Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2004. In der Welt fordert Herfried Münkler einen europäischen Imperialismus. Der sollte sich dann mit der Ukraine befassen, denn "es könnte sein, dass sich die Ukraine in wenigen Tagen in eine schreckliche Diktatur mitten in Europa verwandelt", schreibt die Schriftstellerin Oksana Sabuschko in der SZ. In der taz gibt der Philosoph Gianni Vattimo Entwarnung: Es gibt gar keine antikatholische Verschwörung. Wir verlinken auf Eminems Anti-Bush-Video.

Welt, 29.10.2004

Reden wir doch nicht immer über das amerikanische, sondern auch mal über das europäische Imperium, schlägt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler vor. Denn, ja, in seinen Augen hat die EU nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer mehr "Elemente von Imperialität" übernommen: "Das zu reflektieren war dem politischen Europa jedoch unmöglich, weil das Ordnungsmodell des Imperiums durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts als politisch nicht anschlussfähig galt. Ihrem Selbstverständnis nach waren und sind die Europäer antiimperial, die einen, weil sie unter imperialer Herrschaft gelitten, die anderen, weil sie die Überwindung imperialer Praktiken als politisch-kulturellen Lernprozess verarbeitet haben. Tatsächlich aber trat die EU an ihrer Peripherie längst als ein imperialer Akteur auf. Das Insistieren auf der Einhaltung von Menschenrechten, die Forderung nach schrittweiser Demokratisierung angrenzender Länder und schließlich die wirtschaftliche Durchdringung dieser Räume sind klassische Formen, in denen sich Imperien zu ihrer Umgebung verhalten."

In seinem Princeton-Tagebuch erzählt der Soziologe Wolf Lepenies, wie mit demokratischen Wahlhelfern nach Quakertown gereist ist: "Ich begleite Dirk, einen Geschichtsprofessor der Princeton University, und mache mich als 'Copy-Boy' nützlich, der den Bleistift trocken hält und die Broschüren ordnet. In fast jedem Haus werden wir von hohlwangigen Gespenstern empfangen, die wilde Verwünschungen ausstoßen und die Sense schwingen. Bald ist Halloween und die Hauseingänge sind abschreckend dekoriert. Im Widerspruch dazu steht die Höflichkeit der meisten Bewohner. Spott bleibt nicht aus. In einem Haus erklären Mann und Frau, sie wollten George W. Bush wählen. 'Es gibt aber auch einen Demokraten hier!' 'Wer ist es?' 'Der Hund!'"

SZ, 29.10.2004

"Es könnte sein, dass sich die Ukraine in wenigen Tagen in eine schreckliche Diktatur mitten in Europa verwandelt", schreibt die Schriftstellerin Oksana Sabuschko zu den bevorstehenden Wahlen und fürchtet Schlimmstes: "Wir haben eine ekelhafte und überwältigende Medienkampagne erlebt, denn die meisten Medien sind von der Macht kontrolliert. Wir haben all die schmutzigen Tricks gesehen, Bestechungen, Drohungen und Repressalien ebenso wie Betrügereien bei den Wahllisten, auf denen die Namen von etwa zehntausend Toten auftauchten... Vielleicht bleiben der Ukraine noch einige Tage. Die letzten Tage eines elektrisierenden Herbstes mit freien politischen Diskussionen in den Cafes und Clubs, mit Versammlungen, Manifesten und - ja, Hoffnung."

Nathan Shachar erzählt von dem Spektakel rund um Gabriel Garcia Marquez' neuen Roman "Memoria de mis putas tristes" ein hübsches Detail: "Der Erscheinungstermin war vorverlegt worden, um Raubdrucken in Mexiko und Kolumbien zu begegnen, und um den Piraterien gegenüber das letzte Wort zu behalten, baute Garcia Marquez das Schlusskapitel um. Was bedeutet, dass es sich beim Raubdruck um die Originalfassung handelt - ein literarhistorisch zumindest seltener, wenn nicht gar einzigartiger Fall."

