Heute in den Feuilletons

Der gute Westen, das böse China

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2008. Heute eröffnen die olympischen Spiele in Peking. Die Welt porträtiert den Regisseur des Spektakels Zhang Yimou. Die taz porträtiert die politisch Verfolgten Chinas. Die FAZ kann mit dieser westlichen Entweder-Oder-Moral nichts anfangen. Die NZZ sieht arabische Konservative mit Pop-Videos zur Weißglut gebracht. In der FR erinnert Arturo Arango an das stalinistische 1968 auf Kuba. Und in der SZ überschreitet Andrzej Stasiuk unbewachte Grenzen.

TAZ, 08.08.2008

"Zwischen 4.000 bis 10.000 Hinrichtungen im Jahr gibt es schätzungsweise, China richtet also weit mehr Menschen hin als alle anderen Staaten zusammen," erinnert die taz und präsentiert zur heutigen Eröffnung der olympischen Spiele hundert Porträts politisch Verfolgter: Umweltschützer, Tibeter, Menschenrechtler- oder Gewerkschafter wie Zhang Shanguang: "Nach zehn Jahren Gefängnis wurde der Exlehrer und Gewerkschaftsaktivist Zhang Shanguang am 21. Juli 2008 freigelassen. Das Foto zeigt ihn auf dem rechten Plakat bei einer Solidaritätsdemo in Hongkong. In der Haft verlor Zhang alle Zähne, bei einem früheren Gefängnisaufenthalt war er schon an Tuberkulose erkrankt. Er hatte im Mai 1989 eine unabhängige Gewerkschaft in Hunan gegründet und wurde nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nach der Freilassung 1998 sprach er zu ausländischen Medien und wollte erneut eine Gewerkschaft gründen."

Auf der Medienseite liefert Georg Blume den Beweis, dass die Olympia-Begeisterung der Chinesen nicht nur dem Nationalismus entspringt: "Der beim Publikum beliebteste Sport in China ist nicht etwa Tischtennis, wo die Chinesen immer gewinnen, sondern Fußball, wo die Chinesen immer verlieren."

Im Feuilleton berichtet Susanne Knaul, wie kontrovers Israel über Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" diskutiert, der nun auch dort erschienen ist. Gabriele Lesser meldet, dass Polen auch in Zukunft nicht mit der Unsitte aufhören will, Filme zu übersprechen statt zu synchronisieren. Tilman Baumgärtel beobachtet, wie sich die Kreativindustrie in Südostasien zu positionieren versucht, wo gerade die Medienkunst-Konferenz ISEA stattfand. Rene Hamann bespricht neue Folk-Pop-Platten.

Und Tom.

Welt, 08.08.2008

Rüdiger Suchsland verteidigt Chinas erfolgreichsten Regisseur Zhang Yimou, der die heutige Eröffnungsfeier von Olympia in Peking choreografiert: Unkritischer als das Historienspektakel "Hero" waren seine gefeierten Filme "Rotes Kornfeld" und "Die rote Laterne" auch nicht: "Ein Mann des Imperiums, wie jetzt manche suggerieren, ist Zhang keineswegs, so wenig, wie jedes Monumentalspektakel mit Massenornamenten, zumal bei einer Olympiaeröffnung, automatisch faschistisch sein muss. Aber er ist auch kein Dissident mehr, wie vor 20 Jahren. Dafür sind jetzt Jüngere zuständig. Zhang Yimou ist einfach ein stolzer Bürger seines Landes, und dort endlich integriert."

