Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2004. In der FAZ erklärt Elfriede Jelinek, warum Deutschland eine Rezeptionswüste für ihr Werk ist. Die Welt druckt zwei furiose Kolumnen des ermordeten niederländischen Autors Theo van Gogh nach. Die NZZ ruft eine Theaterrevolution aus - sie findet allerdings in Afghanistan statt. Die taz stellt neue Dramatikerstimmen aus London vor.

FAZ, 08.11.2004

Hubert Spiegel und Rose-Maria Gropp führen ein langes und schönes Gespräch mit Elfriede Jelinek. Sie spricht darin über Thomas Bernhard, ihre Freude am Übersetzen und am neuen Reichtum und ihre Absage, nach Stockholm zu fahren, und sie schildert sich als irgendwie jüdische Autorin, der in Deutschland der gehörige Echoraum fehlt: "Ich habe das Gefühl, ich stoße vor allem in Deutschland in ein vollkommen leeres Rezeptionsfeld, in eine Rezeptionswüste. Meine Vermutung ist, dass das mit dem verschwundenen jüdischen Biotop zu tun hat, von dessen Rändern ich doch irgendwie herkomme. Ob das jetzt das Wiener Kabarett ist mit Karl Farkas und all den anderen oder ob ich das mit meiner Familie bin, da ist einfach ein ständiges Gewitzel. Das ist ein unaufhörliches Sprachspiel. In Deutschland ist das kaputtgemacht worden, einfach zerstört."

Weitere Artikel: Kerstin Holm unterrichtet in der Leitglosse über Nationalfeiertagsdiskussionen in Russland, wo stets noch der Jahrestag der Oktoberrevolution begangen wird. Freddy Langer gratuliert dem Fotografen Robert Häusser zum Achtzigsten. Dieter Bartetzko wundert sich, dass man in Frankfurt am Main immer noch Baudenkmäler zum Abreißen findet. Regina Mönch hat zusammen mit Kulturministerin Christina Weiss die Deposts des Historischen Museums in Berlin besucht.

Für die letzte Seite berichtet die amerikanische Autorin Marielle Smith von ihrer Beobachtertätigkeit in einem Wahlbüro in Florida, wo es zu Unregelmäßigkeiten kam. Jürg Altwegg stellt die jüdisch-französische Zeitschrift Passages vor, die sich sowohl gegen den antisemitisch getönten Globalisierungsbegriff der "Altermondialisten" als auch gegen die neoliberale Feier des Begriffs auflehnt. Und Paul Ingendaay lobt das "fulminante Bühnentalent" der spanischen Sopranistin Raquel Andueza, die auch eine ideale Interpretin für die kokett-höfische Kirchenmusik Vicente Martin y Solers sei.

Besprochen werden Schillers "Räuber" in Hasko Webers Inszenierung am Berliner Ensemble, ein Konzert des deutschen, jesushaft aussehenden Rappers Max Herre, der Monsterfilm "Alien vs. Predator" und einige Sachbücher, darunter eine neue Biografie über Hector Berlioz von Klaus Heinrich Kohrs (mehr hier).

Welt, 08.11.2004

Sehr interessant zwei provokante Kolumnen des niederländischen Autors und Filmemachers Theo van Gogh, der in der letzten Woche von einem Islamisten ermordet wurde. Die Welt druckt sie nach. In einer der Kolumnen wendet sich van Gogh gegen den belgischen Fundmamentalisten Abou Jahjah, aber auch gegen den Amsterdamer Bürgermeister Job Cohen, dem er eine vorauseilende Toleranz für Islamisten vorwirft: "Als die Geistesverwandten von Herrn Jahjah fast 3000 Amerikaner umbrachten im World Trade Center, führte der erste Gang unseres Bürgermeisters in eine Moschee. In Schulen, Moscheen, überall in Amsterdam wurde ein Fest gefeiert wegen dieses großartigen Sieges über Satan. Cohen kroch vor den Gläubigen und beteuerte: 'Ihr gehört zu uns!', statt zu fragen: 'Was tut Ihr eigentlich hier?'"

TAZ, 08.11.2004

Auf der Meinungsseite wettern der Psychologe Martin Altmeyer und der Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit (mehr) gegen einen "bigotten Amerikanismus": "Fassungslos sind wir Zeugen einer konservativen Revolution, die sich gegen die 'Herausbildung der modernen Welt mit all ihren verwirrenden Erscheinungen und Auswirkungen' im Mutterland der Moderne selbst richtet und die amerikanische Zivilgesellschaft attackiert." Dem "aggressiv-unilateralen Aktivismus der USA" wollen sie europäische Initaiven entgegensetzen: "Dem vereinten Europa müsste gelingen, was John Kerry versäumt hat: die amerikanische Gesellschaft für gemeinsame Initiativen zu gewinnen, um die Globalisierung auf gerechte Weise zu regulieren, den radikalen Islamismus zu isolieren, den Irak politisch zu stabilisieren, die Irankrise effektiv zu moderieren, etwas gegen die Klimakatastrophe zu unternehmen usw. Eine solche Agenda sollte auch unseren Amerikakritikern einleuchten, welche die Vereinigten Staaten gern am Rande des Faschismus wähnen."