Weitere Artikel: Mit Spannung erwartet Wolfgang Schreiber das heutige Antrittskonzert von Christian Thielemann bei den Münchner Philharmonikern: "Der Instinktmusiker am Pult: Das ist Musizieren in rückhaltloser Identifikation mit der Musik, in voller Emotionalität." Jörg Heiser stellt in der Reihe "Kunstsammler des 21. Jahrhundert" Christian Boros vor, der lieber als Trüffelschwein statt als Geier gesehen werden möchte. Alex Rühle betrachtet das Kondom in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung, Anlass ist wohl, dass es in Korea jetzt Viagra-Kondome gibt. Dirk Peitz berichtet von der Art Cologne. Jürgen Otten erwartet freudig Paavo Järvi und sein Cincinnati Symphony Orchestra in Europa. Und Joachim Kaiser preist eine weitere CD aus seiner Klassik-Sammlung an: Martha Argerichs Aufnahmen von Rachmaninow und Prokofjew.

Besprochen werden Frank Wittenbrinks Amadeus-Hitparade am Wiener Burgtheater, Harvey Pekars Film "American Splendor", das bei den Hofer Filmtagen aufgeführte NS-Melodram "Napola" und Bücher, darunter Francoise Cactus' Erzählungen "Neurosen zum Valentinstag" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 29.10.2004

So klug als wie zuvor kommt Peter Michalzik aus der Berliner Volksbühne, wo er Johan Simons "Zocker" gesehen hat: "Man kann nicht die alerten Lichtgestalten des Kapitals auf die Bühne bringen, und sie dann so etwa 'Det hab ick ja schon imma jewusst, wie wa sind' sagen lassen. So leicht gewinnt man gegen diese Smart-Player auch auf der Bühne nicht."

Weitere Artikel: Der Literaturprofessor Helmut Müller-Sievers grübelt über den amerikanischen Wahlkampf und fürchtet, dass gerade die "Beschränktheit" George W. Bushs den Republikanern zum Sieg verhelfen wird. In Times Mager fordert Alexander Kluy mehr Drogen für Kuratoren.

TAZ, 29.10.2004

"Es gibt keine antikatholische Verschwörung in Europa", winkt der Philosoph Gianni Vattimo auf der Meinungsseite ab. Auch wenn Rocco Buttiglione noch so laut schreie. "Ich frage mich, in welcher Realität die leben. Angefangen in Italien tragen die Katholiken doch ihre Prinzipien sehr offensiv vor. Das fängt in der Schule an, die bei uns immer mehr dem Vatikan unterworfen wird, gegen jedes Verfassungsprinzip. Wo steht denn geschrieben, dass die Katholiken ihre Rechte nicht wahrnehmen können? Gewiss, wenn sie es als ihr Recht betrachten, die künstliche Befruchtung zu verbieten, die Abtreibung zu verbieten und stattdessen schon Embryonen Persönlichkeitsrechte zuzusprechen, dann ist das in meinen Augen ein purer Exzess." (Mehr über den Fall Buttiglione in unserer Post aus Neapel.)

Auf den Kulturseiten stellt Thomas Winkler John Rich und Kenny Alphin alias Big & Rich vor, die erfolgreichsten Countrystars der USA. Tobias Rapp hat Eminems Anti-Bush-Video "Mosh" gesehen und behauptet: "Dieses Stück könnte die Wahl entscheiden."

Besprochen werden Johan Simons "Zocker" nach Dostojewski an der Berliner Volksbühne und Techno-CDs.

Schließlich Tom.

NZZ, 29.10.2004

Joachim Güntner sieht auf das von VW-, Karstadt- und Opel-Krisen geplagte Deutschland und wundert sich: "Alles klagt und malt schwarz, zugleich sind die Ferienflieger in den Süden bis auf den letzten Platz von Urlaubern besetzt. So wächst Deutschland das Image eines einerseits verzagten, andererseits weiterhin prassenden Landes zu."

Weitere Artikel: Der französische Architekt Jean-Michel Wilmotte hat im elsässischen Saint-Louis die Fernet-Branca-Destillerien zum "Espace d'Art Contemporain" umgebaut - gut gelungen, findet Gabriele Detterer, auch Deutsche und Schweizer werden es zu würdigen wissen. Der Steirische Herbst widmet sich in diesem Jahr der Krise, Paul Jandl hat sich das Programm angesehen und findet es "einigermaßen beliebig".

