Heute in den Feuilletons

Tausendmal püriert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2008. Die NZZ fragt: Was ist Liberal Fascism? Die Blogs diskutieren über Holtzbrincks neuesten Coup zoomer.de: Ein Sieg der Schwarmintelligenz oder doch mehr Klickibuntidabei? In der Welt plädiert der Gewinner des Goldenen Bären Jose Padilha für eine Legalisierung von Drogen. Die taz vermisst in Götz Alys 68er-Buch Sex, Musik, Kultur und Alltag. Die FAZ sah "Persepolis" in Teheran. Die Berlinale-Bären schockieren nur mild.

NZZ, 18.02.2008

Jan-Werner Müller reibt sich die Augen über das Buch "Liberal Fascism" des konservativen Kolumnisten Jonah Goldberg, das in den USA eingeschlagen hat wie eine Bombe. Anders als die üblichen Polemiken zu Liberalismus und Terror sei diese Geistesgeschichte irgendwie anspruchsvoll (auf der dritten Seite schon steht das deutsche Wort "Historikerstreit"), schreibt Müller, und erkläre Woodrow Wilson zum ersten Faschisten: "Dann geht es Schlag auf Schlag: Wer sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts 'liberal' nannte, habe fast immer Mussolini bewundert, der New Deal habe autoritäre Züge getragen, Kennedy und sein Nachfolger Johnson hätten diese relativ 'nette' Variante von Faschismus weitergeführt. Selbstverständlich wird auch die neue Linke in diese Tradition eingereiht: eine gewaltbereite Jugendbewegung und radikale Multikulti-Professoren, welche genau wie die Nazis 'Identitätspolitik' betrieben und Menschen auf ihre 'Rasse' reduziert hätten. Da darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Nazis angeblich sexuelle Freiheit priesen und gegen das Rauchen kämpften."

"Es ist ein mutiger und guter Entscheid der Jury, der zu reden gibt, und das ist Gold wert", schreibt Susanne Ostwald über den Golden Bären für Jose Padilhas Polizeithriller "Tropa de Elite" ist insgesamt aber nicht so zufrieden mit dem diesjährigen Jahrgang: "Wie so oft war das Wettbewerbsprogramm auch in diesem Jahr stark vom wohlmeinenden Kino geprägt, das niemandem weh tun will und entsprechend kaltlässt."

Weiteres: Roman Hollenstein berichtet von vergeblichen Versuchen, Lanzarote vor der Zersiedelung zu bewahren. Lilo Weber erzählt, wie Großbritannien seine Bürger vor den Abgründen der Kunst, vor Nacktheit und Rauchern, bewahrt. Und Matthias Messmer beschreibt, wie sich China allmählich zum Einwanderungsland mausert.

Aus den Blogs, 18.02.2008

Willkommen im Boot! Perlentaucher wird von FAZ und SZ juristisch und journalistisch trakassiert, nun greift der Springer-Verlag das Bildblog an. Das Blog berichtet in eigener Sache, dass sich Springer an den Presserat gewandt hat, um sich gegen Beschwerden des Bildblogs vor diesem im allgemeinen recht zahnlosen Kontrollgremium über Fehlverhalten der Zeitung zu beschweren. Dadurch entstehe dem Springerverlag "'ungerechtfertigter Imageverlust' und ein 'unangemessener und schwerwiegender wirtschaftlicher Schaden'. Mit diesen Worten zitiert der Presserat den Verlag, der das Gremium aufgefordert hat, den 'Missbrauch' der freiwilligen Selbstkontrolle durch uns abzustellen."

Turi2 stellt Holtzbrincks neuesten Coup vor, das Nachrichtenportal zoomer.de für die Generation StudiVZ: "Ob man sich von der alten Nachrichten-Nase Ulrich Wickert (unpassenderweise der Anchorman des jungen Newsportals) duzen lassen will, ist zumindest eine offene Frage. Die Probleme mit abstürzenden Firefox-Browsern müssten in den Griff zu kriegen sein." Der Tagesspiegel wirbt ebenfalls für das im gleichen Konzern erscheinende Angebot.

