Heute in den Feuilletons

Stimme im verfremdeten Prozess

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2008. In der FR lobt Ulrich Beck die Religion: Befreit sie uns doch aus nationalen Containern. In der NZZ lobt Sadiq Al Azm den Kommerz: Befreit er uns doch aus religiösen Containern. In Georgien geht's um Europa, meinen Andre Glucksmann und Bernard-Henri Levy in Liberation, aber Europa liegt im Koma. Der Welt graut jetzt schon vor dem Buchmessenland China im Jahr 2009. Und vor der Eröffnung der Berlinale 2009.

NZZ, 15.08.2008

Der syrische Philosoph Sadik Jalal al-Azm proklamiert für den muslimischen Glauben einen dritten Weg zwischen Radikalismus und Staatsislam: "Letztlich gibt es einen kommerziellen Islam der Mittelklasse, der sich vor allem in den Bourgeoisien muslimischer Länder findet. Er ist durch eine ganze Anzahl von Institutionen vertreten, etwa Handels-, Industrie- und Gewerbekammern oder die Zweige des islamischen Bankgeschäfts. Da diese Mittelklasse in den betreffenden Ländern das Rückgrat der Zivilgesellschaft darstellt, dürfte dieser Islam generell zum Islam der muslimischen Zivilgesellschaft werden. Es ist ein moderates, konservatives Islamverständnis, das den Gang der Geschäfte nicht stört. Es schreckt vor linken Weltverbesserern ebenso zurück wie vor radikalislamischen Eiferern."

Weiteres: Peter Hagmann berichtet von der Eröffnung des Lucerne Festivals. Georges Waser freut sich über Frank Gehrys Serpentine Gallery Pavillon, weil nun auch England zum Gehry-Land gehört. Jonathan Fischer porträtiert den ehemaligen Vorstadt-Sprayer, Modedesigner und Pop-Star Marc Ecko. Besprochen werden eine Ausstellung über Renaissance-Porträtkunst im Museo del Prado in Madrid und die CD-Compilation "Sweet Soul Music".

Auf der Medienseite denkt Horst Pöttker, Professor für Journalistik an der Universität Dortmund, darüber nach, bis zu welchem Grad folgende journalistische Regeln notwendig und ab wann sie kontraproduktiv sind: Trennung von redaktionellem Teil und Werbung, Trennung von Dokumentation und Fiktion, Trennung von Nachricht und Kommentar. Set. stellt das Internet-Projekt Wuala vor, das ab Donnerstag einen Online-Speicherdienst anbietet, der die Festplatten der Kunden als Datenspeicher nutzt.

Weitere Medien, 15.08.2008

In Georgien geht's um Europa, das sich klar gegen Russland positionieren muss, meinen Andre Glucksmann und Bernard-Henri Levy in einem gemeinsamen Artikel für Liberation: "Der Generalstab im Kreml hat nie an die Existenz einer 'Europäischen Union' geglaubt. Er behauptet, dass unter den schönen Reden aus Brüssel die jahrhundertealten Rivalitäten und nationalen Identitäten lauern, die er gnadenlos manipulieren und zu gegenseitiger Lähmung führen kann. Europa, das einst gegen den Eisernen Vorhang gebaut wurde, gegen die Faschismen von einst und jetzt, gegen seine eigenen Kolonialkriege, Europa, das den Mauerfall und die Samtene Revolution gefeiert hat, befindet sich am Rande des Komas. 1945-2008..."

