Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2004. Die NZZ erklärt den Anti-Europäismus der Amerikaner - als Folge narzisstischer Kränkung. In der Welt bietet Richard Falk die Menschenrechte in mehreren Geschmacksrichtungen an. Die taz beschwört das Wunder des Gitarrenhalses. Die SZ findet Kardinal Ratzinger etwas luftig. Die FAZ schlendert über die Book Expo in Chicago.

NZZ, 14.06.2004

Jan-Werner Müller, Fellow in Oxford und Autor von "Another Country - German Intellectuals, Unification and National Identity" (mehr hier) legt einen interessanten Essay über einen in Amerika entstehenden "Anti-Europäismus" vor, der sich allerdings in erster Linie gegen Frankreich richte und dadurch zu erklären sei, "dass das republikanische Frankreich - trotz seinem stetigen Verlust an Einfluss auf der Weltbühne - noch immer beansprucht, einen moralischen und politischen Universalismus zu offerieren, der mit dem Modell der Vereinigten Staaten konkurrieren kann. Es treffen also nicht einfach gegensätzliche Interessen aufeinander. Im Gegenteil, es könnten paradoxerweise - und frei nach Freud - gerade die kleinen Unterschiede in der Auffassung universaler Werte sein, welche bei manchen den nationalen Narzissmus kränken."

Weitere Artikel: Brigitte Voykowitsch porträtiert die vietnamesische Schriftstellerin Duong Thu Huong, die zu den schärfsten Kritikerinnen des Regimes von Hanoi gehört - international bekannt wurde sie durch den "Roman ohne Namen", und demnächst erscheint auf englisch ihr Roman "No Man's Land". Und Georges Waser schickt einen gut dokumentierten Hintergrundbericht über das Verlagswesen in Großbritannien, in dem Literaturagenten und programmierte Bestseller immer größeres Gewicht erlangen.

Besprochen wird Rameaus Oper "Les Boreades" in Zürich.

FR, 14.06.2004

Für "Das Werk", den Abschluss ihrer Alpentrilogie, erhält Elfriede Jelinek zum zweiten Mal den Mühlheimer Dramatikerpreis. Angesichts der schwachen Konkurrenz geht das für Stefan Keim in Ordnung. "Dass die anderen Nominierten überhaupt keine Rolle spielten, spricht nicht für den oft beschworenen 'guten Jahrgang' der neuen Stücke. Moritz Rinkes Weltverbesserungssatire 'Die Optimisten', Falk Richters Globalisierungslovestory 'Electronic City', Martin Heckmanns 'Kränk', Marc Beckers Fußballstück 'Wir im Finale' - alle waren den Juroren zu seicht. Der Tiroler Newcomer Händl Klaus bekam für 'Wilde oder Der Mann mit den traurigen Augen lobende Erwähnungen', aber - wenn man von Sebastian Nüblings unglaublich präziser Inszenierung abstrahiert - ist der Text doch nicht viel mehr als ein hübsch absurd aufgebackener Ionesco mit ein bisschen Kafka-Glasur."

Besprochen werden Jens-Daniel Herzogs "grundsolide, vorhersehbare" Version des "Hamlet" im Stadttheater Mannheim, das neue Album der Beastie Boys "To The 5 Boroughs" und politische Bücher: Andreas Rödders Übersicht zur "Bundesrepublik Deutschland 1969-1990" sowie zwei Biografien über die Schweizer Sozialistin Margarethe Hardegger (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 14.06.2004

Sind die Menschenrechte noch universell gültig? Richard Falk, emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität Princeton, hat da so seine Zweifel. "Die Idee der Menschenrechte ist so etwas wie die Muttermilch der internationalen Gemeinschaft. Dummerweise aber werden diese Menschenrechte heutzutage in mehr Geschmacksrichtungen angeboten als Kaffee oder Softdrinks. Hätten Sie lieber die asiatische, die islamische, die indigene, ökonomische, europäische oder die U.S.-amerikanische Version? Und wie hätten Sie Ihre Menschenrechte gern serviert: mit Sanktionen, mit Regimewechsel, als Aushängeschild international operierender Konzerne, oder als die gute alte moralische Haltung?"