Viel misstauischer reagiert Don Alphonso auf die Interaktivität und Web-zwei-Nulligkeit des Angebots, in dem die Nutzer durch Klicken und Bewertung entscheiden, welche Nachricht oben steht: "Die mutmaßliche kommerzielle Idee dahinter: Die Nachrichteneinspeiser können mit geringstem Aufwand ein Maximum an Klicks erzeugen, oder andersrum, die Kosten werden dort konzentriert, wo Einnahmen zu erwarten sind." Don Alphonsos wenig optimistische Prognose: Zoomer.de "wird als Klickibuntiadabeiportal ein weiteres Debakel auf Holtzbrincks Weg gegen die Mauer des Internets."

Welt, 18.02.2008

Thomas Abelthauser unterhält sich mit dem Regisseur Jose Padilha über sein Drogendrama "Tropa de Elite", das den Goldenen Bären der Berlinale erhalten hat. Padilha plädiert darin für eine schlichte Freigabe von Drogen: "Wenn Drogen legal wären, wie früher in Brasilien Kokain, das in Apotheken verkauft wurde, gäbe es nicht diese Kriminalität und Gewalt. Auch als in den USA Alkohol verboten war, herrschte eine weit höhere Mordrate. In Holland hört man nichts von korrupten Polizisten, die foltern und töten."

Weitere Artikel: Peter Zander kommentiert die Berlinale-Bären: "extrem kluge, abgerundete Wahl". Manuel Brug freut sich über Angela Merkels kulturelle Ader - sie wohnte einer Aufführung von Andrzej Wajdas "Katyn"-Film und der Stiftung eines Philharmoniker-Stipendiums für israelische Musikstudenten bei. Anlässlich von Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" lässt Sven Felix Kellerhoff die Geschichte der Täterforschung Revue passieren. Thomas Schmid gratuliert dem Politologen Wilhelm Hennis zum 85. Gerhard Midding gratuliert Istvan Szabo zum Siebzigsten.

Besprochen werden ein Konzert der Band The Cure in Berlin und die erste von Sam Keller kuratierte Ausstellung in der Fondation Beyeler - "Action Painting".

Für die Magazinseite berichtet Thorsten Thissen von Johannes Heesters' später Versöhnung mit den Niederlanden, wo er mit 104 Jahren sein erstes Konzert seit 44 Jahren gab.

TAZ, 18.02.2008

Cristina Nord findet ihre Perlen der Berlinale eher in Nachmittagsvorstellungen im Delphi. Kein Wunder, dass der Wettbewerb und die Juryentscheidungen ihr keine große Freude bereiteten. "Das ist das grundlegend Verhängnisvolle am Wettbewerb der Berlinale: dass man in jedem Jahr von Neuem den Eindruck gewinnt, es gehe Dieter Kosslick und seinem Team weniger ums Kino als um Statements zur miesen Lage der Welt. Zwar brüsten sich auch in Cannes die Festivalmacher damit, den jeweils neuen Film von Michael Moore zu zeigen. Doch mit großer Hingabe kümmern sie sich um Regisseure wie Gus Van Sant, Alexander Sokurow oder die Brüder Dardenne. Den Spaß, den ein neuer Film der Brüder Coen oder von Quentin Tarantino macht, haben sie deshalb nicht weniger im Blick. Im Berliner Wettbewerbsprogramm hingegen sind sowohl die Autorenfilmer als auch der Spaß mit der Lupe zu suchen."