Hendrik Werner gibt Entwarnung: So schlimm steht es um Pompeji nicht, dass Berlusconi darüber den Notstand hätte verhängen müssen - es gibt nur ein paar Schwarzarbeiter und streunende Hunde. Eckhard Fuhr versichert in Sachen Überraschungsei den Kinderschutz der Unterstützung des Feuilletons und der Kulturkritik, "von Adorno bis Solschenizyn". Dankwart Guratzsch bedauert das Fehlen eines Masterplans für all die gute Architektur im Luxemburger Europaviertel. Ulrich Baron denkt über die sich selbst verschlingende urbane Zivilisation nach. Peter Zander schreibt zum Tod der Schauspielerin Eva Pflug alias Tamara Jagellovsk. Uta Baier gratuliert dem Kunsthistoriker Werner Hofmann zum Achtzigsten. Sven Kellerhoff erinnert daran, dass heute vor neunzig Jahren bei Amiens die deutschen Linien im Ersten Weltkrieg zusammenbrachen. Johanna Schmeller informiert über den aktuellen Stand zu Googles Erfassung der Bayerischen Staatsbibliothek. Manuel Brug bespricht die Salzburger Inszenierung von Bela Bartoks "Herzog Blaubarts Burg".

FAZ, 08.08.2008

Viele chinesische Intellektuelle fühlen sich vom Westen falsch verstanden, erfahren wir aus zwei mitfühlenden Artikeln in der FAZ.

Mark Siemons kritisiert die westliche Kritik an China aus Sicht chinesischer Intellektueller (er nennt allerdings keine Quelle außer einem Interview der New York Times mit dem Künstler Ai Wei Wei): "Sie monieren, dass viele im Westen die Veränderungsprozesse auf allen Ebenen der chinesischen Gesellschaft und Politik, die für ihr Ringen um mehr Rechte die tägliche Ausgangsbasis sind, gar nicht mitbekommen. Sosehr die Kommunistische Partei an ihrem Herrschafts- und Kontrollanspruch festhält, so sehr hat sich der Inhalt dessen, was Partei, Kommunismus, Kontrolle und Herrschaft bedeuten, verändert, was auf das gewöhnliche Leben sehr direkte Auswirkungen hat. Deshalb werfen die Kritiker dem Westen vor, mit seiner Entweder-oder-Moral die für Chinesen selbstverständlichen Ambiguitäten zu verfehlen, innerhalb deren sich ihre Kämpfe bewähren müssen".

Auf der Medienseite beklagt der Sportreporter Jiang Yi gegenüber Thilo Komma-Pöllath das schlechte Bild Chinas im Westen: "'Das ist so natürlich nicht richtig', sagt der siebenundzwanzigjährige Jiang Yi, einer der jungen Reporter von Sports Illustrated China in Peking. 'Es gibt immer noch viele Gründe, China zu kritisieren. Aber in den letzten Jahren hat eine Öffnung stattgefunden wie noch nie zuvor. Der gute Westen, das böse China, das ist nur noch ein Schwarzweiß-Klischee.'"

Weitere Artikel: Henning Ritter schreibt zum Achtzigsten des Kunsthistorikers Werner Hofmann. Marcus Jauer erklärt uns anlässlich der Olympiade, was ein Muskel ist und wie er gedopt wird. Thomas Scholz ist hin und weg von dem Computerspiel World of Warcraft. Christian Geyer höhnt über Wolfgang Clements jüngsten Fernsehauftritt. Auf der letzten Seite würdigt Sandra Kegel das Überraschungsei, das selbst in China ein Renner sei. Und der "Gen-Künstler" Karsten Knud Panzer versucht im Interview zu erklären, wie die Kunst bei der Genomentschlüsselung helfen kann.

Auf der Medienseite stellt Markus Bickel die libanesische Zeitung Al Akhbar vor, eine linke Tageszeitung mit Tendenz zur Hisbollah. Chefredakteur Khaled Saghieh beschreibt die Ausrichtung des Blattes so: "Die siebziger Jahre, als palästinensische, panarabische und kommunistische Gruppierungen politische Hegemonie im Kampf gegen den Imperialismus ausübten, sind vorbei - angesichts deren Schwäche bilden islamistische Bewegungen heute den natürlichen Bündnispartner der Linken."

