Heute in den Feuilletons

Malerei mit Menschenmassen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2008. In der Welt erklärt Orlando Figes, warum Russlands Intelligenzija heute entweder korrupt oder mafiös ist. Die SZ sieht Kairo auf dem Weg, ein Unterwassermuseum zu werden. In der Berliner Zeitung stellt Leonardo Padura klar, warum die Kubaner die Besten beim Sex sind. Spiegel Online bewundert Chinas Menschenführung.

Welt, 09.08.2008

Für die Literarische Welt hat Jacques Schuster den britischen Historiker Orlando Figes getroffen, der in seinem Buch "Die Flüsterer" das alltägliche Leben unter Stalin erkundet: "'Ich habe es immer als zutiefst ungerecht empfunden, den heutigen Russen vorzuwerfen, sie würden alles nur schweigend hinnehmen. Wer als Russe das 20. Jahrhundert durchlitten hat, der hat gelernt, seinen Mund zu halten, der wagt es nicht, sofort protestierend auf die Straße zu gehen.' Das heutige Russland bestehe aus wunderbaren Menschen, die schwer arbeiteten. Ein Bürgertum im guten Sinne des Wortes aber gebe es nicht. 'Und das wird es auch in absehbarer Zeit nicht geben.' Ist Russland heute 'eine Nation aufdringlicher Kleinbauern', weil seine Elite ermordet wurde, wie es ein russischer Exil-Schriftsteller kürzlich erklärte? 'Jedenfalls entstammt seine Intelligenzija heute entweder dem alten System oder der Mafia', erwidert Figes."

Außerdem stellen SchriftstellerInnen ihre liebste nichtolympische Disziplin vor. Abgedruckt wird ein Auszug aus Fritz Stern Buch "Der Westen im 20. Jahrhundert".

Im Feuilleton: Im Interview mit Hanns-Georg Rodek erklärt der russische Regisseur Sergej Bodrow, wie er zu seinem positiveren Bild von Dschingis Khan kommt, wobei er sich auch auf den Historiker Lew Gumiljow bezieht, den Sohn der Dichterin Anna Achmatowa: "Ein Großteil der Berichte über Dschingis Khan stammt von seinen Feinden und muss deshalb mit Skepsis gelesen werden. Dann die Zahlen. 'Die Mongolen griffen mit einer Million Kriegern an'. Unsinn: Von einer großen Schlacht weiß man, dass 20 000 Mongolen gegen 80 000 Russen kämpften. 'Die Mongolen brachten Millionen Russen um.' Im 13. Jahrhundert hatte Russland nur sechs Millionen Einwohner, da wäre kaum einer übrig geblieben."

Weitere Artikel: Als Sensation des Jahres preist Matthias Heine den Comic "Ein neues Land? des australischen Zeichners Shaun Tan, der ganz ohne Worte eine Geschichte der Einwanderung erzählt. In der Randspalte machte sich Hendrik Werner an die Entrümpelung des Amtsdeutschs. Michael Pilz schwärmt vom "überwältigenden Kitsch" der Seattle-Band Fleet Foxes. Iris Leithold verkündet, dass Schwerins Oudry-Menagerie bald komplett ist. Gemeldet wird, dass die Wagner-Schwestern ihr Bayreuth-Konzept vorgelegt haben. Tilman Krause besichtigt das Museum des Dichters und Psychotherapeuten Justinus Kerner in Weinsberg. Thomas Hahn setzt auf Neapels Theaterfestival, um der Stadt auf die Sprünge zu helfen.

TAZ, 09.08.2008

Jörg Sundermeier kommentiert das "Geschrei" über den Fund pornografischer Schriften in Kafkas Bücherschrank, das viel mit einem beharrlich verteidigten öffentlichen Kafka-Bild "als schöner trauriger Toter" zu tun habe. "Dennoch nutzen einige Kollegen die Gelegenheit, um festzustellen, dass Kafka 'kein Heiliger? gewesen sei. Das wiederum ist interessant. Man weiß, dass Kafka Bordellbesucher war, er hatte Liebesbeziehungen mit vielen Frauen, nun könnte es zudem sein, dass er daheim auch masturbiert hat. Wer aber, außer der Papst selbstredend, tut das denn nicht?"

