Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2002. In der taz stellt Gabriele Goettle einen Entomologen vor, der durch das Gutachten über das Alter von Schmeißfliegenlarven in der Leiche einer Pastorengattin ihren Mann als Täter überführte. In der SZ wirft Salomon Korn der FDP vor, mit Ressentiments auf Stimmenfang zu gehen. Die FR schildert Auswüchse des Abenteuertourismus in Chile. In der FAZ erklärt uns Viktor Jerofejew das russische Verhältnis zum Westen. Die NZZ und alle anderen resümieren das Festival von Cannes.

TAZ, 27.05.2002

Wunderbar, dass die taz Gabriele Goettle und dass Gabriele Goettle der taz die Treue hält! Gabriele Goettle macht uns in ihrer monatlichen Reportage, die wie immer sämtliche Kisch-Preisträger erröten lassen sollte, wieder mit einem seltsamen Beruf bekannt. Diesmal stellt sie einen forensischen Entomologen vor: "Mark Benecke wurde 1997 durch einen Mordprozess bekannt, bei dem er - zusammen mit einem Myrmekologen, einem Ameisenspezialisten - als Gutachter entscheidende Untersuchungsergebnisse lieferte. Drei Schmeißfliegenmaden, vom Körper einer im Wald liegenden erschlagenen Pastorengattin, wurden per Sonderflugzeug zu Benecke nach New York geschickt. Die Altersbestimmung dieser Maden, zusammen mit der Zuordnung einer Ameise vom Gummistiefel des Gatten, überführte den Pastor Klaus Geyer als Mörder seiner Frau. Die biologische Forensik ist ein Spezialgebiet, das sowohl zoologische als auch rechtsmedizinische und kriminalistische Kenntnisse voraussetzt; dazu gehört ein gehöriges Maß an Pedanterie und Hingabe. Entomologen, also Insektenkundler, machen da weiter, wo der Gerichtsmediziner wegen starker Zersetzung der Leiche nur noch begrenzte Aussagen machen kann."
(Mark Benecke hat übrigens eine eigene homepage. Auf der Seite Fun findet sich auch ein Video (real player), auf dem er von seiner Arbeit erzählt, außerdem hat er eine Zusammenfassung seines Gutachtens im Mordfall Geyer ins Netz gestellt. Hier noch eine Seite mit Links zu entomologischen Vereinen. Zur Myrmekologie findet man bei Google hauptsächlich tschechische Seiten, hier eine kleine Einführung auf deutsch. Und hier noch ein Artikel aus dem Sonntagsblatt über den Prozess gegen Klaus Geyer vom 13.2.1998.)

Christina Nord hat trotzdem Platz gefunden, einen Abschlussbericht aus Cannes zu liefern: An der Cote D?Azur sei das Weltgeschehen angekommen, stellt sie fest, und "Selbstreferenzialität ein Wesenzug des diesjährigen Festivals".

Schließlich Tom.

SZ, 27.05.2002

Gerhard Matzig hat Salomon Korn, den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, über die Affäre Möllemann befragt. Korn meint: "Die Politik Israels konnte zu allen Zeiten diskutiert werden. Auch kontrovers. Auch mit dem Zentralrat. Doch in unserem Fall hat die FDP kein Tabu gebrochen - sie geht nur auf Stimmenfang. Und da lauert die eigentliche Gefahr. Nicht um Aufklärung, sondern um Ressentiments bemüht sich die FDP." Und als Nachfolger von Ignaz Bubis gibt er Michel Friedman mit auf den Weg: "Hätte Bubis diesen Zungenschlag zugelassen? Nein, er hätte sich dagegen so vehement gewehrt wie während der Walser-Debatte. Wenn er aber von geistiger Brandstiftung gesprochen hätte - dann hätte er diesen Begriff, wie er das im Falle Walser getan hat, sicherlich nicht zurückgezogen."

Petra Steinberger fragt sich, ob die nukleare Abschreckung auch im Konflikt zwischen Indien und Pakistan wirkt. "Denn selbst in Staaten mit absoluten Diktatoren - auch dafür gibt es Belege - scheint die Entscheidungsfindung für oder gegen einen militärischen Einsatz von Atomwaffen immer rational abgewogen zu werden - und folgt damit der Abschreckungslogik."

Weitere Artikel: Dem Zustand der Nation widmen sich zwei Texte: Holger Gertz bemerkt, dass der deutschen Fußball-Nationalmannschaft Leidenschaft und Inspiration ebenso fehlt wie dem gesamten Land. Franziska Augstein erklärt die Spaßkultur zur "tauben Rache an Rot-Grün". Aus Cannes berichtet Tobias Kniebe, worum es außer den Palmen sonst noch gegangen ist: Deals and Pitches. Ulrich Raulff berichtet von der Finanzkrise des British Museum ("Der Leuchtturm des britischen Kulturerbes, die Schatztruhe imperialen Sammeltriebes wackelt"). Gottfried Knapp sorgt sich um die Zukunft Fürstenberger Gemäldesammlung in Donaueschingen. Jörg Heiser bedauert, dass die Europäische Biennale Manifesta 4 keine starke These hat. Und Hans Schifferle gratuliert dem "fürstlich finsteren" Christopher Lee zum Achtzigsten.