"Unterhaltsam wie ein Donald-Duck-Heft" findet Stefan Reinecke Götz Alys Bemerkungen zu 1968, kann in seiner Besprechung auf den vorderen Seiten aber sonst aber nicht viel Gutes an Werk (Leseprobe) und Autor finden. "'Unser Kampf' ist ein Anti-68er-Buch, das in seiner Mischung aus Hypermoral und Schnodderton selbst ziemlich 68erhaft wirkt. Es zielt auf Skandal, will provozieren, ist tendenziös und verbindet hochfahrenden Wahrheitsanspruch mit entschlossener Verengung des Blicks. Denn in 'Unser Kampf' geht es fast nur darum, an dem, was die Kader der Bewegung so dachten, kein gutes Haar zu lassen, kaum aber um Sex, Musik, Kultur und Alltag. Alys Ironie hat auch nichts Entspanntes, sie ist schneidend und arrogant. Wir dürfen uns den Studenten Aly als rabiaten jungen Linksextremisten vorstellen, der auch mal handgreiflich wurde und Studienräte schockierte. Und wir können uns den 60-jährigen Herrn Aly als nun zum Konservativen gereiften Privatgelehrten vorstellen, der noch immer gerne Studienräte auf die Palme bringt."

In der zweiten taz schildert Klaus Raab die miese Stimmung bei der Berliner Zeitung. Besprechungen widmen sich der Werkschau des Grafikdesigners Peter Saville in der Berliner Galerie Neu und Nick Hornbys neuem Roman "Slam".

Und Tom.

FR, 18.02.2008

Daniel Kothenschulte ist von der Prämierung des Films "Tropa de Elite" nur milde geschockt, wirft der Berlinale aber die Missachtung des Nachwuchses vor. "Verschwiegen wurden auf dieser Preisgala indes zwei weitere Bären, die für die besten Kurzfilme. Es ist ein unbemerkter Festivalskandal: Da lädt Kosslick den Nachwuchs zum Talentcampus. Doch die Chance der meist jungen Kurzfilm-Schöpfer, ein erstes Mal gleichberechtigt im Rampenlicht zu stehen, versagt er ihnen. Kein anderes A-Festival hat sie bislang vom Podest gestoßen, im Gegenteil: Man teilt es gern mit ihnen. Wie schade, dass ausgerechnet Berlin nun so ein Zeichen setzt."

Weiteres: Harry Nutt vermutet in einer Times mager, dass in den rauchbefreiten Kneipen der nunmehr nicht mehr übertünchte Männerschweiß zu Komplikationen führen könnte. Besprochen werden Martin Nimz' Inszenierung von Maxim Gorkis "Sommergästen" am Schauspiel Frankfurt, die Uraufführung von Kai Ivo Baulitz' Stück "Transporter", ebenso in Frankfurt, und Elke Erbs Lyrikband "Sonanz".

SZ, 18.02.2008

Tobias Kniebe erklärt sich die Bären-Vergabe mit dem ungebrochenen Willen vor allem des Jury-Präsidenten Costa-Gavras, die Gesellschaft zu beeinflussen, egal in welche Richtung. "Die Berlinale-Jury des Jahrgangs 2008 will Filmemacher eindeutig stärken, die sich auf die absolute Gegenwart einlassen, sich auf heikles Terrain begeben und rohe Emotionen wecken, im Zweifel sogar eher die falschen als die richtigen. Hauptsache, es bewegt sich was, die Zuschauer reagieren und diskutieren wieder, das Kino verteidigt seinen Anspruch als gesellschaftsbewegende Kraft. "

Weiteres: Stefan Koldehoff berichtet von einem empört aufgenommenen Vortrag des Berliner Kultulobbyisten Peter Raue, der eine Fristenlösung für die Rückgabe geraubter Kunst gefordert hat. Die Stadt wird zur "Free Enterprise Zone", schimpft Gert Kähler und fordert eine Anpassung der Architektur an die Stadt und nicht umgekehrt, wie das derzeit bei den Stararchitekten und ihren ortlosen Eventbauten der Fall sei. Höllenqualen erleidet Dirk Peitz bei der uninspiriert bis zynisch gestalteten Verleihung der Echo-Musikpreise (Gewinner). Till Briegleb weist alle Hamburger auf eine Alternative bei der anstehenden Kommunalwahl hin: "Die Partei" des Satiremagazins Titanic tritt mit Slogans wie "Hamburgs Zukunft liegt nicht im Bergbau" an. Kristina Maidt-Zinke würdigt die verstorbene Autorin Eva Heller. Der ehemalige Vizegouverneur von Tula und Stawropol, Anatolij Woropajew, hat mit dem Film "Dieser Kuss ist nicht für die Presse" eine nur notdürftig verfremdete Putin-Hommage herausgebracht, informiert Sonja Zekri. Wolfgang Schreiber freut sich über den regen Besuch des Musica-Viva-Festivals in München.