Besprochen werden eine Retrospektive des Architekten Sep Ruf im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne, Bela Bartoks Oper "Herzog Blaubarts Burg" bei den Salzburger Festspielen, die Ausstellung "Künstler in der Irre" in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, die Ausstellung "Timm Rautert. No Photographing" im Regensburger Kunstforum Ostdeutsche Gallerie, Dror Shauls Kibbuzfilm "Sweet Mud" und Bücher, darunter Maximilian Dorners Tagebuch "Mein Dämon ist ein Stubenhocker" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 08.08.2008

Im Gespräch mit Justus Krüger spricht der Literaturnobelpreisträger Gao Xingjian über sein Verhältnis zu China und die Bedeutung von Künstlern und Intellektuellen: "Ich glaube, dass Kunst und Kultur die Politik und überhaupt pragmatische Erwägungen jeder Art transzendieren sollten. Sie sollten in diesem Sinne nutzlos sein, an der Jagd nach Nützlichkeit überhaupt nicht teilnehmen. Dieser Geist ist modernen, chinesischen Intellektuellen leider abhanden gekommen. Einerseits dienen sie sich zu sehr der Politik an. Andererseits neigen sie dazu, sich für die Schöpfer oder wenigstens die Designer der Gesellschaft zu halten. In Wirklichkeit gerät der Intellektuelle im Dienst der Politik in eine beklagenswerte Lage. Entweder wird er zum Werkzeug oder zum Opfer der politischen Macht, oder zu ihrem Ornament."
Stichwörter: China, Ornament, Jagd

FR, 08.08.2008

Ein 1968 gab es auch auf Kuba, erinnert der Schriftsteller Arturo Arango (mehr auf Spanisch), allerdings in Form einer stalinistischen Wende innerhalb der Staatsführung: "Am 13. März 1968 verkündete Fidel Castro in der Universidad de La Habana die 'Revolutionäre Offensive'. Der Kleinhandel wurde abgeschafft, der Staat machte sich zum Eigentümer und Verwalter der gesamten kubanischen Wirtschaft. Die Konsequenzen dieser Maßnahmen sind noch heute in der ineffizienten Wirtschaft der Insel zu spüren und, vor allem, im schwierig zu bewältigenden Alltagsleben. Das Widersprüchliche an der Sache ist, dass es offensichtlich die Nationalisten selber waren, die einen wirtschaftlichen Weg einschlugen, der sie in die Arme ihrer prosowjetischen Gegner trieb."

Als "festspielwürdige Kunstanstrengung" goutiert Joachim Lange Johan Simons Salzburger Inszenierung von Bartoks "Herzog Blaubarts Burg" mit dem Dirigenten Peter Eötvös und einem Bühnenbild von Daniel Richter. Arno Widmann empfiehlt die Ausstellung "Die Nase des Sultans" im Frankfurter Museum der Weltkulturen, die Karikaturen aus der Türkei zeigt. In Times mager widmet sich Hans-Jürgen Linke Kafkas Pornos.

Auf der Medienseite informiert Daniel Buhs, wie sich die China-Ausgabe der Deutschen Welle im Internet präsentiert.

Besprochen werden Nikolaus Harnoncourts Schumann-Einspielung "Das Paradies und die Peri", Tana Frenchs Krimi-Erstling "Grabesgrün" und Frank Göhres biographischer Roman "Mo" über Friedrich Glauser (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 08.08.2008

Auf der Medienseite erzählt Usahma Felix Darrah, wie der arabische Pop mit seinen aufreizenden Videos die Konservativen zur Weißglut bringt: "Das seichte Clip-Genre verspricht den Schimmer einer arabischen Öffentlichkeit, die liberal und eklektisch ist. Zu ihren Grundlagen gehört die Freiheit, eine selbstbestimmte und transitive Individualität zu definieren. Pop-Videos bieten einen roten Faden zu diesem Prozess. Aufgewachsen in einer Medienkultur, die den beengenden, traditionalistischen und politisch oft abgegrenzten Gruppenidentitäten verhaftet ist, verlangen Abermillionen Araber nun nach einer Kunst und Kultur, die nicht die utopischen Träume eines Regimes besingt, sondern persönliche Träume der Zuschauer anspricht.