Besprochen werden die Ausstellung "Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen" im Deutschen Historischen Museum in Berlin und die Ausstellung "Gärten des Orients" in der ifa-Galerie Stuttgart.

Auf der Filmseite resümiert Heinz Kersten das Dokumentarfilmfestival in Leipzig. Besprochen werden der peruanische Film "Dias de Santiago" von Josue Mendez, Lea Pools Film "The Blue Butterfly" und Stefan Schwieterts Musikdokumentarfilm "Accordion Tribe".

Auf der Medien und Informatikseite schreibt Irena Ristic einen interessanten Hintergrundartikel über die Lage der unabhängigen Medien in Serbien, wo Sender wie B 92 oder Radio 021 weiterhin "die Rolle des Service public übernehmen" und als einzige die Vergangenheit aufarbeiten. Hans Weber berichtet vom Ende des Auslandsradios der Schweiz. Und "set." freut sich, dass die scheinbar unangefochtene Stellung des Internet Explorers durch Mozzilla und Firefox in Frage gestellt - der Marktanteil des Explorers sinkt wieder.

FAZ, 29.10.2004

Jordan Mejias schickt eine Reportage aus der schrumpfenden Stadt Detroit und zeichnet das zu erwartende düstere Bild: "Detroit hat inzwischen drei Spielkasinos, ohne deren Steuern die Stadt längst bankrott wäre. Trotz rekordverdächtiger steuerlicher Anreize scheuen sich jedoch Unternehmen weiterhin, in ein von Drogenkonsum und Korruption zerrüttetes Gemeinwesen zu investieren, das Schulen nur dem Namen nach kennt. Weniger als die Hälfte der Einwohner, von denen über achtzig Prozent schwarzer Hautfarbe sind, vermögen ausreichend zu lesen oder zu schreiben." Immerhin aber erweitert General Motors seine Aktivitäten in der Stadt und verschont die Besucher in seinem Werksmuseum mit Opel-Modellen.

Weitere Artikel: "rike" schildert in der Leitglosse aufkeimende Hassgefühle gegen unruhige Kids in Kinovorführungen. Martina Lenzen-Schulte nimmt die Beschwerden des Nationalspielers Sebastian Deisler zum Anlass, um eine allgemeine Einführung in die Volkskrankheit Depression zu halten. Heinrich Wefing ist bis nach Albuquerque, New Mexico gereist, um Auskunft über John Kerrys Wahlkampf zu geben. Andreas Rossmann freut sich, dass der hübsche Bahnhof von Rolandseck zur Kunststation umgewidmet wird. Joseph Croitoru schildert kurz die immer größeren Erfolge irakischer Selbstmordattentäter, die sich jetzt sogar öffentlich zeigen. Erna Lackner schreibt zum Tod des Fotografen Konrad Lauber.

Auf der Medienseite gratuliert Andreas Platthaus der Titanic zum 25. Geburtstag. Jochen Buchsteiner bedauert das Ende der Far Eastern Economic Review. Matthias Rüb weiß, wen Amerikas Medienmacher wählen würden. Und Michael Seewald interviewt den frisch gebackenen RTL-Chefredakteur Peter Kloeppl.

Auf der letzten Seite berichtet Andreas Rossmann über die wirtschaftliche Lage der Privatuni Witten/Herdecke. Und Günter Paul porträtiert den Homo floresiensis, der vor 18.000 Jahren auf der heute zu Indonesien gehörenden Insel Flores lebte und zwergwüchsig war.

Besprochen werden eine Ausstellung mit spanischer Porträtmalerei im Prado ("Es stimmt, dass der Betrachter auf das Porträt schaut. Aber das Porträt schaut auch zurück", führt Paul Ingendaay einen Artikel ein), Morten Tyldums Kinodebüt "Buddy" und Franz Wittenbrinks musikalische Revue "Mozart Werke Ges. m.b.H." in Wien.