Heute in den Feuilletons

Atemberaubende Bespielung der Breitwand

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2008. Die Welt bangt um das Schicksal eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, dessen Briefe neunzig Jahre danach in einem Blog veröffentlicht werden. Die NZZ staunt über die präzise kalkulierte Intensität des neuen Films des Coen-Brüder. Die FR erklärt, warum die Russen Putin so schätzen: 7,7 Prozent Wachstum. Die FAZ macht sich trotzdem Sorgen über russische Jugendliche, die sich Alkohol-Cocktails spritzen. In der SZ fragt der Popdesigner Peter Saville, welche Bilder man dieser bildersatten Welt noch hinzufügen kann. Die taz lernt mit Hannah Arendt politisch limitiert denken. Na endlich!

Welt, 27.02.2008

Ganz fasziniert ist Ulli Kulke von dem schon mehrfach in der Presse dargestellten Blog wwar1.blogspot.com, in dem der Brite Bill Lamin die Feldpostbriefe seines Großvaters Harry auf den Tag genau 90 Jahre, nachdem sie geschrieben wurden, ins Netz stellt: "Kein Buch könnte dies bewerkstelligen. Es bedarf der zeitlichen Dimension eines Internet-Blogs. Keiner der inzwischen fast eine halbe Million 'Empfänger' von Harrys Feldpostbriefen, den Blog-Lesern, weiß, wann der nächste Brief kommt. Mal schon morgen, mal erst nach Wochen. Ob überhaupt noch einer kommt? Oder doch irgendwann das Telegramm mit der furchtbaren Nachricht? Bill Lamin würde uns auch dies nicht vorenthalten, nur das steht fest."

Im Feuilletonaufmacher bespricht Michael Pilz Todd Haynes' Dylan-Film "I'm Not There". Rolf Giesen berichtet, dass die Chinesen den Amerikanern in der Trickfilmproduktion heftige Konkurrenz machen wollen und schon mal amerikanische Serien aus dem heimischen TV verbannen. Gerhard Charles Rump übersetzt Nicolas Sarkozys "Casse-toi pauv' con" doch etwas sanft mit "Hau ab, du armer Depp". Gerhard Midding porträtiert die französische Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard. Anneke Bokern annonciert das Aus für die Fondation Vasarely in Aix-en-Provence. Der Politologe Eckhard Jesse geht dem Reichstagsbrand vor 75 Jahren nach und kommt zu dem eindeutigen Ergebnis: Marinus van der Lubbe war's. Und Ulrich Weinzierl gratuliert Alfred Hrdlicka zum Achtzigsten.

FR, 27.02.2008

In einem langen, informativen Artikel erklärt Mark Obert, warum vor allem die Mittelschicht Putin so schätzt. "Die Russen haben im vergangenen Jahr mehr Mittelklassewagen angemeldet als die Deutschen, und, um die Kleinfamilie komplett zu machen, so viele Kinder gezeugt wie seit 15 Jahren nicht mehr. In der Ära Jelzin, dem ersten Präsidenten der postsowjetischen Föderation, sank die Geburtenrate stetig. Es gibt Russen, die all das nicht für Zufall halten. Arbeitsverträge mit Kündigungsfrist, mehr Kindergeld, bessere Gesundheitsversorgung führen sie angesichts unaufhörlicher Kritik aus dem Ausland mit trotzigem Stolz ins Feld. Westliche Standards, man ist ja nicht kühn, sind noch Utopie. Aber man kann ein bisschen planen. Der Aufschwung, 7,7 Prozent stetes Wirtschaftswachstum, ist spürbar. Sie sind nicht euphorisch, aber sie haben die große Depression überwunden: die Schichten, die in den anfangs verheißungsvollen 90er Jahren des Turbokapitalismus' abgehängt worden waren."

Weitere Artikel: Alexander Kohnen porträtiert den Hollywood-Web-Klatschkolumnisten Perez Hilton (hier seine Website). Johannes Schmitz berichtet über die Gründung einer Deutschen Universität für Musik und Darstellende Kunst in China. Und in Times mager fragt sich Silvia Staude, ob der Coen-Film "No Country for Old Men" eigentlich auch in Bagdad anläuft und dort für Fiktion gehalten werden kann.