Weitere Artikel: Susanne Messmer unterhält sich mit Christian Y. Schmidt über dessen Chinareise, auf der er unter anderem überprüfen wollte, ob er Chinese werden könnte, und über das dazugehörige Buch "Allein unter 1,3 Milliarden - eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu". Hannah Pilarczyk porträtiert die amerikanische Band Black Kids und stellt deren Debütalbum "Partie Traumatic" vor.

Im tazmag beschreibt Nina Apin, wie sich das Berliner Kunsthaus Tacheles, einst Nachwende-Hort einer wilden Off-Szene, inzwischen selbst zerfleischt. Auf der Medienseite informiert Stefan Kuzmany über den Themen- und Namenswechsel der SZ-Kolumne von Axel Hacke. Und auf der Meinungsseite erklärt der Politikwissenschaftler Franz Walter, weshalb das Rechts-Links-Gerede in der SPD absurd ist, und was der Partei wirklich fehlt: ein Richtungsstreit.

Besprochen werden der neue Roman "Adam und Evelyn" von Ingo Schulze, die CDs "Schallillustrierte Erzählungen aus unvereinbaren Welten" von Mario Angelo und Katja Teubner, Rick Moodys Erzählungen "Paranoia" und der Band "Kosmopolitismus und Demokratie" mit Debattenbeiträgen der Philosophin Seyla Benhabib und anderen über die universelle Gültigkeit von Menschenrechten im Zusammenhang mit Migration (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 09.08.2008

"Wir alle sind verführbar", lautet die Kernaussage in einem ausführlichen Interview mit dem Psychologen Philip Zimbardo, Leiter des berühmten Gefängnis-Experiments von Stanford und jüngst Gutachter im Abu-Ghraib-Folterprozess, über die Psychologie des Bösen. Befragt nach seiner größten Angst antwortet er am Ende des Gesprächs: "Dass die Republikaner die Macht in Amerika behalten. Sie zerstören Amerika. Die Angst vor Terrorismus ist schlimmer als Terrorismus. Inzwischen sind all diese faschistischen Methoden, vom Abhören über Guantanamo bis Abu Ghraib, akzeptiert. Und das im Namen der Demokratie."

Im Feuilleton würdigt der Theologe Gerd Lüdemann in einer durchaus kritischen Betrachtung zum Paulusjahr den Gründer des Christentums, Paulus von Tarsus, der auch "entscheidende Anstöße" zum christlichen Antijudaismus gegeben habe. "Ohne Paulus und seine Schüler wäre das Judentum nicht an den Abgrund geführt worden." In Times mager erklärt Sylvia Staude, was es mit dem Shakespeare-Kick in unserem Gehirn auf sich hat. In ihrer Kolumne kommentiert Marcia Pally das Urteil gegen den Osama-bin-Laden-Fahrer Salim Ahmed Hamdan. Auf der Medienseite gratuliert Tilmann P. Gangloff dem Journalisten Gerd Ruge zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die "gescheiterte" Ausstellung zum Nürnberger Zeppelinfeld "Das Gelände" in der dortigen Kunsthalle, zwei Beethoven-Einspielungen des Dirigenten Gustav Kuhn und der Roman "Adam und Evelyn" von Ingo Schulze (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 09.08.2008

Gelangweilt hat sich Matthias Matussek bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking offenbar nicht: "Genauer ist da wohl selten hingeschaut worden bei einer olympischen Eröffnungszeremonie: Was bringen sie, was lassen sie aus, wie steht es um die Menschenrechte in der Farbgebung, und welche Rückschlüsse lassen die Feuerwerke auf die Tibetfrage zu? Antwort: Alles wie immer, nur wuchtiger. Olympische Eröffnungszeremonien zeigen nun einmal marschierende Menschenblöcke, und die chinesische zeigte ein paar mehr. Viele mehr. Tatsächlich, man muss es schon sagen: Die Malerei mit Menschenmassen können sie einfach, die Diktaturen, da sitzt jeder Kampfschrei, jede Wellenchoreographie, jeder Freudenausbruch, vom ersten Trommelschlag bis zum letzten bunten Ringelreihen."

