Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2003. Walter Jens kann sich im Gespräch mit der SZ nicht erinnern, der NSDAP beigetreten zu sein. In der NZZ macht sich der Althistoriker Christian Meier angesichts der Anglisierung Sorgen um den den Zustand der deutschen Sprache. Die taz fragt den linken Historiker Richard J. Evans, was ein linker Historiker ist.

SZ, 08.12.2003

Alle Wochen wieder... schafft es die aktuelle SZ nicht ins Netz. Deshalb zunächst Text pur.

Willi Winkler befragt - man könnte fast sagen verhört - Walter Jens zur völkischen Vergangenheit. War er in der NSDAP? Dazu Jens: "Ich möchte mit großer Gewissheit sagen: Nein, denn ich wüsste nicht, wohin ich hätte gehen sollen. Wo befand sich - wenn es sie gab - die Ortsgruppe Eppendorf? Bin ich da hineingegangen und habe gesagt: 'Heil Hitler, ich will in die NSDAP eintreten'? Ich glaube, meine Mutter hätte mich rausgeschmissen. Aber es gibt diese Karten, erst war's eine, jetzt sind's zwei, die sich in kurioser Weise widersprechen."

Anke Sterneborg genießt die sinnliche Atmosphäre auf dem Europäischen Filmpreis, fragt sich aber, ob "Good Bye Lenin" wirklich fünf Preise verdient hat. Helmut Kerscher hat sich prächtig amüsiert, als nun am Karlsruher Bundesgerichtshof der Fall von Kleists Dorfrichter Adam neu verhandelt wurde. Ralf Berhorst referiert einen Vortrag des britischen Wissenschaftshistorikers Robert Fox, der sich in Berlin über die museale Präsentation der Technik Gedanken machte. Christoph Bartmann zeichnet eines der seltenen Fernsehinterviews von J. M. Coetzee nach, der seiner Interview-Abneigung auch dieses Mal alle Ehre macht. G.K. schreibt zum Tod des Malers Winfred Gaul (mehr). Susan Vahabzadeh meldet den vorläufigen Sieg des unabhängigen Kinos - nun dürfen doch wieder DVDs an Oscar-Juroren verschickt werden. Dazu singt sie ein Loblied auf eben dieses Medium, und Tobias Kniebe freut sich über die Indiana-Jones-Trilogie als Box.

Auf der Medienseite gewinnt Klaus Ott dem Betrugsfall der Trickfilmfirma Asset Media eine Pointe ab - der Vizechef von Holtzbrinck war Aufsichtsrat im Skandalunternehmen. Raphael Honigstein beschreibt die Formatexperimente der englischen Zeitungen. Und Hans Hoff zeigt sich genervt von Thomas Gottschalk.

Auf der Literaturseite protokollieren Thomas Meyer und Martin Treml Gertrud Bings Korrespondenz mit dem Hamburger Senat, in der Bing eine Biografie über Aby Warburg (die gleichnamige Stiftung) andenkt. "hera" empfiehlt eine kostenlose CD-Rom mit Dokumenten des Weltkulturerbes.

Besprochen werden Tschaikowskys Oper "Pique Dame" unter Daniel Barenboim und Mariusz Trelinski in Berlin, ein üppiger shakesspearescher "Henry IV" mit Ethan Hawke als Hotspur in New York, Markus Mischkowskis schön ernsthafte Kinokomödie "Westend", die schwindelerregende Bonner Ausstellung "Schätze der Himmelssöhne" des Palastmuseums Taipeh, und Bücher, darunter Georg M. Oswalds Erzählung "Im Himmel" sowie Joachim Poeschkes Bildband über die Wandmalerei der Giottozeit in Italien (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 08.12.2003

Berlin, genauer gesagt Prenzlauer Berg: Petra Kohse berichtet über eine Performance des Gob Squads, die ausschwärmen, nach Ausführung einer abgesprochenen Choreografie wieder zusammenkommen und ihre aufgezeichneten Einzeltaten anschauen. Simon etwa "bietet verblüfften Leuten seine Hilfe an, trägt eine junge Frau über die Schönhauser Allee, fragt eine Studentin nach dem Glück und macht die Erfahrung, dass sich die Leute oft abwenden, wenn er lächelt, aber fröhlich winken, wenn er sie anblafft."

Seinem faszinierten Artikel zufolge, der seltsamerweise auf der Literaturseite zu finden ist, will Christoph Schröder zumindest manchmal wie Mark Benneke sein. Der nämlich untersucht Insekten, die er Leichen entnimmt, und bestimmt so deren Todeszeitpunkt. Adam Olschewski erzählt in Times mager, wie schnell er auflegt, wenn der Demiurg sich meldet. Gemeldet wird, dass Walter Jens in Sachen NSDAP-Mitgliedschaft erneut unter Druck gerät.

Auf der Medienseite versichert Markus Brauck, dass die gestellte Bundestagsrede von Thomas Gottschalk eher gemütlich als ätzend war. Vergesst es, ruft Uwe Ebbinghaus den deutschen Jung-Fernsehköchen zu. Niemals würden sie die Leichtigkeit des großen Vorbilds Jamie Oliver erreichen.