Im Kulturteil geht es in zwei Artikeln ziemlich gründlich zu. Meike Jansen macht sich nach einem einem Galerienrundgang durch Moskau Gedanken über die "Freiheit in der Kunst" in der Moskauer Kunstszene. Dem "Kniefall vor dem Kapital" gehöre das größte Feld, schreibt sie, wogegen zeitgenössische Werke nur kleine Nischen fänden. "In einer Stadt, in der die Ausbildung an den Kunstakademien spätestens mit dem mittleren 19. Jahrhundert endet und es jenseits eines Salons in einer privaten WG, eines Radek-nahen Projektraums und des nur im Sommer bespielten Projektraums Spider & Mouse keinen Ort gibt, wo sich junge KünstlerInnen ungeniert ausprobieren können, ist es schwierig, junge Kunst zu entdecken, die mit der des Westens nicht nahezu identisch ist."

Annelie Klostermeier bringt uns drei "neue Dramatikerstimmen" aus London nahe, die dafür stehen, dass inzwischen "auch die Theater die 'cultural diversity' ihrer Autoren und das Erbe der Kolonialherrschaft als Kapital und Thema" entdeckten. Drei neue Stücke -"talentierter Dramatiker wie Debbie Tucker Green, Trevor Williams und Steve Waters" - stünden dafür, dass "die unelitäre Autorenförderung der Metropole" neben bereits veränderten Erwartungen und Blickrichtungen nun auch "Bewegung in einen ansonsten oft sehr traditionell anmutenden Betrieb" bringe.

Und auf der Medienseite lesen wir einen Hinweis auf die heute startende Vorabendserie der Macher des "Schwarzwaldhaus"-Experiments "Leben im Gutshaus", in der Zeitgenossen feudale Lebensverhältnisse nach- und neu erleben (müssen).

Schießlich Tom.

FR, 08.11.2004

In einem Essay analysiert Harry Nutt, 15 Jahre nach dem Mauerfall, "Fremdheitserfahrungen" im brandenburgischen Provinzstädtchen Rheinsberg (ja, Tucholsky seins) und versucht sich an einer "geschichtlichen Überblendung". Sein Fazit: "Am Grienericksee jedenfalls ist der 9. November ein eher unscharfes Geschichtsdatum. Fünfzehn Jahre sind hier, wo der Stechlinsee laut Fontane Tuchfühlung hält zu den großen Eruptionen des Weltgeschehens, eine zu kurze Zeit, um Aussagen über den Fortschritt einer Region zu treffen. Was immer aus Rheinsberg und seinen touristischen Ambitionen werden mag, ein Beispiel für nicht gelingendes Zusammenwachsen von Ost und West gibt es nicht ab."

Sylvia Staude resümiert das kleine Tanzfestival "cutting edge move" im Frankfurter Mousonturm. In Times mager geht es um einen - britischen! - Irren, der sich wegen der Geräuschentwicklung bei der herbstlichen Laubbeseitigung kunstbeflissen ans Kreuz nageln ließ. Und auf der Medienseite wird der israelische Militärsender Galei Zahal porträtiert, einer der "Meinungsführer im Rundfunk des Landes" (hier kann man den Sender offensichtlich live hören).

Besprochen werden ein "Gipfeltreffen akustischer Gitarren" mit Larry Coryell, Badi Assad & John Abercrombie in Darmstadt, Terre Thaemlitz' Klanginstallation "Lovebomb" im Mousonturm, eine Ausstellung zum Thema "Der Traum vom Turm. Hochhäuser: Mythos, Ingenieurskunst, Baukultur" im Düsseldorfer NRW-Forum Kultur und Wirtschaft (mehr hier) und schließlich Ralf Rothmanns jüngster Roman "Junges Licht" (siehe dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 08.11.2004

Mauerfall können wir morgen feiern, aber nicht Deutsche Einheit - meint jedenfalls Christine Dössel mit Blick auf die Berliner Theaterszene. Seit Kultursenator Thomas Flierl seinen Wunschkandidaten für die Intendanz des Deutschen Theaters - Christoph Hein - aus dem Hut gezaubert hat, "tobt in Berlin ein Kulturkampf, in dem Begriffe wie 'Apartheid', 'Rassismus' und 'Roll-back' fallen und es wieder eine Rolle spielt, ob jemand eine Ost- oder eine West-Biografie vorzuweisen hat." Sogar die Presse, insbesondere der Theaterkritiker der Berliner Zeitung, Detlef Friedrich, spielt mit, wie Dössel schreibt. "Inhaltlich und sachlich wird in Berlin schon lange nicht mehr diskutiert. Die Diskussion ist ideologisch aufgeladen, alte Fronten tun sich auf." Flierl nutze sein autonomes Personalrecht "für einsame Entscheidungen, mit denen er den Verdacht nährt, er wolle künftig alle kulturpolitisch wichtigen Positionen mit Ost-Kandidaten besetzen, um damit seine Duftmarken zu streuen".

