Heute in den Feuilletons

Dieses Ticken der Schöpferschrecksekunde

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2008. Obszön ist Peter Handkes Liebe zu Serbien, meint Jonathan Littell in der FR. "Wo treibt man in diesem Betonmeer eine Ziege auf?", fragen Anhänger des Voodookults in Bahia laut NZZ. Die Welt bringt eine Seite über die Geschichte der Sklaverei in Afrika und den USA. In der SZ streiten Günter Verheugen und Jürgen Habermas über das irische Nein. Alle nehmen Abschied vom großen Theatermann Klaus Michael Grüber.

FR, 24.06.2008

Die FR übernimmt aus der Weltwoche das exquisite Interview von Andre Müller (mehr) mit Jonathan Littell (mehr). Nach einem sehr lustigen Anfang geht es zur Sache, unter anderem zu Peter Handke und seiner Liebe zu Serbien: "Wenn eine Familie in ihrem Haus in Foca sitzt, und plötzlich kommt jemand mit einem Maschinengewehr, kettet die Tochter an den Heizkörper und vergewaltigt sie vor den Augen der Eltern, dann ist das nicht lustig. Gut, man kann sagen, so ist die Welt. Aber man muss nicht hingehen und freundlich zu diesen Verbrechern sein und ihnen die Hände schütteln. Das ist obszön, und genau das hat Handke getan. Er sollte den Mund halten. Er mag als Künstler phantastisch sein, aber als Mensch ist er mein Feind. Man muss die Bereiche trennen. Man darf unmoralisch sein, solange man sich in der Kunst bewegt. Aber sobald man diesen Bereich verlässt und politisch spricht, gelten andere Regeln. Wenn Sie Handke mit Celine vergleichen, der ein Faschist war und antisemitische Pamphlete geschrieben hat, werden Sie verstehen, was ich meine. Celine war ein großartiger Dichter, und ich kann heute sagen, ich schätze ihn, weil er tot ist. Aber hätte ich in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gelebt, hätte ich versucht, ihn zu töten. -Peter Handke tötet niemanden. - Okay, aber er ist ein Arsch."

Weiteres: Peter Iden schreibt den Nachruf auf den "sehr besonderen" Theaterregisseur Klaus Michael Grüber: "Der Sinn für Ende und Endlichkeit, dafür, dass alles uns schon verloren ist gerade in dem Augenblick, da wir es zu leben glauben, wurde im Theater Grübers kontrastiert von Momenten einer Emphase, wie nur er sie auf der Bühne schaffen konnte." Ina Hartwig schreibt zum Tod des Schweizer Autors Gerhard Meier. Tom Mustroph berichtet vom Festival "Theater der Welt" in Halle. In Times Mager nimmt sich Christian Schlüter die neuen Taschenkarten der Bundeswehr vor.

Auf der Medienseite berichtet Tilmann P. Gangloff, wie die Finanzfirmen KKR und Permira ProSieben-Sat1 ausquetschen.

Besprochen werden die Ausstellung "Ernst Ludwig Kirchner und die Kunst Kameruns" im Frankfurter Museum der Weltkulturen, Karoline Grubers Inszenierung der "Ariadne auf Naxos" in Leipzig und Amos Oz' Roman "Verse auf Leben und Tod" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 24.06.2008

Klaus Hart staunt über afrobrasilianische Religionen, die auf ihre Weise in die Gegenwart gefunden haben. Etwa in Sao Paulo: "In den Slums wenden sich viele Verelendete von den Kulten ab und wechseln zu anderen religiösen Praktiken - auch weil ihnen bestimmte Rituale zu teuer oder zu zeitaufwendig sind. 'Wo treibt man in diesem Betonmeer eine Ziege auf, die etwa in Bahia frei herumläuft?' Der armen Klientel haben sich die afrobrasilianischen Religionen daher auf teilweise überraschende Weise angepasst. Candomble-Priester gestatten inzwischen, dass das Ziegenfleisch auch aus dem nächsten Supermarkt sein kann. Angesichts des Verkehrschaos von Sao Paulo schaffen viele Anhänger gar mehr den Weg zu den Kultstätten. Daher läuft es häufig so, dass man für bestimmte Initiationsrituale nicht mehr unbedingt in einem Raum des Candomble-Terreiro isoliert sein muss. Es geht nun auch ganz bequem im eigenen Appartement - die Priester kontrollieren per Webcam, dass alles seine Richtigkeit hat."