Architekt Hans Kollhoff erklärt im Interview mit Rainer Haubrich, warum er in der Architektur weniger Kunstanspruch, dafür mehr Handwerk sehen will und wie der Wiederaufbau der Schinkelschen Bauakademie dabei helfen kann. "Die Bauakademie soll das Forum sein, wo die Bestände präsentiert werden, nicht museal, sondern stimulierend für aktuelle Debatten. Im Grunde wollen wir uns die Frage stellen 'Was ist Architektur?' Das klingt zunächst banal, hat aber Zündstoff. Denn wir bezweifeln, dass es sich bei alldem, was heute unter diesem Begriff läuft, auch tatsächlich um Architektur handelt. Selbst in den Feuilletons wird Architektur heute als Entertainment-Faktor betrachtet. Das war Architektur bis zu einem gewissen Grad immer, aber dieser Aspekt wurde immer nachgeordnet den eigentlichen Aufgaben des Metiers, nämlich nützlich, dauerhaft und schön zu bauen."

TAZ, 14.06.2004

Das muss man hören, behauptet Diedrich Diederichsen: "Geschrängel. Geklöppel. Die Wunder des Gitarrenhalses. Perkussion ohne Beat. Von Ferne eine Stimme. Plötzlicher Wechsel des Registers: Ein sommerliches Gewitter elektrischer Instrumente verdunkelt kurz das ewig Wiesenhafte dieser endlosen und geradezu beängstigend befreiten Musik. Die Musik der 'No Neck Blues Band' ist, man kann es nicht anders sagen, formlos."

Weiteres: Ariel Magnus wundert sich über die nun erschienene, merkwürdig verstümmelte deutsche Variante von Saddam Husseins Roman "Zabibah und der König". Besprechungen widmen sich "mach die augen zu", das erste Tanzstück des Theaterregisseurs Armin Petras, das den Zuschauer "recht ratlos" zurücklässt, dem Berliner Konzert des scheidenden Phil Collins sowie zwei Büchern des österreichischen Schriftstellers Wolfgang Hermann, "diesem unterschätzten und insgesamt viel zu wenig gelesenen Meister der literarischen Miniatur" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 14.06.2004

Am Freitag druckte die FAZ einen Text von Kardinal Ratzinger (unser Exzerpt hier), heute würdigt ihn Gustav Seibt als Premierminister Gottes. und erklärt seine neuen europäische Geschichtstheologie so: "Der radikale, fundamentalistische Islam zeigt die Pathologie der Religion, man darf explizieren: die völlige Verleugnung weltlicher, humaner Vernunft. Doch auf der anderen Seite, der der Aufklärung, für die der Westen angeblich stehe, gab es längst auch die Pathologien der Vernunft; sie zeigten sich in den rationalistischen Versuchen, eine völlig neue Welt zu konstruieren, etwa im Kommunismus, bis hin zu den säkularen Exzessen von Pol Pot. Symmetrisch stehen der Fundamentalismus der bedingungslosen Religion und der Fundamentalismus einer entgrenzten irdischen Vernunft einander deshalb gegenüber, weil der einen Seite jeweils ein heilsamer Anteil der anderen fehlt: Fundamentalismus ist Religion ohne einschränkende praktische Vernünftigkeit; Rationalismus ist Vernunft ohne einschränkende Gläubigkeit. So umreißt Ratzinger ein neues Zeitalter der Extreme... Was bei Ratzinger Logos und Liebe heißt, muss Lebensform werden, gelingender Alltag, sonst bleibt das alles tönendes Erz und klingende Schelle."

Weitere Artikel: Alex Rühle spricht mit Dietmar Preißler anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Bonner Haus der Geschichte über Nazi-Würfelspiele namens "Bomben auf England" oder Flaschen mit Hochwasser aus Dresden. Holger Liebs beschreibt die Bemühungen des Kunstfahnders Ralph Jentzsch, ein George-Grosz-Museum (ein paar Bilder) zu gründen und dafür weltweit illegal verkaufte Werke wieder nach Deutschland zu holen. Dirk Peitz stellt die fünfte Ausgabe der Kunstbiennale Manifesta vor, diesmal im baskischen San Sebastian. Alexander Kissler hält uns im Streit um den Direktor des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts, Gerhard Besier, und dessen seltsames Verhältnis zu Scientology auf dem Laufenden: Nun hat sich Wolfgang Thierse eingeschaltet und von Sachsens Wissenschaftsminister Matthias Rößler Klärung verlangt. Jörg Häntzschel nennt die Kulturinstitutionen, die sich an Ground Zero ansiedeln sollen. "Mau" sinniert über die 800-fache Aufstellung von Richard Wagners Hund in Bayreuth. Kristina Maidt-Zinke gratuliert dem Schriftsteller Peter O. Chotjewitz zum Siebzigsten. Harald Eggebrecht trauert um die britische Geigerin und Dirigentin Iona Brown. Auf der Medienseite überreicht Hermann Unterstöger Regisseur Helmut Dietl schließlich Glückwünsche zum Sechzigsten.

