Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2002. FAZ, SZ und NZZ liefern heute Berichte über die Freuden deutscher Akademiker: ein Ernst-Jünger-Symposium, Judith Butlers Adorno-Vorlesung, eine Tagung über die "Kampfvokabel" Barbar. Außerdem: Die NZZ begutachtet die Narben der Thatcher- und Blair-Jahre am Körper britischer Museen. Die taz berichtet über den Skandal um die antisemitische ägytische Seifenoper "Faris belaa Gawaad". Und in der FR erklärt Rocko Schamoni sich für "maximal frei".

FAZ, 18.11.2002

Kerstin Holm berichtet, wie sich die russischen Verlage auf die nächste Frankfurter Buchmesse vorbereiten. Russland ist 2003 Gastland der Buchmesse. Während die kleinen Verlage emsig an ihrem anspruchsvollen Programm feilen, bereitet ein Organisationskomitee, geleitet von Kulturminister Schwydkoi und Presseminister Lessin, eine angemessene Präsentation Russlands als "geistige Großmacht" vor. "Ein Indiz für das zu Erwartende war möglicherweise der diesjährige russische Messestand, der die Bücher eher verbarg als sie zu präsentieren. Im Mittelpunkt standen vielmehr ein Porträt von Präsident Putin sowie ein patriotisches Dauervideo über den Präsidenten, seine Minister sowie russische Birken und Folklore. Sollten sich derartige Vorzeichen bewahrheiten, so kann man Besuchern empfehlen, zum Ausgleich den Sammelstand von fünfzehn unabhängigen Verlagen zu besuchen, der unter dem Titel 'Moskauer Literarisches Cafe' auf der Messe zu finden sein wird."

Weitere Artikel: Michael Siebler denkt über die Bedeutung der "Himmelsscheibe von Nebra" nach. Michael Jeismann hat bei einem Treffen der Jewish Claims Conference in Berlin zugehört, wie die Teilnehmer versuchten, "Holocaust und Antisemitismus jenseits des Terror-Diskurses wieder zu aktuellen moralisch-politischen Orientierungsmarken zu machen." Susanne Klingenstein berichtet, dass der nordirische Dichter Tom Paulin (mehr hier), der in Harvard die Morris-Gray-Dichterlesung halten sollte, wieder ausgeladen wurde, weil er "ausfällige Kritik" an den jüdische Siedlern auf der Westbank und der israelischen Armee (er nannte sie in einem Gedicht "zionistische SS") geübt habe. Lorenz Jäger war bei einem Treffen der Ernst-Jünger-Forschung in Rauischholzhausen, wo man unter anderem etwas über "Science fiction- und Fantasy-Elemente im Werk Jüngers erfahren" konnte, aber auch eine "scharfe Analyse der Hausfrauenrolle des 'Stierleins', Jüngers Ehefrau. Lieselotte Jünger hörte zu, aufmerksam-wach und gelassen, und ließ sich ihre Verwunderung über ihren späten Ritter nicht anmerken." Nils Minkmar hat mit einer Schulklasse der Parlamentsdebatte über das Beitragssicherungsgesetz im Reichstag zugehört. Andreas Rossmann gratuliert Lutz Niethammer zum Bochumer Historikerpreis. Und Thomas Wagner gratuliert dem Künstler Rolf-Gunter Dienst zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite porträtiert Ingolf Kern M. Walid Nakschbandi, dessen Fernsehproduktionsgesellschaft AVE "sich von einem 'No-Name' in der Branche zu einem Feinkostlieferanten" von Talkshows, Reportagen und Dokumentationen entwickelt hat. Auf der letzten Seite erklärt Klaus Ungerer anlässlich der DJ-Weltmeisterschaft in München, was ein DJ eigentlich tut: Er "verkauft keine Platten, er ruiniert sie nur." Dietmar Dath behauptet, dass alles "exakt 8" ist. Und Oliver Tolmein lobt die 1000-Fragen-Kampagne der Aktion Mensch (früher Aktion Sorgenkind).

Besprochen werden Schostakowitschs "Nase" an der Berliner Lindenoper: Nagano dirigierte, Mussbach inszenierte und Immendorff schuf das Bühnenbild, Martin Schläpfers Choreografie nach Bachs "Kunst der Fuge" in Mainz, Brechts "Herr Puntila und sein Knecht Matti" in Bremen, ein Konzert mit Ute Lemper in Frankfurt, eine Ausstellung mit romantischen Bildern von Kindern im brandenburger Rochow-Museum und Bücher, darunter eine Biografie des Bildhauers Ernst Neiswestnyi, der "Chruschtschow die Stirn bot" wie es in einer Unterzeile zu einem Foto heißt, dass diese Behauptung eindrucksvoll stützt.