NZZ, 09.08.2008

Im Feuilleton warnt Ludger Lütkehaus, der selbst schon im Himalaja unterwegs war, vor der leichtfertigen Besteigung der höchsten Berge. Einen "unerhörten Einstieg" in den Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno bot "Parque via", das Filmdebüt des in Spanien geborenen Regisseurs Enrique Rivero, schreibt Claudia Schwartz. Für Peter Hagmann war Johan Simons' Salzburger Inszenierung von Bartoks Oper "Herzog Blaubarts Burg" eine "peinliche Farce". Die Frage, "Was ist schweizerisch? " beantwortet heute die Kunsthistorikerin Bice Curiger mit: Die Kultur des Pragmatismus.

In Literatur und Kunst meint Ursula Pia Jauch anlässlich des 75. Jahrestags der Bücherverbrennung in Deutschland: "Bücherverbrennungen sind die beste Form einer positiven Negativwerbung für Ideen." Jost Kirchgraber erinnert daran, wie im 17. Jahrhundert in Toggenburg Bücher öffentlich verbrannt wurden, die sich gegen die Katholische Kirche richteten. Für die Bildansichten betrachtet Michel Mettler Hieronymus Boschs Gemälde "Der Gaukler". Besprochen werden Bücher, darunter die Kindheitserinnerungen und der letzte Band der Tagebücher von Virginia Woolf (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 09.08.2008

Der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura erklärt im Interview seine Theorie der Unverhältnismäßigkeit: "Kuba ist ein Land, das größer ist als die Insel selbst. Seit dem Unabhängigkeitskampf im 19. Jahrhundert ist das Land überproportional auf der Weltbühne präsent - gemessen an seiner Bevölkerungszahl und realen Größe. ... Wir Kubaner haben diese Unverhältnismäßigkeit mittlerweile geschluckt und tendieren deshalb dazu, uns selbst zu überschätzen: Wir halten uns für die Besten beim Sex und beim Tanz, wir sind - nicht wahr? - außerordentlich intelligent und gebildet, wir besitzen ein beispielhaftes Gesundheitssystem. Genau das sagt zwar auch die offizielle Propaganda, aber es scheint uns nur angemessen, denn wir glauben ja längst selbst daran." Jetzt aber sei "ein Aspekt hinzugekommen, den ich die historische Ermüdung nenne".

SZ, 09.08.2008

In der Reihe "Wetterbericht" zum Klimawandel beschreibt die in Kairo lebende amerikanische Autorin Maria Golia die Aussichten für Ägypten: "Merkwürdigerweise wird selten erwähnt, dass Ägyptens Mittelmeerküste verschwindet, was man als das 'Große Debakel' bezeichnen könnte.Vor fünfzig Jahren boten die Strände Alexandrias noch Tausenden herumtollenden Ägyptern Platz. Heute erreicht das Meer die Uferstraße, unsere 'Corniche'. An windigen Tagen überzieht der Schaum der sich brechenden Wellen die Fußgänger mit einem feinen, salzigen Schleier. Seriösen Schätzungen zufolge könnte noch in diesem Jahrhundert die ganze Stadt zu einem Unterwassermuseum werden."