Die Jungle World hat jetzt ihr Dossier über über den UN-Menschenrechtsrat aus der letzten Woche online gestellt. Alex Feuerherdt schreibt über die Nachfolgekonferenz zu Durban (gegen die sich im Perlentaucher auch Pascal Bruckner wandte und nun eine Petition kursiert) und trägt einige Details zur Zusammensetzung des Gremiums zusammen: "Den Vorsitz des Vorbereitungskomitees hat bezeichnenderweise Li­byen inne - ein Land, dessen Regierung die Men­schenrechte fortwährend eklatant verletzt und ihren 'Gaddafi-Preis', die höchste staatliche Auszeichnung, auch schon mal einem notorischen Antisemiten und verurteilten Holocaustleugner wie dem Franzosen Roger Garaudy verleiht. Einer der stellvertretenden Vorsitzenden ist darüber hinaus der ständige Vertreter des Iran bei der Uno, Alireza Moaiyeri, ein Repräsentant des Teheraner Mullah-Regimes." Außerdem interviewt Ivo Bozic, den UN-Kritiker Hillel Neuer von der Organisation UN-Watch.

Der Guardian greift die schnell wieder abgeflaute deutsche Erregung um Kafkas angebliche Pornos auf und zitiert unter anderem den Kafka-Biografen Reiner Stach. "Reiner Stach, a Kafka biographer, said the furore surrounding the book was an 'unbelievable marketing ploy'. No one had ever said Kafka was pure and chaste, but the 'pornographic' pictures were 'playful representations, some styled like caricatures'." In Spiegel Online hat Anjana Shrivastava dem Autor James Hawes, auf den der Hype zurückgeht, gar Antisemitismus vorgeworfen.

FR, 15.08.2008

In einem sehr persönlichen Artikel feiert Peter Iden die Autorin Joan Didion und ihren Monolog "Das Jahr magischen Denkens" über den Tod ihres Ehemanns, und er feiert Vanessa Redgrave, die den Text in einer Bühnenversion in Salzburg vortrug: "Die Leistung der Schauspielerin sucht ihresgleichen. Vanessa Redgrave, hochgewachsen, das Haar streng nach hinten gebunden (später wird sie es einmal öffnen), graue Hosen, helles Oberteil, nimmt sich den Text mit Entschiedenheit und Energie. Keine Spur von lastendem Pathos, kein Versinken in aufgesetzten Jammer... Der Auftritt der Redgrave ist für viele Schauspieler ein Lehrstück über ihre Kunst. Zu erleben ist, welche Genauigkeit, welche Konzentration der Einlassung auf einen Text sie verlangt, wieviel Reflexion und Mut, sich extremsten Erfahrungen zu stellen, wieviel an Einsicht in das Leben; und in den Schmerz, den es immer einschließt."

Ein sehr langes Gespräch hat Arno Widmann mit dem Soziologen Ulrich Beck über die Thesen seines neuen Buchs "Der eigene Gott" geführt. Beck betont die positiven Seiten der Religion: "Tief in der Religion vergraben liegt offenbar ein Gesellschaftsbegriff, der für uns, die wir nicht mehr allein in nationalen Containern denken wollen, sehr wichtig werden könnte."

Weitere Artikel: In einer Times Mager kommentiert Christian Schlüter die Aufnahme des Bundesverbands der Computerspiele-Entwickler in den Deutschen Kulturrat.

Besprochen werden ein Konzert des Hilliard-Ensemble im Kloster Eberbach, das Album "Puerto Rican Nights" von Boom Pam, die Ausstellung "50 Jahre Verlust und Rückgabe" in der Bildergalerie von Sanssouci und Martin Lohmanns Buch "Etikettenschwindel Familienpolitik" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 15.08.2008

Wolfgang Fuhrmann berichtet von einer juristischen Offensive Katharina Wagners und ihrer Halbschwester Eva Wagner-Pasquier. Die FAZ und 3sat hatten das Bayreuth-Konzept der beiden auf ihren Internetseiten veröffentlicht, mussten es aber wieder entfernen. "Eva Wagner-Pasquiers Anwalt Peter Raue und der Anwalt der Bayreuther Festspiele, Stefan Müller, hatten Einstweilige Verfügungen erwirkt. Zudem, hört man, seien die Musikredakteurin der FAZ, Julia Spinola, und der Redaktionsleiter von 3sat Kulturzeit, Armin Conrad, am vergangenen Wochenende von Anwaltsseite angerufen worden. Dabei soll es auch um persönliche Forderungen gegen die Redakteure auf Schadenersatz in sechsstelliger Höhe gegangen sein, weil Urheberrechte und 'Dienstgeheimnisse' verletzt worden seien. Die Redakteure wollen sich offiziell dazu nicht äußern." Nike Wagner, deren Konzept ebenfalls veröffentlicht wurde, hat dagegen nichts unternommen.