NZZ, 18.11.2002

Die britischen Museen stecken in einer tiefen Krise, wie wir von Georges Waser erfahren: Die britische National Gallery muss sich Raffaels "Nelkenmadonna" wahrscheinlich vom geldschweren Getty Museum wegschnappen lassen, das British Museum kann sich zu seinem 250-jährigen Bestehen gerade einmal zwei Ausstellungen leisten, Tate Gallery und Natural History Museum sind ebenfalls in finanzieller Bedrängnis. Überall klaffen Millionenlöcher, und die Regierung Blair mache keinerlei Anstrengungen, der Kulturmisere politisch abzuhelfen: "Tatsache ist, dass die Künste und Kulturorganisationen immer noch die Narben der Thatcher-Jahre tragen. Wohl konnten mit Geld aus dem Lotteriefonds einige spektakuläre neue Bauten realisiert werden; doch trotz den rhetorischen Fanfaren, mit denen die Regierung Blair sich als kulturfreundlich gab, wurde bald einmal klar, dass die Künste für diese Regierung auch nur von marginaler Bedeutung sind. Singen heute britische Politiker an einem kulturellen Anlass ein Loblied, dominieren darin Ausdrücke wie cultural diversity und accessibility - und diese kommen direkt aus der Küche der spin doctors oder Wortverdreher, die in Westminster den Ton angeben."

Eine Liebeserklärung macht der ungarische Literaturwissenschaftler Laszlo Földenyi ("Heinrich von Kleist") den Niederlanden, in denen er ein akademisches Jahr verbracht hat. Darin schwärmt er unter anderem: In den mediterranen Ländern stolpert man ununterbrochen über Zeugnisse der Vergangenheit; aber während Vergangenes dort wirklich vergangen ist, wagt man in den Niederlanden von Zeit nicht zu sprechen. Hier ist die Identität von Vergangenem und Gegenwärtigem so selbstverständlich wie deren Unterscheidung anderswo."

Weitere Artikel: Paul Jandl berichtet von einem Grazer Symposium, das versuchte, den Barbaren hier und anderswo zu orten. Urs Schoettli erzählt aus China, mit welchem Rigorismus dort die neuen Reichen ihre Kulturbeflissenheit demonstrieren. Urs Bitterli schreibt einen Nachruf auf den Schweizer Historiker und Publizisten Herbert Lüthy.

Besprochen werden eine Aufführung von Lukas Holligers Stück "Toter Pullover" am Theater St. Gallen, die Choreografie "Heidenspass + Höllenangst" der Compagnie Drift in Luzern, eine Ausstellung mit Design-Arbeiten von Camille Graeser in der Galerie der Stadt Stuttgart.

TAZ, 18.11.2002

Auf der Medienseite berichtet Karim El-Gawhary über den Skandal um die ägytische Seifenoper "Faris belaa Gawaad" (Pferd ohne Reiter), die des Antisemitismus bezichtigt wird. "In der Serie wird die Geschichte eines Ägypters erzählt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Kampf gegen die britischen Kolonisatoren in Palästina anführt. Als er dort ein verstaubtes Exemplar der berüchtigten 'Protokolle der Weisen von Zion' findet, wendet er sich von den Briten ab und konzentriert seinen Kampf auf die Zionisten. Diese Protokolle beschreiben den angeblich echten, in Wahrheit aber fingierten Plan einer jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung. Historiker glauben, dass die Protokolle im zaristischen Russland vom Geheimdienst verfasst wurden, um den Antisemitismus weiter anzuheizen. Auch in Deutschland spielten sie eine wichtige Rolle als Beweisstück für eine angebliche jüdische Weltverschwörung." Sowohl in Israel als auch in den USA und in Ägypten selbst regt sich Widerstand gegen die weitere Ausstrahlung der Serie.

Artikel im Feuilleton: Rene Aguigah war dabei, als die in Berkeley lehrende Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler (mehr hier und hier) die Reihe der Frankfurter "Adorno-Vorlesungen" eröffnet hat. Außerdem stellt Heiko Dilk den erfolgreichen "Mitmachsender" Neun Live vor. Besprochen werden das Berliner Brian-Adams-Konzert und Guillermo Gomez-Peñas Performance "Mexotica 2002 - A Living Museum of InterCultural Fetishes" im Rahmen des Berliner Mexartes-Festivals.

Und schließlich TOM.