Besprochen werden der Film "No Country for Old Men" der Coen-Brüder und eine Jubiläumsausgabe der legendären Teldec-Reihe "Das Alte Werk".

NZZ, 27.02.2008

Hingerissen bespricht Thomas Binotto den dreifach oskargekrönten Western der Brüder Coen, "No Country for Old Men": "Man fühlt sich an große Western wie William Wylers 'Big Country' erinnert, die ohne Hektik auskamen, den Zuschauern etwas zutrauten und dennoch präzise kalkulierte Intensität und Spannung verbreiteten. Mit Wylers Klassiker verbindet 'No Country for Old Men' zudem die atemberaubende Bespielung der Breitwand. Wieder einmal wird uns bewusst, dass die Leinwand breiter ist als hoch und damit für den Western geradezu geschaffen."

Weitere Artikel: Ist nicht die Idee einer nationalen Akademie "historisch eigentlich schon überholt"?, fragt sich Joachim Güntner angesichts der Meldung, dass die Leopoldina in Halle Deutschlands nationale Akademie werden soll. In China dürfen ausländische Cartoons ab dem 1. Mai nicht mehr zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden, berichtet Matthias Messmer: "Ob es sich dabei um eine Maßnahme gegen den Einfluss 'geistiger Verschmutzung' aus dem Ausland oder um den Schutz der eigenen Zeichentrickfilm-Industrie handelt (wie offiziell betont wird), ist unter den chinesischen Kommentatoren umstritten." Derek Weber liefert einen interessanten Bericht über die verwickelten und intrigenreichen Verhältnisse der Arena di Verona. Barbara von Reibnitz wirft einen Blick in die neuen Ausgaben der Zeitschriften Mittelweg 36 und Westend.

Besprochen werden Bücher, darunter Georgina Hardings Arktis-Roman "Die Einsamkeit des Thomas Cave" und die Erinnerungen des "radikaldemokratischen Pädagogen" Hartmut von Hentig (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 27.02.2008

Alexander Camman stellt die jüngste Ausgabe der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 vor, die zwei Briefe von Hannah Arendt an einen Studenten veröffentlicht, aus denen sich ihre Haltung zu den 68ern ablesen lässt. "Fatalerweise haben die 68er Arendts Einsicht, die sie in dem Brief so pointiert formuliert hatte, erst spät begriffen: 'Worauf es politisch ankommt, ist limitiert denken lernen.'"

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg resümiert die letzte Jahrespressekonferenz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz für ihren scheidenden Präsidenten Klaus-Dieter Lehmann und den Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, Peter-Klaus Schuster. Auf den Tagesthemenseiten gratuliert Ralf Leonhard der "grantigen Turteltaube" Alfred Hrdlicka zum 80. Geburtstag. Und auf der Medienseite informiert Lana Stille über die Neugründung des Magazins Nouvelles, das Nachrichten ohne Geschlechterstereotype liefern will.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Lukas Einsele im Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main, der in seinem Projekt One "Step Beyond - Wiederbegegnung mit der Mine" Porträts von Minenopfern zeigt, und der Oscar-gekrönte Film "No Country for Old Men" der Coen-Brüder . Andreas Busche ist überzeugt, dass als "strahlendes Beispiel eines Neo-Noir-Westerns" in die Filmgeschichte eingehen wird.

Und hier Tom.

SZ, 27.02.2008

In einem Interview spricht der legendäre Plattencover-Designer Peter Saville (mehr hier) über Pop, Porno und seine demokratisierenden Ideen von Kunst: "Jeder kann ein Objekt auf einen Sockel stellen und für Kunst erklären, der Selektionsprozess selbst ist nicht wichtig - aber irgendjemand muss den Sockel hinstellen. Das tue ich, man wird den Sockel bald kaufen können. Jeder Mensch sollte einen zu Hause haben! Der intellektuelle Selbstbefragungsprozess, der fürs Kunstschaffen so elementar ist, wäre heute übrigens auch entscheidend für Pop, Mode und Design. In einer zunehmend saturierten Welt wird die Frage nämlich wesentlicher: Brauchen wir dieses neue Produkt wirklich? Ist es wichtig? Meine Antwort: Man kann dem übervollen Kanon der Bilder, Texte, Töne, Objekte heute nichts Unverwechselbares mehr hinzufügen - außer einem selbst. Denn das Einzige, was es noch nicht gab, ist schließlich man selbst."