Welt, 15.08.2008

Uwe Wittstock will nach den Pekinger Zensurerfahrungen nicht unbedingt die Entscheidung der Buchmesse in Frage stellen, China 2009 zum Gastland zu machen, aber etwas bedenklich wird ihm schon: "Die Messe lässt sich bei ihren Entscheidungen vom Außenministerium beraten, trifft sie aber allein. Nachdem sie getroffen sind, bleiben ihr jedoch kaum Einflussmöglichkeiten, falls das eingeladene Land Absprachen und Verträge anders interpretiert als die Messe. Den Eklat einer Ausladung des Gastlandes wird sie kaum riskieren."

Weitere Artikel: Tilman Krause fragt, ob das "Sophistications-Niveau" des in der Zeit veröffentlichten Fragments aus Nabokovs nachgelassenen Roman "Laura" an frühere Werke heranreicht, scheint aber mit den Darstellungen von "Weibes Wonne und Wert" wenig anfangen zu können. Hanns-Georg Rodek bekennt in der Leitglosse sein Mitgefühl für Berlinale-Leiter Kosslick: Der Fox-Verleih hat den Starttermin des "Stauffenberg-Films von Couragebambi Tom Cruise genau auf den ersten Tag der Berlinale gelegt, so dass er gewissermaßen automatisch zum Eröffnungsfilm wird, und nun kommt die Meldung, dass er in den USA auch noch Wochen vorher startet, so dass der Berlinale die Exklusivität genommen ist. Gerhard Midding gratuliert dem Regisseur Nicolas Roeg zum Achtzigsten. Uta Baier erinnert sich an den Tag, vor fünfzig Jahren als die Sowjetunion eine Million Beutekunstwerke an die DDR zurückgab, während weitere Millionen Werke und Bücher bis heute in Russland zurückblieben. Und Hendrik Werner staunt über die New York Times, die nach 48 Jahren eine falsche Besetzungsangabe in einer Musical-Rezension korrigierte.

Besprochen werden Aufführungen des Rossini-Festivals in Pesaro.

TAZ, 15.08.2008

Sebastian Reier porträtiert die norwegische Avantgarde-Musikerin Maja Ratkje: "Zwischen zeitgenössischer Klassik, Brecht, Deathmetal und Weill, dem interaktiven Abenteuer der Improvisation und der Geräuschmusik fliegt ihr Instrument umher: Die menschliche Stimme. Mal ertönt sie als Gesang, dann wieder als Geräusch oder Stimme im verfremdeten Prozess. Selbst wenn es nur noch piept und surrt - in ihrer Stimme lebt immer Poesie."

Besprochen werden das Album "Chemical Chords" von Stereolab und Roland Barthes' Vorlesungen "Die Vorbereitung des Romans" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Meinungsseite denkt der Politologe Claus Leggewie darüber nach, wie links oder rechts Umweltschutz ist und was es bedeutet, dass sich nun auch die amerikanischen Evangelikalen den Kampf gegen den Klimawandel auf die Fahnen geschrieben haben. Auf der Medienseite stellt Katrin Weber-Klever zum Auftakt der Bundesliga das Grundrecht auf die samstägliche Sportschau in Frage.

Und hier Tom
(Kann in der taz bitte mal jemand die Verlinkung von der digitaz auf Tom korrigieren!! Sie funktioniert schon seit Tagen nicht!!!)

