gina Bucher nach. Joanna Itzek schreibt über das Genre des Math Rock. Saskia Vogel unterhält sich sich mit dem Mathe-Model Barbara Meier.

Und Tom.

FR, 30.08.2008

Elke Buhr hat sich von Madonnas Berliner Konzert nicht begeistern lassen, auch wenn oder gerade weil die Sängerin immer noch auf der Höhe der Zeit scheint: "Madonna ist immer wieder als Ikone des Zeitgeistes interpretiert worden. Und vielleicht hat sie ihn 'Sticky and Sweet' auch wieder getroffen. In einer Zeit, da das teuerste Kunstwerk der Welt ein mit Diamanten besetzter Totenschädel ist, muss der größte weibliche Popstar eben eine Unternehmerin mit viel Ehrgeiz sein, die ihre stahlharten Muskeln zeigt. Zugabe gibt es nicht für die 50.000 in Berlin, genauso wie für all die anderen, die in den nächsten Wochen exakt die gleiche Show sehen werden. Nach dem letzten Song erscheint 'Game Over' auf den Videoschirmen. Das Geld ist durchgerasselt. Für das nächste Spiel bitte neue Dollars einwerfen."

Weitere Artikel: Peter Michalzik unterhält sich mit Oliver Reese, langjähriger Chefdramaturg, jetzt Interimsintendant am Deutschen Theater (und ab der nächsten Saison Schauspielchef in Frankfurt am Main) über den durchschlagenden Erfolg des Deutschen Theaters bei der diesjährigen Kritikerumfrage. In einer Times Mager, in der es mal wieder um Kippenbergers Bozener Kreuzesfrosch geht, zeigt sich Christian Schlüter vom "Gesinnungsterror" der Allzufrommen genervt.

Besprochen werden Michael Thalheimers "Was ihr wollt"-Inszenierung im Zelt vor dem Deutschen Theater, Urs Trollers Inszenierung von Goethes "Torquato Tasso" zur Frankfurter Saisoneröffnung, und Bücher, nämlich Hans-Ulrich Wehlers Abschlussband seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" und Anne Chaplets neuer Krimi "Schrei nach Stille" (mehr dazu in der Bächerschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 30.08.2008

Marc Zitzmann schickt einen Bericht über den etwas kargen Kultursommer im fast menschenleeren Paris. In der Reihe "Was ist schweizerisch?", kommt der Historiker Georg Kreis unter anderem auf den Bienenfleiß. Thomas Leuchtenmüller schreibt zum hundertsten Geburtstag des amerikanischen Schriftstellers William Saroyan und gratuliert aus demselben Anlass auch dem afroamerikanischen Autor Richard Wright, aus dessen bisher unveröffentlichten Briefen Auszüge abgedruckt werden.

Besprochen werden das Requiem von Berlioz zur Eröffnung des Septembre musical in Montreux und Bücher, darunter Judith Kuckarts "hinreißender" Roman "Die Verdächtige", der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan "Herzzeit", Ivan Cankars Roman "Am Hang", Wole Soyinkas Erinnerungen "Brich auf in früher Dämmerung?.

In der Beilage Literatur und Kunst diskutiert der Historiker Norbert Frei gründlich den Abschlussband von Hans-Ulrich Wehlers großer Gesellschaftsgeschichte und kann die bange Frage, ob aus dem "einst emanzipatorisch-kritischen Aufklärer nun ein Konservativer geworden" sei, trotz einiger Sottisen und "seiner unablässigen Polemik gegen einen EU-Beitritt der Türkei" verneinen: "Der Glaube an die Möglichkeit des Fortschritts und der Vernunft treibt ihn noch immer an."

Anna Maja Misiak porträtiert die Dichterin Debora Vogel, die als Exponentin der jiddischen Moderne ein wenig im Schatten von Bruno Schulz gestanden habe. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie schreibt eine Hommage an den im vorigen Jahr gestorbenen Autor Cyprian Ekwensi.