Thomas Urban fasst die Reaktionen polnischer Medien auf Eichingers Hitler-Film "Der Untergang" zusammen: "Die ersten Äußerungen zu dem Film, den aber offenbar die meisten Berichterstatter bis dahin nicht gesehen hatten, passten also vortrefflich unter die Überschrift 'Die Deutschen schreiben die Geschichte des Zweiten Weltkriegs um' - was in einem Großteil der polnischen Medien als verbürgte Wahrheit gilt."

Weitere Artikel: Ulrich Kühne berichtet von einem Besuch des Politikwissenschaftlers Benjamin R. Barber in Augsburg, wo er in einem Vortrag die US-Wahl erklärte und dabei "Optimismus" verbreitete. In der Reihe "Kunstsammler im 21. Jahrhundert" wird die in München lebende Sammlerin Ingvild Goetz porträtiert. Katja Schneider resümiert das Münchner Festival "Dance 2004". Stefan Koldehoff berichtet über ein zweifelhaftes Stilleben van Goghs, das derzeit in der Ausstellung "Die Brücke und die Moderne 1904 - 1914" im Bucerius-Kunstforum in Hamburg zu sehen ist. Und Cbs. kommentiert den Wirbel um die "Weber"-Inszenierung in Dresden, wo der Chor mit prekären Texten und Aussagen das Theater zu einem "Forum für nationalsozialistisches Gedankengut" werden lasse.

Besprochen werden Hasko Webers Inszenierung der "Räuber" am Berliner Ensemble, Thomas Riedelsheimers ungewöhnlicher Dokumentarfilm "Touch the Sound" über die hörgeschädigte Percussionistin Evelyn Glennie, der "angenehm archaische" Zeichentrickfilm "Das Geheimnis der Frösche", die Ausstellung "Les enfants terribles" im Museo Cantonale d'Arte in Lugano, Christian Thielemanns zweites Abonnementskonzert in München mit Brahms und Henze, die DVD des legendären "Live Aid"-Doppelkonzerts 1985 in London und Philadelphia sowie Bücher, darunter Josip Novakovichs Roman "Die schwierige Sache mit dem Glück", Michel Foucaults Vorlesungen über Staat und Macht, eine Familiengeschichte der Mommsens und eine Polemik über die deutsche Vereinigung (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 08.11.2004

Ende November wird in Afghanistan das erste nationale Theaterfestival stattfinden, und laut Maseeh Rahman wird ganz schön was los sein - und zwar nicht nur, wenn versprengte Taliban-Trüppchen mal wieder die Bühne sprengen. Allein die Regisseurin Julia Afifi hat, wie Rahman berichtet, mit ihrer afghanischen Truppe vier Stücke einstudiert: "Tschechows 'Drei Schwestern', Heiner Müllers 'Der Horatier', Otfried Preußlers 'Die kleine Hexe' und Sarah Kanes 'Blasted', welches das Publikum mit einem ganzen Arsenal von Gewalttätigkeit und Grausamkeiten konfrontiert. Dass Kanes Drama, welches bei seiner Erstaufführung im Jahr 1996 sogar in England einen Skandal provozierte, nun in Kabul zur Aufführung kommt, dürfte schon ein hinlänglicher Beweis dafür sein, dass sich das gegenwärtige Theaterschaffen ohne obrigkeitliche Eingriffe entfalten kann. Und auch die afghanischen Theaterautoren, deren Werke anlässlich des Festivals zur Aufführung kommen, greifen riskante Themen auf: die weit verbreitete Armut; die Korruption der Mujahedin-Kommandanten und der Provinzgouverneure; Kulturgüterraub und Drogenprobleme; die Situation der Frauen und den schwierigen Umgang mit Liebe, Leidenschaft und Ehebruch."

Weiteres: Im Werkstattgespräch mit Marianne Zelger-Vogt erzählen die beiden Ausstatter Rolf und Marianne Glittenberg von ihrer Arbeit am Theater: "Das Allerschwierigste im Leben eines Kostüm- und Bühnenbildners ist, einen Regisseur oder eine Regisseurin zu finden, mit denen man frei phantasieren kann. Es ist fast so, wie einen Lebenspartner zu finden." Peter Hagmann liefert eine erste zwiespältige Bilanz von den Weltmusiktagen in der Schweiz. Besprochen werden Christoph Marthalers Aufführung von 'Seemannslieder' in Gent und die erste Dürrenmatt-Inszenierung in Singapur.