Besprochen werden von Sam Greens und Bill Siegels "politisch ausgewogene" Dokumentation über die militante amerikanische Studentengruppe Weathermen, Jonathan Hensleighs Comic-Western "The Punisher", Richard Pearces filmisches Stadtporträt "The Road to Memphis", Rene Polleschs "Hallo Hotel . . .!" und zwei Flughafen-Projekte von Rimini Protokoll beim Festival Theaterformen in Hannover und Braunschweig, Armin Petras' "gefällige" Tanzproduktion in Berlin, das Konzert mit der britischen Dirigentin Sian Edwards bei der Münchner Musica viva, und Bücher, ein monumentaler Kommentar zu James Joyce' "Ulysses" sowie Jacques Derridas Heidelberger Gedenkrede zu Hans-Georg Gadamer (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 14.06.2004

Denis Scheck schlendert über die Book Expo in Chicago und schildert seine widersprüchlichen Eindrücke: "Nirgendwo auf der Welt wird das, was man unter Literatur im emphatischen Sinne versteht, so mit Füßen getreten, mit dem Dreck abgeschmackter Kommerzialität besudelt..." Aber auch: "Nirgendwo strahlt der Enthusiasmus einer nicht bloß auf den schnellen Umsatz schielenden Buchindustrie heller, ist der Einsatz engagierter Buchhändler und ums Gemeinwohl bemühter Bibliothekare höher zu veranschlagen und die Passion wahrer Leserschaft spürbarer als hier." Und schließlich: "Nirgendwo ist es schwerer, das eine vom anderen klar zu trennen." Scheck verrät auch schon einiges über Philip Roth' neuen Roman "The Plot against America", der im Herbst erscheint und auf der Fiktion beruht, das Charles Lindbergh Roosevelt bei den Wahlen von 1940 schlägt und sich mit den Nazis arrangiert.

Weitere Artikel: Aufmacher ist eine Reportage Michael Hanfelds, der Afghanistan bereiste und zum Schluss gelangt, dass sich die stolzen Paschtunen kaum werden erobern lassen. Reiner Kunze (mehr hier) sagt in einem sehr kurzen Kommentar nach Absegnung der Rechtschreibereform den Untergang des Abendlandes an. "Rm." glossiert den Umstand, dass im deutschen Fernsehen inzwischen sogar verständliches Hochdeutsch mit Schweizer Akzent untertitelt wird. Andreas Rossmann hat sich Jedediah Purdys (mehr hier) Eröffnungsvortrag zur Bonner Biennale angehört. Gerhard Rohde schreibt zum Tod der Geigerin Iona Brown. Ellen Kohlhaas meldet, dass zum Gedenken an den früh verstorbenen Cellisten Boris Pergamenschikow ein Preis für junge Cellisten ausgelobt wurde.

Auf der Medienseite berichtet Zhou Derong über eine geplante Zusammenarbeit zwischen dem ZDF und der Shanghai Media & Entetainment Group.

Auf der letzten Seite schickt Christian Schwägerl eine Reportage von einem Acker mit gen-behandeltem Mais in Sachsen-Anhalt, das die grüne Gentechnik als hauptsächlichen Wirtschaftsfaktor des Landes durchsetzen will. Jürg Altwegg berichtet von wiederholten Rassismus-Klagen gegen Brigitte Bardot, die in ihren Büchern gerne auf die Araber (aber auch auf Schwule, Frauen in der Politik und Jäger) schimpft. Und Heinrich Wefing schreibt ein Profil des in Los Angeles lehrenden Germanisten Cornelius Schnauber, der sich um die Exilforschung verdient machte und sein Archiv jetzt der Berliner Akademie der Künste und dem Filmmuseum übergab.

Besprochen werden eine Schlagerrevue mit Götz Alsmann in Frankfurt, das laut Irene Bazinger missglückte Spektakel "mach die augen zu und fliege oder krieg böse 5" von Fritz Kater und Pernille Sonne am Berliner Gorki-Theater, Michel Gondrys und Charlie Kaufmans Film "Human Nature" und Sachbücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).