Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2003. Viel von sich reden macht Alban Nikolai Herbsts Roman "Meere", aus dem der Autor nach Intervention seiner Ex-Freundin wegen sexuell expliziter Stellen nicht mehr lesen darf. SZ, FAZ und taz berichten. Die NZZ stellt uns ein neues Universal-Alphabet vor. In der FR beschreibt Nathan Sznaider, wie der palästinensische Terror in Israel die Politik abschaffte.

SZ, 26.09.2003

Zunächst die Meldung, dass Edward Said gestorben ist, hierzu ein Link des Tages.

Der amerikanische Publizist David Rieff plädiert dafür, in internationalen Fragen und gerade gegenüber den Vereinten Nationen etwas realistischer zu werden: "Leicht fallen wird dies nicht. In den Köpfen vieler wird Realismus assoziiert mit der Rechten, mit den Verbrechen eines Henry Kissingers und der Rücksichtslosigkeit der derzeitigen neo-liberalen Ordnung. Doch ebenso wie es viele Spielarten von Idealismus gibt - von der naiven Eine-Welt-Ideologie bis hin zu dem von Washington aufpolierten, mit den Muskeln spielenden liberalen Imperialismus a la Woodrow Wilson - so hat auch der Realismus viele Varianten. Ein Realist von der Art, wie ich ihn beschreibe, wird eher gegen den Versuch opponieren, Demokratie mit Waffengewalt zu erzwingen als ein Idealist, der - leider - Gewalt fast immer rechtfertigt, wenn ihm der Anlass verheißungsvoll erscheint. "

Nach Maxim Biller hat nun auch Alban Nikolai Herbst (mehr hier) Ärger mit der Ex und eine Einstweilige Verfügung am Halswie von Ralf Bernhorst zu erfahren ist: "Die Klägerin, so war zu hören, ist seine ehemalige Lebensgefährtin, die durch den Roman, den der Verlag als 'provozierende Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Leben' bewirbt, ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sieht."

Jürgen Otten dröselt ausführlichst auf, wie Berlins Komische Oper von ihrem Chefregisseur Andreas Homoki immer tiefer in die Krise geritten wird. Robert Frank berichtet, dass Quelles in Braunschweig eines seiner Einkaufszentren bauen will, und zwar ausgerechnet auf dem Schlossplatz. Alexander Kissler erinnert an den Schriftsteller und Zivilisationskritiker Gerhard Nebel, der heute vor hundert Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Robert Lepages Drachen-Trilogie in Berlin, die Schau von Georg Baselitz' Afrika-Sammlung in der Pinakothek der Moderne in München, Eberhard Junkersdorf "fantastische" Verfilmung des "Till Eulenspiegel", Matthias Günthers beschleunigte "Faust II"-Inszenierung am Theater Basel sowie die Konzertreihe "Schubertiade" im vorarlbergischen Schwarzenberg.

Und Bücher, darunter Arthur Phillips" großartiger Roman "Prag", Eric-Emmanuel Schmitts Bestseller "Oskar und die Dame in Rosa" und Henning Mankells Krimi "Vor dem Frost" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 26.09.2003

Dorothea Marcus porträtiert den Autor Thomas Jonigk, der gar nicht mehr weiß, ob er wirklich noch Theater-Stücke schreiben soll - "für diesen in seinen Augen selbstreferenziellen, inzestuösen und elitären Betrieb mit zweifelhafter Existenzberechtigung". "Er ist sogar aus zwei Aufträgen herausgegangen, in Wien und Hamburg. 'Mich stört der Zynismus, der zum Stil geworden ist. Ich musste einen vorläufigen Schlussstrich ziehen, um meine Liebe fürs Theater nicht zu verlieren.' Eine frühere Agentin sagte ihm einmal: 'Man muss als Autor an den Punkt kommen, die Welt genauso interessant zu finden wie sich selbst.' Das hat ihn so geschockt, dass er sich gerade deshalb um Bezug zur Außenwelt übt."

Auch Alban Nikolai Herbst darf nach einer einstweiligen Verfügung durch die Ex-Freundin nicht mehr aus seinem neuen Roman "Meere" vorlesen, was für Gerrit Bartels nach hinten losgeht: "Wo man aber als Leser sowieso immer mit einigen autobiografischen Einfärbungen rechnet (und sich nicht weiter darum kümmert: Um das Werk, Leute, das Werk, geht es doch!), so wird man auf die 21-jährige Irene nach einem Urteil wie diesem neugierig gemacht: So, so, eine Exfreundin von Herbst, das ist jetzt aber interessant." Gedruckt wird außerdem Moritz Baßlers überarbeitete Rede von der Feuilleton-Rede in Halle (mehr hier), in der Baßler weniger Distinktion und Hochkultur, sondern irgendwie mehr Pop fordert.

