Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2006. Günter Grass kritisierte in seiner in der Zeit dokumentierten Rede zur Eröffnung des Pen-Kongresses Amerika und Stadelmaier. Die FAZ vermisste in Grass' Rede Kritik an anderen Despoten. Die Welt zitiert lieber Horst Köhler zum gleichen Anlass: "Noch jedes Herrscherlob eines Diktators ist von einem Dichter verfasst worden." Die FAZ macht sich jetzt auch Sorgen über das Altern der Inder, Chinesen und Russen. Die SZ will nicht an die Gerüchte um die Berliner Philharmoniker glauben und kritisiert Welt und FAZ, die sie aufbrachten.

Zeit, 24.05.2006

In seiner in der Zeit dokumentierten Rede zur Eröffnung des Pen-Kongresses verteidigt Günter Grass die Nobelpreisrede Harold Pinters gegen "einen Theaterkritiker namens Stadelmaier" und kritisiert wie Pinter den Irak-Krieg, namentlich "das langerprobte und heuchlerische Zählverhalten des Westens, den Bodycount. Zwar sind wir buchhalterisch bemüht, die Opfer von Terroranschlägen aufzulisten - und deren Zahl ist schrecklich genug -, aber niemand zählt die Leichen nach amerikanischen Bomben- und Raketenangriffen. Ob im zweiten oder dritten Golfkrieg (den ersten führte Sadam Hussein unterstützt von den USA gegen den Iran): Grobe Schätzungen lassen Hunderttausende vermuten."

Cannes wird in diesem Jahr von den Frauen dominiert, notiert Katja Nicodemus mit Genugtuung. Ron Howard behandelt sie schlecht, Aki Kaurismäki mit Respekt und Pedro Almodovar feiert sie hemmungslos. "'Volver', der bisher schönste Beitrag im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes, ist ein ziemlich radikales Fest des Frauendaseins. Nach kaum zehn Minuten wird der einzige Mann erstochen und landet in der Tiefkühltruhe. So räumt Almodovar das Feld frei für Penelope Cruz, die den Film wie eine Königin des spanischen Alltags durchschreitet."

Weiteres im Feuilleton: Von Bruce Springsteen bis Pink singen Musiker in den USA gegen George Bush an, schreibt Thomas Groß im Aufmacher, ohne sich davon so recht mitreißen zu lassen. Diederich Diederichsen sieht dagegen im US-Fernsehen und -Kunstbetrieb Anzeichen für inneramerikanische Dialogbereitschaft, und zwar zwischen Fundamentalisten und Säkularen. Der "kreuzbrave" neue Berliner Hauptbahnhof verursacht bei Hanno Rauterberg weniger die erwünschte Gänsehaut als nostalgische Langeweile. Das weltgrößte Auktionshaus Christie's beginnt mit einer Auktion in der Dependance in Dubai den arabischen Markt zu erschließen, weiß Kunstmarktkorrespondentin Claudia Herstatt.

Besprochen werden Peter Sellars sozialrealistische Wiener Inszenierung von Mozarts Opernfragment "Zaide" als Arbeitslagerdrama, eine Ausstellung mit 590 Dokumentarfotos aus China im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, vier von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Melville produzierte Videos, Neil Jordans Film "Breakfast on Pluto". Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Georg Diez die Neuausgabe der Romane von F. Scott Fitzgerald (alle Besprechungen in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr). Die Literaturbeilage der vergangenen Woche haben wir mittlerweile komplett ausgewertet. Hier ist sie zu sehen.

Aus anderen Ressorts: Im Lebenteil berichtet Bartholomäus Grill aus Togo, wo er Joseph Müller aus dem Volk der Ewe traf, der seinen Namen dem deutschen Großvater verdankt und "quasi die togoische Personalunion von Günter Netzer, Waldemar Hartmann und Roland Berger" darstellt. Erwin Koch erzählt die Geschichte von Maria Pilar Elias Zabala, die mit dem Mörder ihres Mannes unter einem Dach leben musste. Auf den Wirtschaftsseiten erwartet Götz Hamann mit Internet und Mobilfunk eine fundamentale Neuordnung der Fernsehlandschaft.

Welt, 24.05.2006

Günter Grass' "zornbebende" Eröffnungsrede auf dem Pen-Kongress hat zwar mehr Beifall bekommen, berichtet Tilman Krause, Horst Köhlers unspektakuläre Bosheiten aber werden länger halten als der "Jupiter tonans" des Schriftstellers. "Köhler erinnerte nämlich daran, 'noch jedes Herrscherlob eines Diktators ist von einem Dichter verfasst worden'. Er hielt auch mit seiner Überzeugung nicht hinter dem Berg, dass viele Schriftsteller - Anwesende natürlich ausgenommen - auch Beispiele für Opportunismus geliefert hätten. In der Tat! Wer so in politischer Verblendung geschwelgt hat in den letzten 200 Jahren wie Dichter und Denker, ist mit ein wenig Selbstzweifel gut beraten."

Weiteres: Manuel Brug drängt auf eine Lösung der Berliner Opernfrage und favorisiert einen mächtigen Generaldirektor Michael Schindhelm. Hanns Georg Rodek sondiert Siegertypen in Cannes, ist sich aber weder bei Alejandro Gonzalez Inarritu, Pedro Almodovar noch Nanni Moretti ganz sicher.

Auf der Meinungsseite findet sich ein Plädoyer für eine härtere Gangart gegen Fidel Castro, unterschrieben von Vaclav Havel, Andre Glucksmann, Madeleine Albright und Arpad Gönzc. "Das, was die Kubaner heute erleiden, ist Teil unserer eigenen europäischen Geschichte. Wer wüsste besser über die Qualen Bescheid, die dem kubanischen Volk auferlegt werden, als die Europäer, die den Kommunismus ins Leben gerufen und in die Welt exportiert haben, um dann jahrzehntelang teuer dafür zu bezahlen?" Im Perlentaucher schreibt Glucksmann heute über Frankreich.

Besprochen werden die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Oper "Kälte" in Schwetzingen ("ein nahezu perfekter Opernabend", schwärmt Wiebke Gerking), der Halt der "Tour de Frank" im Berliner Tempodrom, auf der die Nachkommen von Frank Zappa der Musik des Vaters huldigen, Raoul Ruiz' "poetisch stimmiges" Filmporträt "Klimt" mit einem schön fahrigen John Malkovich, Neil Jordans Film "Breakfast on Pluto" mit einem "grandiosen" Cillian Murphy, Luc Bessons "enttäuschender" Streifen "Angel-A" und Brett Rasners Film "X-Men 3".