Weitere Artikel: Für Thomas Steinfeld führt die Steuersünder-Debatte in die falsche Richtung, weil die immer wieder suggerierte soziale Einheit gar nicht existiere. Franziska Brüning informiert über ein Forschungsprojekt der Unesco, das burgundischen Winzern helfen will. Christian Jostmann resümiert eine Tagung zum 20. Juli 1944 im Bonner Haus der Geschichte. Holger Liebs stellt die erfolgreichsten Museen und Ausstellungen 2007 vor. Christopher Schmidt berichtet über den Hildesheimer Kulturwissenschaftler Wolfgang Schneider, der von den "vorteilhaften Rückwirkungen" des Theaters auf den Unterricht überzeugt ist und es deshalb zum Schulfach machen will. Auf der Seite 3 porträtiert Evelyn Roll den Chamisso-Preisträger, den Schriftsteller Sasa Stanisic.

Besprochen werden die Verfilmung des Romans von Cormac McCarthy "No Country for Old Men" der Coen-Brüder, eine Ausstellung zum 80. Geburtstag von Alfred Hrdlicka in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall, ein Münchner Konzertabend mit Lang Lang, Inszenierungen von Laurent Chetouanes Doppelfragment "Empedokles/Fatzer" am Schauspiel Köln und Tschechows "Iwanow" am Düsseldorfer Schauspielhaus und Bücher, darunter der Roman "Das Wochenende" von Bernhard Schlink und der Gedichtessay "spiel ur meere" von Christian Schloyer (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 27.02.2008

Ein massives Problem mit Jugendkriminalität gibt es auch in Russland, konstatiert Kerstin Holm. Kein Wunder, wenn weite Teile der Bevölkerung praktisch ohne Aufstiegschancen sind: "Ersatz für schwer erreichbares Glück bieten Alkohol und Drogen, mit denen sich schon Zwölfjährige zuknallen. Waisen und Dorfkinder trinken Rasierwasser oder Lösungsmittel und spritzen sich Alkohol-Cocktails in die Venen. Vorsorge durch Aufklärung betreiben die überforderten, unterbezahlten Schullehrer nicht. "

Weitere Artikel: Von neuen Diskussionen über britische Klassenverhältnisse berichtet Gina Thomas. Außerdem meldet sie, dass die beschlossene Beseitigung von Steuervorteilen für Ausländer das Kunstleben in Großbritannien negativ beeinflussen könnte. In der Glosse kommentiert Rüdiger Soldt die etwas undurchsichtigen Windungen und Wendungen der baden-württembergischen Hausbuch-Affäre. Erstaunlich - oder auch enttäuschend - ähnlich sieht Johann Sebastian Bach in der mit allerneuster Technik erstellten Büstenrekonstruktion dem, den wir auch vorher schon kannten, findet Eleonore Büning (Bilder hier). Jordan Mejias stellt die Expansionspläne des Los Angeles County Museum of Art vor. Andreas Obst porträtiert Sheryl Crow, die gerade eine neue CD veröffentlicht hat. Bei archäologischen Grabungen aus dem 13. Jahrhundert in Cölln (heute Berlin) hat Andreas Kilb vorbeigeschaut. Kerstin Holm schreibt über die immer mächtigere staatliche Kulturaufsicht Russlands. Niklas Maak gratuliert dem Bildhauer Alfred Hrdlicka zum achtzigsten Geburtstag. Auf der Medienseite stellt Rainer Hermann die ägyptische Website "Unsere Gesellschaft" vor, die sich für die in den Mainstream-Medien weitgehend unsichtbar bleibenden Nichtregierungsorganisationen stark macht.

Besprochen werden Todd Haynes' Bob-Dylan-(Nicht)-Biopic "I'm Not There", Amelie Niermeyers Düsseldorfer Inszenierung von Tschechows "Iwanow", die Hamburger Ausstellung "Schrecken und Lust" über den Heiligen Antonius in der Kunst, und Bücher, darunter Lisa Lutz' Roman "Little Miss Undercover" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).