Besprochen werden Christa Wolfs Jahreschronik "Ein Tag im Jahr" und Stings neues Album "Sacred Love".

NZZ, 26.09.2003

Auf der Medien- und Informatikseite stellt Detlef Borchers den neuen Unicode-Standard vor. Damit sollen erstmals alle Alphabete der Welt in einer einzigen Datenstruktur Platz finden. Warum das so wichtig ist, erklärt er am Beispiel Afghanistans: "Mit der Zerschlagung des Taliban-Regimes in Afghanistan kamen unter dem Uno-Mandat nicht nur westliche Militärs in das Land, sondern es kehrte auch die westliche Technik wieder zurück. Verfemte Computer und Drucker etwa, die zum Schreiben von Ankündigungen und Erlassen benutzt wurden. Doch nur Minderheiten konnten die in Arabisch oder Devanagari und Gurmukhi (zwei der neun indischen Schriften) verfassten Aufrufe lesen ... All diese Sprachen unterscheiden sich nicht nur im Aufbau, sie verfügen überdies über eigene Schriftzeichen. Die UNDP holte islamische Linguisten, Farsi-Experten und irische Schriftsetzer ins Land, die dem Computer die richtigen Schriften beibrachten. Ihr Werkzeug: Unicode, ein Schriftcodierungssystem, bekannt auch als ISO-Norm 10646."

Im Feuilleton gibt uns Claudia Kramatschek einen Einblick in die indische Buchszene und verweist auf zwei Internetseiten, die Neuigkeiten aus der indischen Literaturszene bieten: littlemag und biblio-india. Barbara von Reibnitz stellt die letzte Doppelnummer des Merkurs vor. Besprochen werden eine Ausstellung über den Architekten und Schinkel-Schüler Ludwig Persius im Potsdamer Schloss Babelsberg, ein "Faust II" am Theater Basel und die Uraufführung von Einojuhani Rautavaaras Rasputin-Oper in Helsinki.

Auf der Filmseite berichtet Paul Jandl über einen Streit um das österreichische Filmfestival Diagonale. "Michael Haneke, Ulrich Seidl, Peter Tscherkassky und Barbara Albert drohen mit einem Boykott der jeweils im März in Graz stattfindenden Leistungsschau des österreichischen Films. Sogar über ein Gegenfestival wird nachgedacht ... Dem zuständigen Staatssekretär Franz Morak werfen die Filmschaffenden vor, die Verträge der bisherigen Direktoren aus politischen Gründen nicht verlängert zu haben. Sie seien durch eine dem Staatssekretariat genehme Führung ersetzt worden."

Weitere Artikel: Geri Krebs schreibt über das Filmfestival in San Sebastian. Besprochen werden Gary Ross' "Seabiscuit" (homepage), Lars von Triers "Dogville" (homepage), James Mangolds "Identity" (homepage) und Niki Caros "Whale Rider" (homepage).

FR, 26.09.2003

Natan Sznaider beschreibt ziemlich eindrücklich, wie der palästinensische Terror in Israel die Politik abgeschafft hat: "Der Terror der letzten Jahre hat in Israel die inneren Grundlagen für Politik und Recht systematisch zerstört. Dem Terror fallen alle zum Opfer: Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Linke und Rechte, Juden und Araber. Die Unterscheidungen spielen keine Rolle mehr; der Primat des Todes lässt keine Politik mehr zu. Denn um diesen wahllosen Terrorismus, der keine Rationalität mehr kennt, zu bekämpfen, müssen sich die die Angegriffenen selbst der Gegenrationalität bedienen. Wenn der Selbsterhaltungstrieb außer Kraft gesetzt ist, kann man auch keine rationalen Gegenmaßnahmen mehr treffen, die Spielregeln der rationalen Auseinandersetzung sind aufgehoben. Damit ist ein liberaler Staat in seinem Selbstverständnis bedroht. Selbstmordattentäter greifen die Essenz des rationalen Staates an, zwingen ihn zur Aufgabe vernünftiger Prinzipien. Die Menschen werden gezwungen, sich dieser Situation anzupassen, um zu überleben."

Weiteres: Dondog Batjargal und Helmut Höge liefern eine kleine politische Geschichte der Mongolei. Stefan Keim feiert den vom neuen Intendanten Klaus Weise verursachte Premierentaumel in Bonn. In ihrer Gerichtsreportage erzählt Verena Mayer vom Fall des Christian B., dessen Leben mit sieben Jahren auf die falsche Bahn geriet und der nun wegen Mordes vor Gericht steht. Und in Times mager zerhackt Rudolf Walther die ideologische Krücke der "Zivilgesellschaft".