Weiteres: "Was weiß die Wissenschaft vom Ich?" heißt eine neue Serie, die heute mit einem Beitrag des Berliner Philosophieprofessors Michael Pauen startet. Über die Zukunft der Hirnforschung schreibt er, dass sie "vermutlich etwas weniger spektakulär ausfallen" wird als angenommen. Wolfgang Schreiber fasst das gemeinsame Bewerbungskonzept der Wagner-Urenkelinnen Eva Wagner-Pasquier und Katharina Wagner zusammen, das ebenso wie das ihrer Konkurrentin Nike Wagner von 3Sat ins Netz gestellt und nach anwaltlichem Einschreiten wieder entfernt wurde (mehr dazu hier). Tobias Lehmkuhl berichtet über einen Streit in Berlin; Gegenstand ist eine Broschüre des Bildungssenators, dem man die Kapitulation vor islamistischen Hardlinern vorwirft. Henning Klüver informiert über unruhige Zeiten in der italienischen Opernlandschaft. Hans Maier gratuliert dem Organisten Franz Lehndorfer zum 80. Geburtstag. Gerhard Matzig würdigt in einem Nachruf den legendären Karosseriebauer und Autodesigner Andrea Pininfarina. Laura Weißmüller erklärt das Modell Produzentengalerie. Die Kunstmarktseite berichtet über die zweite Ausgabe der Salzburger World Fine Art Fair. Gemeldet wird eine aus Angst vor islamistischer Gewalt von Random House gestoppte Buchveröffentlichung.

Besprochen werden der Film "Der Mongole", erster Teil der Dschingis-Kahn-Trilogie von Sergej Bodrow, eine Aufführung von Brechts Polit-Kantate "Die Maßnahme" bei den Salzburger Festspielen und Bücher, darunter Ingo Schulzes Roman "Adam und Evelyn" und die Erinnerungen von Hitlers Telefonist Rochus Misch "Der letzte Zeuge" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 09.08.2008

Niklas Maak lobt den Berliner Neubau der Böll-Stiftung, den das Schweizer Architekturbüro Eckert & Eckert (E2A, mit für Architekten typischer dysfunktionaler flash-Adresse) entworfen hat. Kkr. informiert uns in der Leitglosse, dass der türkische Staatspräsident Abdullah Gül nur Hochschulrektoren ernannt hat, die nicht gegen das Kopftuch an den Universitäten protestiert hatten. Julia Spinola stellt zwei Konzepte für die Bayreuther Festspiele vor: das eine von Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier verfasst, das andere von Nike Wagner und Eva Wagner-Pasquier verfasst. Jürgen Dollase speist in der "Auberge de l'Ill", die heute von von Paul Haeberlins Sohn Marc geleitet wird. Rainer Blasius schreibt zum Siebzigsten des Historikers Henning Köhler. Für die letzte Seite wandert Dirk Schümer die ehemalige Grenze zwischen Ost und Wes in der Rhön entlang. Auf der Medienseite zeigt sich hie. ganz zufrieden mit dem Eröffnungsspektakel der Olympischen Spiele - vor allem, weil der Kommunismus ausgespart war.

Im Aufmacher von Bilder und Zeiten schreibt Andrea Stoll über den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Tilman Spreckelsen besucht den deutschen Illustrator Axel Scheffler in London. Jochen Hieber studiert die Fußballzeitschrift Kicker. Rupert Everett erklärt im Interview, warum er doch nicht der neue "fat guy" des britischen Kinos wurde: " Ich bekam plötzlich eine Heidenangst vor drohenden Krampfadern, Herzinfarkten und Hämorrhoiden."

Besprochen werden ein Berliner Konzert von Indietronic und Bücher, darunter Ingo Schulzes Roman "Adam und Evelyn" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine CD mit Aufnahmen von Schönberg- und Berg-Werken, die Christina Schäfer und das Alban Berg Quartett aufgenommen haben, sowie CDs von Randy Newman und Guilty Simpson.

In der Frankfurter Anthologie stellt Harald Hartung ein Gedicht von Erich Fried vor:

"Begräbnis meines Vaters

Am Judenfriedhof ist viel Land umbrochen,
und Sarg um Sarg kommt, und die Sonne scheint.
Der Pfleger sagt: So geht es schon seit Wochen.
..."