Weitere Artikel: Superman wird 70 - Christian Gasser über die anscheinend tiefreligiösen Eltern: "Es waren einmal, in Cleveland, Ohio, zwei schmächtige, unsichere jüdische Science-Fiction-Fans, geplagt von allerlei Komplexen. 1933 - sie waren erst 14 Jahre alt - entwickelten der Autor Jerry Siegel und der Zeichner Joe Shuster die Figur von Superman und tauften ihn Kal-El - hebräisch für 'Gott ist in allem'." Christoph Funke schreibt zum Tod des Theaterregisseurs Klaus Michael Grüber.

Besprochen werden Corinna Billes Roman "Venusschuh", Yasmina Khadras "vor Sendungsbewusstsein und Optimismus überbordender" Islamismus-Roman "Die Sirenen von Bagdad", Patricia van Ulzens Architekturstudie "Imagine a Metropolis" über Rotterdam und die von Ulrich Johannes Schneider herausgegebene Aufsatzsammlung "Der französische Hegel" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 24.06.2008

Die Welt widmet die Aufmacherseite ihres Feuilletons zwei neuen Büchern über die Sklaverei. Katja Ridderbusch lernt aus Douglas A. Blackmons "Slavery of Another Name" (Auszug), dass Schwarze in den USA auch nach dem Bürgerkrieg faktisch weiter versklavt wurden: "Mit unerbittlicher Akribie und der Sprachgewalt des Geschichtenerzählers rekonstruiert Blackmon, wie sich nach 1865 eine neue Form der Sklaverei in den Südstaaten etablierte: Afroamerikaner wurden unter fadenscheinigen Gründen wie 'Vagabundiererei' oder 'Wechsel des Arbeitsplatzes ohne Erlaubnis' festgenommen, inhaftiert und als Zwangsarbeiter an Zechen, Stahlwerke, Steinbrüche und Plantagen verpachtet. Tausende starben namenlos und wurden in Massengräbern verscharrt."

Ulrich Baron liest eine bei Beck erschienene Geschichte der Sklaverei, wo er unter anderem erfährt, dass "Abolitionismus" nur der hübschere Name für den entstehenden Kolonialismus war - aber auch, dass die Versklavung Hunderttausender ohne Kollabaration vor Ort in Afrika nicht möglich gewesen wäre: "Trotz der Vorposten, die sich die Portugiesen und ihre Nachfolger auf den Inseln vor der afrikanischen Küste und mit kontinentalen Forts geschaffen hatten, war ihnen das Hinterland verschlossen. Sie waren auf die Kooperation und den Handel mit einheimischen Herrschern und muslimischen Sklavenhändlern angewiesen, die in Kriegen oder gezielten Menschenjagden gefangene Afrikaner für teures Geld verkauften."

Weitere Artikel: Thomas Lindemann glossiert die Einblendung einer fehlherhaften deutschen Fahne bei der EM-Berichterstattung der ARD-Tagesthemen. Reinhard Wengierek schreibt zum Tod von Klaus Michael Grüber. Peter Beddies interviewt die Schauspielerin Angelina Jolie. Gerhard Midding erinnert an den Filmpionier Georges Melies, der vor siebzig Jahren starb und dem die Cinematheque in Paris eine Retrospektive widmet. Außerdem bespricht Manuel Brug Rossinis "Türken" an der Berliner Staatsoper.

Auf der Forumsseite wehrt sich die ungarische Autorin Zsuzsa Breier in einem kleinen Essay gegen eine grassierende Verharmlosung des Kommunsimus in Pop, Medien und Mode.