Besprochen werden die Andy-Warhol-Ausstellung in Frankfurt, für die das Museum für Moderne Kunst erstmals Warhols legendäre Kram-Kartons, die große Adorno-Ausstellung in Zürich, Christian Petzolds diskretes Gefühlskino "Wolfsburg" und Politische Bücher, darunter Benjamin R. Barbers USA-Betrachtungen "Imperium der Angst", Enzo Traversos Genealogie des Nazi-Terrors "Moderne und Gewalt" sowie letzte Texte von Herbert Riehl-Heyse "Jugendwahn und Altersstarrsinn" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 26.09.2003

Die "ganze Wucht des fordernden Fleisches" bekommt man heute in der FAZ doppelt zu spüren.

Thomas Wagner bespricht die Ausstellung "Nackt" im Frankfurter Städel, die Akte der beginnenden Moderne zeigt, und wirft ihr einen gewissen Kommerzialismus vor: "Nicht nur die bedenkliche Homogenisierung der Thematik lässt die Schau am Ende allzu einseitig werden. Das Ausblenden all jener Facetten des Körpers, die weniger eingängig, eher widerspenstig, wenn nicht gar abschreckend wirken könnten, nährt abermals den Verdacht, hier sei von Beginn an unverhohlen auf eine möglichst große Zahl von Besuchern spekuliert worden."

Und Richard Kämmerlings stellt in einigen neueren deutschen Romanen (nämlich Maxim Billers "Esra", Michael Lentz' "Liebeserklärung" und Alban Nikolai Herbsts "Meere") eine Tendenz zum Pornografischen fest, die ihm wegen des autobiografischen Charakters der Romane nicht geheuer ist: "Man könnte sie Liebesromane nennen, wären sie nicht so hasserfüllt. Doch gerade das macht ihr Provokationspotenzial aus. Denn in der Ausstellung von Intimität, der detaillierten Beschreibung sexueller Vorlieben und Geschlechtsorgane des Partners findet eine Verletzung des Privaten statt, die einem Verrat gleichkommt: 'Deine bewundernswerte Dildotechnik. Wie du den Kunstschwanz ins Loch jagst, wieder hineindrückst, immer schneller, vor- und zurückstößt . . .'"

Weitere Artikel: Ausführlich zitiert wird Hans Magnus Enzensbergers geharnischte Kritik an der Süddeutschen Zeitung, die jüngst den Namen der Anonyma ("Eine Frau in Berlin") enthüllte. Christian Geyer zitiert aus Jürgen Habermas' Eröffnungsvortrag zum Frankfurter Adorno-Kongress - der Soziologe warnt die Naturwissenschaftler vor einer schlecht metaphysischen Ontologisierung ihres Weltbilds. "igl" berichtet in der Leitglosse von einer Lesung Christa Wolfs in der Akademie der Künste. Andreas Rossmann resümiert ein Essener Symposion zur deutschen Gegenwartsliteratur. Jürg Altwegg schildert den Fall einer Mutter, die ihrem gelähmten Sohn auf dessen in einem Buch geäußerten Wunsch eine Todesspritze gab - ein Fall, der die französische Öffentlichkeit in Aufruhr versetzt (hier ein Artikel aus Le Monde zum Fall). Ludger Fittkau berichtet, dass in den Niederlanden nach der Sterbehilfe auch die Beihilfe zum Suizid legalisiert werden soll. Andreas Rossmann würdigt die mäzenatischen Verdienste des Krupp-Managers Berthold Beitz. Axel Föhl fürchjtet um das Ungarische Elektrotechnische Museum.

Auf der letzten Seite bespricht Dietmar Dath Pat Benatars neue CD. Michael Jeismann schreibt ein Profil des tunesischen Autors Hassan Nasr. Und Joseph Croitoru beerichtet, dass das Wiesenthal-Zentrum im Baltikum mit Hilfe von Kopfgeldern nach letzten überlebenden Nazi-Tätern sucht. Auf der Medienseite stellt Michael Hanfeld die Initiative "Innocence in Danger" vor, die sich um den Schutz von Kindern im Internet verdient macht. Und Souad Mekhennet schreibt eine eindrückliche Reportage über eine Bombenexplosion, die er in Bagdad miterlebte.

Besprochen werden die Ausstellung stalinistischer Kunst in der Frankfurter Schirn, Matthias Günthers "Faust II"-Inszenierung in Basel und der deutsche Zeichentrickfilm "Till Eulenspiegel".