Im Medienteil staunt Jörg Häntzschel, dass die Talkshow-Königin Oprah Winfrey sich ab 2009 einen eigenen Fernsehsender leistet, das Oprah Winfrey Network.

Besprochen werden Vera Nemirovas Inszenierung von Christoph Willibald Glucks Oper "Les pelerins de la Mecque ou la recontre imprevue" als "kleine Nummern-Revue" am Münchner Prinzregententheater, die Werkschau zu Paul Thek im ZKM Karlsruhe, neue DVD-Veröffentlichungen wie Frank Borzages "The River" von 1929 und Bücher, darunter Stephan Schlaks Porträt des politischen Philosophen Wilhelm Hennis sowie Erich Hackls erzählerische Rekonstruktion des Lebens einer Widerstandskämpferin "Als ob ein Engel" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 18.02.2008

In Teheran wurde Marjane Satrapis Film "Persepolis" einem ausgewählten Publikum vorgeführt, dennoch um zwanzig Minuten gekürzt - eine komplette, wenngleich nicht untertitelte DVD-Raubkopie ist im Land aber weit verbreitet. Simon Fuchs war bei der Vorführung und hat sich hinterher mit Studenten in Teheran unterhalten. "Dass die Ablehnung der Jugendlichen gegenüber dem System des religiösen Staates heute jedoch unzweifelhaft größer, umfassender ist als in der Generation Satrapis, darüber sind sich alle einig... Aber wieso, wirft Farshad ein, komme denn auch für die Leute, die Änderung wollen, keine Hilfe aus dem Ausland? Er zeigt sein Handy herum. Fotos von einem Platz voller Menschen, von demonstrierenden Studenten. Vor zwei Monaten war das. 'Wir haben gebrüllt: Tod dem Diktator, Tod dem faschistischen System. Wieso zeigt CNN nur Ahmadineschad, wenn er wieder einmal darauf hinweist, dass Israel vom Erdboden verschwinden soll? Warum nicht auch uns?'"

Weitere Artikel: Patrick Bahners und Jürgen Kaube unterhalten sich auf einer ganzen Seite mit dem Staats- und Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis über Politik als praktische Wissenschaft. "Absurd" findet Verena Lueken die Entscheidung, den "Goldenen Bären" an Jose Padilhas Film "Tropa de Elite" zu vergeben (hier unsere ganz andere Ansicht). Auf der letzten Seite erinnern sich FAZ-Kritiker an ihre Lieblingsmomente der diesjährigen Berlinale. Den eher aktionistischen Umgang Nicolas Sarkozys mit sensiblen Themen bedauert in der Glosse Jürg Altwegg. Nicht sehr erfreut zeigt sich Camilla Blechen, dass im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann die originale "Sphinx der Hatschepsut" (Bild) nun Dienst als Kaufanreiz tut. Dirk Schümer hat den ersten Auftritt des "Säkularsängers" Johannes Heesters in seiner niederländischen Heimat seit vierzig Jahren besucht. Hubert Spiegel referiert Äußerungen Hans-Magnus Enzensbergers zu Achtundsechzig ("tausendmal püriert"). Wolfgang Sandner gratuliert dem Filmregisseur Istvan Szabo und der Autor Steffen Popp der Dichterin Elke Erb zum Siebzigsten.

Besprochen werden Martin Nimz' Frankfurter Inszenierung von Maxim Gorkis "Sommergäste" und Bücher, darunter Karl-Heinz Otts "Heimatkunde Baden" und Kyle Cassidys Fotoband "Bewaffnetes Amerika" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).