TAZ, 24.06.2008

Auf dem Sonar-Festival für elektronische Musik in Barcelona beobachtet Tobias Rapp mit Freude, wie ein Laptop-Musiker tatsächlich Live-Gefühl verbreitet, und zwar mit einem Touchpad so groß wie ein LP-Cover. "Es machte einen Unterschied ums Ganze. Das riesige Plausibilitätsproblem der elektronischen Musik, das besonders Liveauftritte oft zu einer schwierigen Angelegenheit macht, dass für den Zuschauer nämlich nie wirklich nachvollziehbar ist, was da gerade passiert, ob sich hier wirklich gerade jemand um Kopf und Kragen spielt oder ob der Künstler hinter seinem Bildschirm nicht vielleicht einfach seine E-Mails beantwortet - es war weggewischt. Daedalus - der mit seinem taubengrauen Frack und den riesigen Koteletten aussah wie der amerikanische Präsident Lincoln bei einem Inaugurationsball - hatte das Touchpad leicht in Richtung Publikum gekippt, sauste mit seinen Fingern über die weiße Fläche, und auf einmal sah man, was man hörte: Finger oben links - Drumbreak. Zwei Finger unten rechts - aller Sound weg, bis auf den Bass."

Weiteres: Christian Broecking hört abwechselnd Jazz und Kritik an Bush, in New York beim Vision Festival und beim JVC Jazzfestival. In der zweiten taz lässt sich Julia Büttner vom Designhistoriker Steven Heller überzeugen, dass die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts in erster Linie starke Marken waren.

Besprochen wird Philipp Tinglers Benimmfibel "Handbuch für Gesellschaft und Umgangsformen".

Und Tom.

Aus den Blogs, 24.06.2008

Ist Google News ein Flop? "Das von Inhalteanbietern weltweit gefürchtete und kritisierte Nachrichten-Portal Google News ist keine dynamische Erfolgsgeschichte, sondern tritt auf der Stelle", berichtet das Medienblog Turi2 unter Verweis auf einen Artikel der heutigen New York Times.
Stichwörter: Google, Google News, New York

FAZ, 24.06.2008

In seinem Nachruf erklärt Gerhard Stadelmaier, warum der Theaterregisseur Klaus Michael Grüber ein Mann ganz nach seinem Geschmack war: "Grüber war der Einzige, der in Stücke hineinging, sich in ihnen verlor, sie begriff als fremde, sperrige, unerforschbare Welt, in die hinein man aufbrechen müsse wie in ein tolles Abenteuer. Wenn die Reise begann, war es für ihn immer so, als müsse er eine Art Entsetzen überwinden: die Schrecksekunde des Schöpfers vor der Schöpfung. Als brenne ihm die Welt, noch bevor er sie auf seiner Bühne erfinden durfte, so sehr in Händen, dass er sie lieber gleich weglegen möchte. Dieses Ticken der Schöpferschrecksekunde durchzitterte jede seiner Theaterarbeiten."

Weitere Artikel: Karen Krüger und Jochen Hieber stellen anlässlich des deutsch-türkischen EM-Halbfinales klar: "Wenn morgen Abend im Baseler St.-Jakobs-Park das Spiel beginnt, treffen keine fußballerischen Erzfeinde aufeinander. Ausgetragen wird zwischen der Türkei und Deutschland vielmehr eine Art Lokalderby." In der Glosse kommentiert Dirk Schümer die Rap-Versuche von Umberto Eco. Marc Siemons setzt von Ö wie Ökologie bis R wie Regen sein China-Lexikon zu Olympia fort. Über die zweite Hälfte der Theaterbiennale (Website) in Wiesbaden und Mainz informiert Ursula Böhmer. Von einer Essener Tagung zur Aktualität von Johann Gustav Droysen berichtet Uwe Walter. Jürg Altwegg meldet nicht nur, dass in Frankreich, ganz, wie die Academie Francaise wünschte, die Regionalsprachen jetzt doch nicht in der Verfassung verankert werden, sondern porträtiert auch den Schriftsteller Jean-Christophe Rufin, der im geradezu revolutionär jugendlichen Alter von fünfundfünfzig Jahren in die Academie gewählt wurde. Sabine Doering schreibt zum Tod des Schweizer Autors Gerhard Meier. Für die Medienseite hat Michael Seewald einen Nachruf auf den Fernsehproduzenten Bernd Burgemeister verfasst.