Tagesspiegel, 15.08.2008

Kann man heute noch an Pop glauben, fragt Christian Schröder. Antwort von Diedrich Diederichsen: "Dass Pop ein Gegenentwurf zum Ganzen sein könnte, daran kann man schon seit ungefähr 20 Jahren nicht mehr glauben. Aber die umgekehrte Diagnose, dass es sich bei Pop um ein ganz besonders perfides Mittel der Unterwerfung handeln müsse, ist genauso falsch. Viele Elemente der kulturellen Ordnung Pop haben sich weitgehend durchgesetzt. Zum Beispiel die Grundsatzfrage, die immer an Werke der Pop-Musik gestellt wird: Was ist das eigentlich für ein Typ, der das gerade spielt, wie sieht der aus, was will der? Diese Frage wird inzwischen an alle Kulturereignisse gestellt."

FAZ, 15.08.2008

Eine traurige, eine wütende und eine alle Schuld sehr eindeutig bei Russland verortende Einschätzung des Krieges bietet der in Tiflis lebende georgische Autor Alexander Darchiashvili: "Russland hasst das demokratische und blühende Georgien, weil es einen gefährlichen Präzedenzfall für den ganzen postsowjetischen Raum geschaffen hat. Russland braucht ein schwaches, uneiniges und zerstückeltes Georgien. Die russischen Machthaber hassen unseren Präsidenten Saakaschwili, denn sie halten ihn - zu Recht - für den Urheber und Antreiber aller positiven Veränderungen, die im Land in den letzten Jahren stattgefunden haben, für seine westliche Orientierung, für sein Bestreben, der Nato beizutreten, für die Integration in die Euro-Strukturen."

Wenig verspricht sich Michael Maar von Vladimir Nabokovs letztem Manuskript, das nun doch nicht dem Feuer, sondern der Öffentlichkeit übergeben wird: "Es sind 138 Karteikarten ohne jede Organisation. Nabokov ist immer für eine Überraschung gut, aber in seinem Spätwerk nehmen die Schwächen zu. Er wäre ein Wunder, wenn sich die Kurve noch kurz vor seiner Agonie gedreht hätte."

Weitere Artikel: Max Nyffeler hat sich mit den Komponisten Pierre Boulez und George Benjamin - beide in diesem Jahr Composer-in-Residence beim Lucerne Festival - über ihren Lehrer Olivier Messiaen unterhalten. Dieter Bartetzko lässt hundertzwanzig Jahre Geschichte des Frankfurter Hauptbahnhofs Revue passieren. In der Glosse schildert Hubert Spiegel, wie es kommt, dass Frau von Stein in Weimar demnächst wahrscheinlich Besuch von Salvador Dali bekommt. Catherine Grim stellt uns den Schwarzen Kiefernprachtkäfer vor (so prächtig ist er auf den ersten Blick aber nicht). Uwe Walter gratuliert dem Altphilologen Carl Joachim Classen zum Achtzigsten. Auf der Medienseite meldet Dirk Schümer italienische Freude über das wachsende Ansehen Silvio Berlusconis bei ausländischen Medien.

Besprochen werden die Eröffnung des Lucerne Festivals mit einem Konzert unter Leitung von Claudio Abbado, ein Berliner Sigur-Ros-Konzert, Otmar Schmiderers Dokumentarfilm "Back to Africa" und Bücher, darunter Hanns Zischlers und Sara Danius' Essay "Nase für Neuigkeiten. Vermischte Nachrichten von James Joyce" und ein Band mit postum versammelten Texten Niklas Luhmanns "Die Moral der Gesellschaft" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 15.08.2008

Keine Süddeutsche heute. Die Bayern feiern Mariä Himmelfahrt. "Vom Bayrischen Wald bis Oberbayern, von Österreich bis Südtirol, überall wird am 15. August der große Frauentag zu Ehren der Aufnahme Marias in den Himmel begangen. Wohl selten mischen sich Tradition und Frömmigkeit, Volksglaube und zeitnahe Religiösität, verbunden mit der Notwendigkeit Werterhaltendes zu bewahren, so sehr wie an diesem Feiertag. Wer will ihn da abschaffen?", fragt eine besorgte Seele im Internet. Dieselben Leute, die Buß- und Bettag als Feiertag abgeschafft haben?