Besprochen werden eine Übersichtsausstellung zu "Fotografie und das Wirkliche" im Kölner Museum Ludwig ("Sind Gurskys Großformate nicht auch eine Art Piktoralismus?") und Bücher, Anke Schwarzers deutliche Untersuchung über die deutschen Geschäfte mit der Apartheid, "Deutsches Kapital am Kap", sowie zwei Bände zum jüdischen und nicht-jüdischen Widerstand gegen das NS-Regime (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 08.12.2003

Anna Lehmann fragt den britischen Historiker Richard J. Evans (mehr), was einen linken Historiker ausmacht. Dafür erzählt er dann auch, was seine Kollegen falsch machen. "Nachdem man den Marxismus kritisiert hat, weil er alles auf die Auswirkungen der wirtschaftlichen Lage reduzierte, wird nunmehr alles auf Kultur und Ideologie zurückgeführt. Das heißt aber, dass man das theoretische Baby mit dem marxistischen Badewasser ausschüttet. Viele linke Historiker, die alles aus kultureller Perspektive interpretieren, vernachlässigen den ökonomischen und sozialen Kontext."

Weitere Artikel: Cristina Nord findet, der Europäische Filmpreis hätte an Lars von Trier und "Dogville" gehen müssen, zumindest "in künstlerischer Hinsicht". Besprochen wird die Ausstellung zum Gesamtwerk August Natterers, eine der Entdeckungen des Nervenarztes Hans Prinzhorn, in Heidelberg.

Auf der Meinungsseite fordern W. Matiaske und G. Grözinger eine Akademikerabgabe von etwa 50 Euro im Monat. In der zweiten taz spricht Ulrike Herrmann mit dem recht selbstgewissen "Obersteuertrickser" Franz Konz (Vita), der für seine Berufung sogar schon mal ins Gefängnis gegangen ist. Auf der Medienseite meldet Gabriele Lesser, dass Lew Rywin, der Filmproduzent von "Schindlers Liste", in Polen wegen einer Korruptionsaffäre vor Gericht steht.

Schließlich Tom.

NZZ, 08.12.2003

Der Althistoriker und Sprachpfleger Christian Meier sorgt sich angesichts einer zunehmend grassierenden "Anglomanie" ausführlich um den "Zustand der deutschen Sprache". "Positiv ausgedrückt heißt das, dass es bei uns chic ist, sich auf Englisch zu äußern; negativ bedeutet es eine Tendenz zur Vermeidung deutscher Sprache, vielleicht gar zur Flucht aus ihr - wie wenn man sich genieren müsste, deutsche Wörter zu gebrauchen."

Weiteres: Marc Zitzmann fasst die Antisemitismusdebatte in Frankreich zusammen. Paul Jandl porträtiert den in Wien lebenden bulgarischen Schriftsteller Dimitre Dinev, der mit "Engelszungen" ein faszinierendes Romandebüt vorgelegt hat. Jan-Heiner Tück kommentiert die "im Vorfeld mit Spannung" erwartete Rede Joseph Kardinal Ratzingers zum 40. Jahrestag der Verabschiedung des Dokuments über die Liturgie des II. Vatikanischen Konzils. Von der anscheinend "unter einem günstigeren Stern stehenden" Gala zur Verleihung des Europäischen Filmpreises (hier zur Homepage) berichtet Claudia Schwartz. Dass Wolfgang Beckers Komödie "Good Bye, Lenin" in sechs Kategorien ausgezeichnet wurde, wird hier vermeldet. Besprochen werden die mit Buhrufen quittierte Premiere von Richard Wagners "Fliegendem Holländer" an der Wiener Staatsoper, das mit fünzehnminütigem tosenden Beifall gefeierte "Lulu"-Ballett in Stuttgart und der kontrastreiche Konzertabend des argentinischen Pianisten Bruno Leonardo Gelber in Zürich.

FAZ, 08.12.2003

Jürgen Kaube untersucht die von Kulturministerkonferenz erlassenen neuen Standards für die deutsche Schulbildung. Michael Althen meldet, dass "Good Bye, Lenin!" den Europäischen Filmpreis dominierte. M. H. glossiert die Tatsache, dass vor einem Karlsruher Gericht spaßeshalber die Vergehen aus Kleists "Zerbrochenem Krug" verhandelt wurden. Andreas Rosenfelder kommentiert den endgültigen Weggang der Popkomm aus Köln. Caroline Neubaur gratuliert dem Psychoanalytiker Hermann Beland zum Siebzigsten. Der Rechtsprofessor Dietmar Willoweit beschwert sich über die beschlossene Abschaffung des Obersten Landesgerichts von Bayern. Jordan Mejias liest Zeitschriften mit bioethischen Themen aus den USA

Auf der Medienseite schickt Robert von Lucius einen ersten Bericht über Ingmar Bergmans letzten Film "Sarabande", der jetzt im schwedischen Fernsehen gezeigt wurde. Matthias Rüb berichtet, das die amerikanische Linke versucht, ein Netz von Talkradios aufzubauen, um den so erfolgreichen rechten Talkmastern Konkurrenz zu machen.

Auf der letzten Seite besucht Matthias Hannemann das Nobelinstitut in der norwegischem Hauptsstadt Oslo, das für die Vergabe des Friedensnobelpreises zuständig ist. Andreas Rosenfelder stellt einen Dokumentarfilm über Hölderlin von Harald Bergmann vor. Dietmar Polaczek schreibt ein Profil über den neuen Intendanten der Mailänder Scala, Mauro Meli.

Besprochen werden eine Ausstellung des Barockmalers Guercino in Mailand, Tschaikowskis "Pique Dame" in der Berliner Staatsoper, ein Konzert der Sinfonietta Cracovia mit John Axelrod in Frankfurt, Fritz Katers Stück "We Are Camera/Jasonmaterials" in Hamburg und Sachbücher, darunter Carl Schmitts jetzt veröffentlichte Tagebücher von 1912 bis 15.