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite erklärt der Soziologe Tobias Werron, warum der Erfolg des modernen Fußballs erst durch ein den Sport-"Betrieb übergreifend bewertendes öffentliches Gedächtnis (Publikum) im Sinne öffentlichen Redens, Schreibens und Lesens über Wettkämpfe" möglich wurde.

Besprochen werden David Aldens Inszenierung von Rossinis Oper "Il turco in Italia" in der Lindenoper, die Ausstellung "Brennpunkt Berlin: Die Blockade 1948/1949" im Deutschen Historischen Museum in Berlin, das neue Silver-Jews-Album "Lookout Mountain, Lookout Sea", und Sebastian Faulks' James-Bond-Roman "Der Tod ist nur der Anfang" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 24.06.2008

Am Samstag hatte Günter Verheugen Jürgen Habermas' Ansichten zum irischen Veto kritisiert, auch wenn er zugab, dass dieses "Votum Fragen aufgeworfen (hat), die nicht verdrängt werden dürfen. Wir sind Europäer, aber wir sind kein europäisches Volk. Das macht die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union langwierig und die Eins-zu-eins-Übertragung des Demokratieprinzips auf die europäische Ebene nahezu unmöglich. Das nationale Vetorecht, dessen Exekution durch die Iren Habermas ausdrücklich gutheißt, ist aber genau das Hindernis, das immer wieder mögliche Fortschritte verzögert. Trotzdem geht es nur so."

Das, entgegnet heute Habermas, läuft doch nur darauf hinaus, den Iren das "unwürdige Spektakel" einer zweiten Abstimmung zuzumuten. "Dass im Hinblick auf die Zukunft Europas ein einstweilen unüberbrückbarer Konflikt besteht, ist keiner Seite vorzuwerfen, sondern als politische Tatsache festzuhalten. Was ich Verheugen und seinen Kollegen vorwerfe, ist die Verdrängung dieses Konflikts. Sie begraben jeden weiterführenden Gedanken zu Europa in der Langeweile ihres technokratischen Geredes. Es ist unwahr, dass wir, wie Verheugen behauptet, beides gleichzeitig haben können: Den bisherigen Politikmodus behalten und eine vertiefte europäische Einigung bekommen. Es trifft nicht zu, dass wir die 27 und demnächst 28 auseinanderdriftenden Mitgliedstaaten ins selbe Korsett pressen und gleichwohl 'mehr Demokratie verwirklichen' können."

Weitere Artikel: Stephan Speicher denkt anlässlich des Streits um die Lindenoper darüber nach, was gebaute Überlieferung wert ist. Abgedruckt ist ein Beitrag von Adolf Loos aus dem Jahr 1912 über das Mysterium der Akustik: Es liegt alles am Material! Günter Kowa berichtet über die Preisträger des "Bauhaus Award". Johannes Willms berichtet aus Paris von - bisher vergeblichen - Versuchen, den trostlosen Vorplatz der Bibliotheque Nationale etwas attraktiver zu machen: "Der Architekt sträubte sich bislang mit dem ästhetischen Argument, die Esplanade sei schön, eben weil sie leer ist." Andra Lauffs-Wegner erklärt im Interview, warum die Kunstsammlung Lauffs aus Krefeld abgezogen wird: "Mir persönlich fehlte das Engagement seitens der Stadt." Klaus Dermutz schreibt zum Tod des Regisseurs Klaus Michael Grüber.

Besprochen werden die Ausstellung "Correggio e l'antico" in der Galleria Borghese in Rom, Rossinis "Il Turco in Italia" an der Staatsoper Berlin (mit Christine Schäfer als Fiorilla), Rimini Protokolls "Airport Kids" in Lausanne, Musikfilme beim Filmfest München und Bücher, darunter Gerhard Falkners Novelle "Bruno" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).