SZ, 30.08.2008

Auf der ganzen ersten Feuilleton Seite wird Wolfgang Wagner, der Patriarch von Bayreuth, verabschiedet. Gustav Seibt hält freilich wenig von den künstlerischen Tendenzen der letzten Jahre: "Modernität als Installations- und Assoziationsraum, davon zeugen fast krampfhaft, wenn auch auf unterschiedlichen Niveaus die letzten Inszenierungen... Ein opulentes Ungefähr hat die formstrenge Abstraktion ersetzt, die in Herheims 'Parsifal' nur als Lokalfarbe unter anderen präsent war. Zukunft sieht hier beliebig aus." Joachim Kaiser blickt zurück und auch voraus: "Herzlichen Dank für alles. Bayreuth existiert wie eh und je, als Wagner-Kirche, als Publikumsmagnet. Als Operninstitut höchster Qualität geriet es in Bedrängnis. Auf den Nachfolgern lastet Schweres." Reinhard J. Brembeck stellt eine neue Arte-Doku über Bayreuth vor.

Weitere Artikel: Wolfgang Schreiber zieht eine durchaus positive Salzburg-Musik-Bilanz und lobt insbesondere den Leiter der Festspiele, den "Unwichtigtuer" Jürgen Flimm. Christine Dössel resümiert das Salzburger Schauspiel-Jahr. Der Schriftsteller Georg Klein liefert erste Notizen aus Nowosibirsk, wo er sich auf Einladung des Goethe-Instituts aufhält.

Besprochen werden das Berliner Madonna-Konzert, Michael Thalheimers "Was ihr wollt" zur Saisoneröffnung am Deutschen Theater Berlin, Buket Alakus Film "Finnischer Tango" und Bücher, nämlich Oswald Kolles Autobiografie und Uwe Timms neuer Roman "Halbschatten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende nähert sich Wolfgang Roth der möglichen CSU-Dämmerung mit Heimito von Doderers Oberamtsratsfigur Julius Zihal. Rebecca Casati stellt den Filmregisseur Niko von Glasow und seinen neuen Film "Nobody's Perfect" vor, eine Dokumentation über Contergan-Geschädigte. Auf der Historienseite wird in der Serie über Enthüllungsjournalismus an Ida Tardell erinnert, die die Machenschaften von John Rockefeller anprangerte. Im Interview spricht Renate Künast über Männer.

Welt, 30.08.2008

Der Althistoriker Wolfgang Schuller reitet in der Literarischen Welt eine Attacke gegen Raoul Schrotts Übersetzung der "Ilias". Die in den Text eingestreuten "Schrottiana" wie "Weichei" oder "Standpauke" kommen ihm nicht flott, sondern fehlerhaft vor. "Vieles ist einfach falsch übersetzt - Athena macht dem Menelaos natürlich keine Beine, sondern verleiht ihm umgekehrt Stärke -, anderes hat die der Situation angemessene und bei Homer auch so ausgedrückte Tonlage völlig verfehlt, wieder anderes steht einfach nicht im Text, sondern entspringt der volkstümlichen oder der etwas erhitzten Fantasie des Autors. Gewiss, Bettpfosten wackeln gelegentlich in bestimmten durchaus erfreulichen Situationen - Schrott hätte sie auch knarren lassen können -, aber Homer sagt nur, dass Helena mit Paris im Bett ruht."

Bei Michael Thalheimers "Was ihr wollt" am Deutschen Theater in Berlin ist das Matschfeld auf der Bühne das Tiefgründigste, das Matthias Heine in seiner Besprechung im Feuilleton erblickt. Dazu trägt auch der luftige Spielort bei. "In so einem Zelt (ausgeliehen vom Thalia-Theater in Hamburg) ist das Publikum ohnehin gleich mehr auf Unterhaltung gestimmt, und während von draußen die Geräusche vorbeifahrender Lastwagen hereindringen, gerät die Subtilität an ihre Grenzen.

Ansonsten gibt es nicht viel in dieser mageren Ausgabe. Hanns-Georg Rodek verkündet die Kinopläne der Ufa. Michael Pilz lässt sich von Madonnas Berliner Konzert einlullen. Und natürlich ist da auch noch die Ausstellung über Kirchenreliquien im Vorarlberger Landesmuseum in Bregenz.