Im Feuilleton feiert die Wahlberlinerin Sieglinde Geisel die Stadt als eine der Zugegezogenen und Saisoniers: "Die Ur-Berliner stellen den Bürgermeister und die Busfahrer, doch im Übrigen ist Berlin eine Einwandererstadt, und das ist gut so. Denn ohne die Bewohner von anderswo wäre ganz Berlin wie Tempelhof oder Oberschöneweide - oberschweineöde, wie der Berliner sagt." (Das finden wir auch. Am dankbarsten sind wir für schwäbische Kreative, Sonnenbrillenträger, aber auch allen anderen, die "in Film oder Medien unterwegs" sind).

Gabriele Detterer erinnert an den Jugendstilkünstler Joseph Maria Olbrich, den Schöpfer der Darmstädter Mathildenhöhe. Marc Zitzmann berichtet von Frankreichs Streit um die angeblich antisemitische Kolumne des Karikaturisten Sine. Dieser hatte sich über Pläne des Präsidentensohns Jean Sarkozy mokiert, zum Judentum zu konvertieren, die dieser nun allerdings dementiert hat. Marli Feldvoss besichtigt die Ausstellung israelischer Gegenwartskunst "Access to Israel" in Frankfurts Jüdischem Museum.

Auf der Musikseite unterhält sich Thomas Burkhalter mit dem Wahl-Chinesne Christiaan Virant alias FM3 über chinesische Popmusik.

SZ, 08.08.2008

Von seiner Reise durch das Grenzgebiet von Slowakei, Ungarn und Ukraine schickt Schriftsteller Andrzej Stasiuk Grüße: "Wir überschreiten die Grenze, scheinbar ändert sich nichts, und zugleich ändert sich alles. Außerdem ist die Grenze, seit der Staat sie nicht mehr überwacht, in gewisser Weise zur Privatangelegenheit des Reisenden geworden, zu seiner persönlichen Erfahrung. Ich mag Grenzen sehr - vor allem die unbewachten. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich irgendwo leben könnte, wo keine Grenzen in der Nähe sind, die ich jederzeit überschreiten kann. Ich setze mich ins Auto und bin kurz darauf woanders. Selbst die Supermärkte Tesco oder Hypernova ordnen sich dem Diktat der Grenzen unter. Man muss nur in die Weinabteilung gehen, man muss sich nur die Wurstwaren ansehen. Nirgends außer in der Slowakei bekommt man geräucherten Speck, der fünf Zentimeter dick ist."

Jonathan Fischer bemerkt staunend, dass jemand den Vorhang vor dem Horizont des Indie-Rocks weggezogen hat und dank Musiker wie Damon Albarn auf einmal Afrobeats hoch im Kurs stehen: "Plötzlich liegen die Klänge afrikanischer Highlife-Gitarren nur noch um die Ecke, der synkopierte Lagos-Beat schiebt sich unter das Vierviertel-Gestampfe und selbst federleichte Soukous-Läufe aus dem Kongo scheinen nur ein paar Griffe entfernt."

Weiteres: Claus Langbehn berichtet vom 22. Philosophieweltkongress in Seoul. Andrian Kreye warnt vor finsteren Plänen, die die amerikanische Regierung für den Fall eines Angriffs auf das Internet in der Schublade hat. Stefan Koldehoff unterhält sich mit der Künstlerin Kiki Smith über ihre Ausstellung im Krefelder Haus Esters. Ganz berauscht ist Christine Dössel von Peter Handkes in Salzburg vorgetragenem Text "Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts". Willibald Sauerländer gratuliert seinem Kollegen, dem Kunsthistoriker Werner Hofmann, zum Achtzigsten.

Besprochen werden Bela Bartoks "Herzog Blaubarts Burg" in der Salzburger Inszenierung von Johan Simons Daniel Richter, Uraufführungen von Karlheinz Stockhausen und Helmut Lachenmann beim Schleswig-Holstein-Musikfestival, Dennis Lees Melodram "Zurück im Sommer", Paul Trynkas Biografie "Iggy Pop", Franziska Sperrs Debütroman "Das Revier der Amsel" und John Neumeiers Bildband "In Bewegung" über sein Hamburg Ballett (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).