FR, 18.11.2002

In einem Interview erklärt Punk-Ikone Rocko Schamoni, wie er vom ungeschminkten Punk zum süßlichen Soul gekommen ist: "So wunderbar befreiend Punk auch ist, funktioniert er intern wie ein streng organisierter Orden. Und wenn man gegen seine Regeln verstößt, fliegt man da schnell raus. Das Süßliche war für mich ein Mittel zum Zweck, um mich von der Enge und den Konventionen der Punkszene zu befreien. Ein paar Schlager-Imitationen, und schon war man da ein Outlaw. Ich hab mich also doppelt befreit, als Punk von den gesellschaftlichen Konventionen und mit der Süße auch noch von den Konventionen des Punks. Ich bin praktisch maximal frei."

Weiteres: Auf der Medienseite: Mechthild Zschau war auf der Berliner Hörspiel-Woche und kann bezeugen, welchen Boom das Hörspiel zur Zeit erlebt. Michael Ridder lobt einen "sehenswerten" TV-Dokumentarfilm über Walther Rathenau und laut AP wird gemeldet, dass Dieter Hildebrandt Ende nächsten Jahres mit dem "Scheibenwischer" aufhört.

Besprochen werden Dietrich Hilsdorfs Inszenierung von Verdis Oper "Macbeth" in Wiesbaden, Roland Schäfers "Onkel Wanja" in Bonn und Bücher, darunter Rupert Neudecks Bericht über das Notärzte-Komitee Cap Anamur und Sachbücher über die amerikanische Gründergeneration und über norwegische Waisenkinder (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 18.11.2002

Heribert Prantl ist der Meinung, die Frage, ob die Türkei zu Europa gehört, sei keine "Frage des Wissens", sondern eine "Frage des Wollens". Denn "Europa ist mehr als das, was war. Europa ist das, was die Europäer daraus zu machen verstehen. Die Türkei ist eine große Chance für die Europäische Union: Die Türkei ist das Land zwischen den Kulturen, das Land, das Europa geopolitisch neue Horizonte öffnet. Die EU darf nicht das Finale der europäischen Geschichte sein, sondern ihr neuer Anfang." Daher sei es unbedingt notwendig, sich der Türkei zu öffnen. Denn sie hat "nur zwei Wege: den westeuropäischen oder den islamistischen."

Weitere Artikel: Petra Steinberger findet, dass die US-Regierung zunehemend "politische Geheimniskrämerei" betreibt. Hans-Peter Kunisch erklärt, dass der Rechtspopulismus nun auch in der Schweiz an Boden gewinnt - in der Person von Christoph Blocher. In der Kolumne spekuliert "Akis", was in aller Welt den italienischen Mafia-Boss Benedetto Marciante dazu getrieben haben könnte, sich der Polizei zu stellen. Rainer Gansera war auf dem 51. Internationalen Filmfestival in Mannheim und Heidelberg. Christiane Schlötzer hat in Athen mit dem ältesten Goethe-Institut das 50. Jubiläum gefeiert. Henning Klüver bemerkt bitter, dass die italienische Berlusconi-Regierung ihre Kritiker nun mit Schadensersatzprozessen bekämpfen will. Verena Auffermann hat Judith Butler (mehr hier und hier) gelauscht, als die Reihe der Frankfurter "Adorno-Vorlesungen" mit Vorträgen zum Thema Ethik und Moral eröffnet hat. Wie Stefan Koldehoff berichtet, wurde in Wien ein "arisiertes" Bild von Egon Schiele beschlagnahmt. Julia Encke ist aufgefallen, dass Ernst Jünger auf einer ihm gewidmeten Tagung in Marburg mit Vorliebe als "Verlierer" dargestellt wurde. Fritz Göttler schreibt einen Nachruf auf den Hollywood-Veteranen Eddie Bracken.

Auf der Medienseite findet Benjamin Henrichs die überholte ARD-Sportschau "so frisch wie einen toten Fisch", "O. k." erklärt, dass die ARD gegen eventuelle Steuernachzahlungen vor Gericht gehen will, und der Medienforscher Lutz Hachmeister ärgert sich über die regelrechte Sex- und Billigprogramm-Flut, die über die kommerziellen Fernsehsender hereinbricht.

Besprochen werden Mimmo Caloprestis Film "Ich liebe das Rauschen des Meeres", das Münchner Konzert des br-Symphonieorchesters, die neue CD "Escapology" von Pop-Ikone Robbie Williams, Peter Mussbachs Berliner Inszenierung von Schostakowitschs Oper "Die Nase", Lars-Ole Walburgs Inszenierungen von Euripides' "Iphigenie in Aulis" und den "Troerinnen" am Basler Theater und Bücher, unter anderem John Updikes Roman "Rabbit, eine Rückkehr", die Tagebücher des französischen Schriftstellers Paul Nizon, ein Buch über das deutsche Konzept des Raumes und drei politische Bücher - zur Globalisierung, der kollektiven Entschädigung und den Vereinten Nationen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).