FAZ, 30.08.2008

Henryk M. Broder antwortet heute Patrick Bahners, der diesem vorgehalten hatte, unzulässig und auch unautorisiert in Fragen zu Israel den Antisemitismus-Vorwurf zu erheben. Zurecht sei Broder von Evelyn Hecht-Galinski verklagt worden, denn er schränke die Meinungsfreiheit ein (wir berichteten). Broder sieht das anders: "Soll ein Gericht darüber entscheiden, wo Israel-Kritik aufhört und wo Antisemitismus anfängt? Oder hat Bahners einen zuverlässigen Lackmustest für diese Frage entwickelt? ... Diese 'Antisemitismus-Keule' gibt es tatsächlich, nur dient sie nicht dazu, Israel-Kritiker einzuschüchtern, die ganz munter und ungeniert agieren, sie dient primär dazu, die Debatte über einen Antisemitismus zu verhindern, der smarter und subtiler ist als derjenige, den die Nazis praktiziert haben. Wie jedes Ressentiment geht auch der Antisemitismus mit der Zeit. Sich von dem Antisemitismus der Nazis zu distanzieren, ist heute eine der Voraussetzungen, um einen sauberen Antisemitismus praktizieren zu können."

Weiteres: Schriftsteller Martin Mosebach erzählt von einer Georgien-Reise, bei der er unter anderem erlebte wie Präsident Saakaschwili bei einer Messe vor dem Patriarchen auf die Knie ging. Dieter Bartetzko erkennt beim Besuch des neuen Römermuseums in Xanten die bestehende Gültigkeit von Vitruvs Grundgesetz der Baukunst. In der Randspalte kündigt Andreas Rossmann gesteigerte Bauaktivitäten in Köln an. In der Geschmackssachen-Kolumne analysiert Jürgen Dollase die postmolekulare Präzisionsarbeit des belgischen Kochs Sang Hoon Degeimbre. In der Reihe zu den besten Kafka-Sätze variiert heute Charles Simic über den Satz "Ein Käfig ging einen Vogel suchen." Verena Lueken hat in Venedig Filme von Takeshi Kitano, Barbet Schroeder und Guillermo Arriaga gesehen. Mahret Kupka meldet neu aus der Haute Couture, was die Berliner schon immer wussten: Unter dem Mantel kann auch ein Pyjama getragen werden. Joseph Croitoru blättert in osteuropäischen Zeitschriften. Melanie Mühl erzählt die Geschichte einer Bärenfamilie.

Auf der Medienseite resümiert Michael Hanfeld ein wenig entsetzt Maybrit Illners Polittalk zu Georgien: "Die Fragen der Moderatorin machten einen ratlosen Eindruck. Tenor: Man weiß ja gar nicht genau, was in Georgien vorgeht. Der eine sagt dies, der andere sagt das, und vielleicht könne man ja doch Verständnis für die Russen haben. Eine solche Haltung zu befördern, darin liegt der Erfolg der russischen Propaganda dieser Tage. Nur nicht die Frage stellen, wieso sich die 'Friedenstruppen' in Georgien eingegraben, die Infrastruktur zerstört und eine Massenflucht verursacht haben."

Besprochen werden Madonnas Konzert im Berliner Olympiastadion, Brian Wilsons Album "That Lucky Old Sun", Aimee Manns neue CD "@#%&! Smilers" und eine Aufnahme von Schuberts "Sakontala" und Bücher, darunter Ingeborg Bachmanns und Paul Celans Briefwechsel "Herzzeit" und Elizabeth Maguires Roman "Fenimore" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Bilder und Zeiten annonciert Hubert Spiegel den neuen Roman "Das Museum der Unschuld" von Orhan Pamuk. Christoph Ransmayr erzählt, wie er mit dem Fotografen und Künstler Willy Puchner die Lebensgeschichten von Tieren ergründete.

In der Frankfurter Anthologie stellt Joseph Anton Kruse Peter Rühmkorfs Gedicht "Vom Zielen und vom Zittern" vor:

"Das Leiden denkt, es würde es ewig währen.
Im Gegensatz zu unserer lieben Lust -
Die ist sich ihrer Endlichkeit bewusst..."