Besprochen werden eine Aufführung von Houellebecqs "Elementarteilchen" in München, Euripides' Drama "Die Bakchen" bei den Wiener Festwochen, und Bücher, darunter Ahmed Rashids Band "Heiliger Krieg am Hindukusch", Hans Beltings Studie über Hieronymus Boschs "Garten der Lüste" sowie Dorothea Dieckmanns Roman "Damen & Herren" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 27.05.2002

Karin Ceballos Betancur erzählt die Geschichte des kleinen chilenischen Dorfes San Pedro de Atacama, das kaum 1000 Einwohner zählte, die vor allem von Ackerbau und Viehzucht lebten: "Wenige Besucher verirrten sich zu ihnen, bis ihr kleines Dorf eines Tages in einem Reiseführer auftauchte, wahrscheinlich als Geheimtipp, mit drei Ausrufezeichen. San Pedro de Atacama ist noch immer ein kleines Dorf in Chile und zählt kaum 1000 Einwohner. Plus 40 000 Touristen pro Jahr, vor allem Holländer, Engländer, Deutsche und Franzosen. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl betrachtet, weist San Pedro de Atacama die weltweit größte Abenteuertourveranstalter-Dichte auf. Auf den unbefestigten Straßen des Dorfes kreuzen Menschen mit Safarihüten und Rucksäcken, manchmal tragen sie Sandboards unterm Arm, zum Dünensurfen. San Pedro de Atacama tritt den Beweis an, dass das Leben mit 40 vorbei ist."

Besprochen werden im Montags-Feuilleton noch die Kunstmesse Art (mehr hier) in Frankfurt am Main, die Ausstellung "Katz & Hund, literarisch" im Literaturarchiv Marbach und politische Bücher, nämlich Roger Chickerings Studie "Das Deutsche Reich und der erste Weltkrieg" und Francis Fukuyamas Buch über "Das Ende des Menschen" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 27.05.2002

"Manch Gutes, Schönes, Wahres" war in Cannes zu sehen, aber ein außerordentlicher Film war nicht dabei, meint Christoph Egger. Auch Roman Polanskis Film "Der Pianist", der mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, hat ihm nicht besonders gefallen: "Polanski hat sich den Ausstatter und die Costumiere von 'Schindler's List' geholt und erreicht doch nicht annähernd dessen Wirkung - zum Teil wohl auch, weil er in Farbe gedreht hat, vor allem aber, weil ihm kein einziges neues Bild eingefallen ist. So sehen wir über weite Strecken ein konventionelles Melodrama mit Judenverfolgung, Nazigreueln und viel Chopin." Daneben gibt es eine Liste mit den vergebenen Palmen.

Weitere Artikel: Kristina Bergmann berichtet ausführlich über die Fertigstellung der Bibliotheca Alexandrina. Thomas Schacher stellt das Projekt "Libretto" - zehn zweitägige Musik- Events - auf der Expo 02 in Murten vor. Besprochen werden Theateraufführungen bei den Wiener Festwochen: Euripides' "Die Bakchen", gespielt vom ZT Hollandia und Wallace Shawns "The Designated Mourner", inszeniert von Andre Gregory, das 13. Schaffhauser Jazzfestival (mehr hier) im Kulturzentrum Kammgarn, ein Abend des Bejart Ballets in Lausanne und Biljana Srbljanovics Stück "Supermarket" am Theater Basel.

FAZ, 27.05.2002

Der russische Autor Viktor Jerofejew (mehr hier) beschreibt nach dem Bush-Besuch das russische Verhältnis zum Westen: "Zwar ist uns der Dollar von allen Währungen die liebste. Doch mit Dollars kauft die russische Mittelklasse deutsche Autos, isst in italienischen Restaurants und schluckt dazu französischen Cognac. Amerika ist reicher, aber Europa dem Herzen näher."

Weiteres: Wilfried Wiegand schickt einen Abschlussbericht aus Cannes und lobt am Ende vor allem Roman Polanskis Film "The Pianist", der dann ja auch die Goldene Palme bekam (mehr über die Preise hier und hier). Dieter Bartetzko stellt das neue Gebäude der Dresdner Staatsbibliothek vor. Andreas Rosenfelder hat einem Gespräch zwischen Durs Grünbein und Axel Honneth in Essen zugehört. Oliver Tolmein findet die Empörung über das taube lesbische Paar in den USA, das sich von einem tauben Spender ein taubes Kind spenden ließ, unehrlich. Joseph Croitoru schildert den Streit über eine israelische Magisterarbeit, die zensiert wurde, weil sie ein Massaker an Palästinensern aus dem Jahr 1948 aufdeckt. Florian Illies empört sich, dass der Berliner Kultursenator Thomas Flierl nicht hundertprozentig zum von dieser Zeitung gewünschten Wiederaufbau des Stadtschlosses zu stehen scheint (wie aus einem Interview mit dem Spiegel online hervorgeht). "kag." stellt Pläne der beiden Wiener Opernhäuser vor. Christoph Albrecht resümiert eine Tagung über "Kooperatives Lernen und Spielen" am neuen Institut für Medieninformatik in Birlinghoven. Stefanie Peter hat einem Warschauer Schriftstellertreffen zugehört, das sich mit der Sehnsucht nach den kommunistischen Regimes befasste.

Auf der Medienseite wird die neue Serie "Boston Public" vorgestellt, die bisher nur in den USA läuft, Außerdem geht's um die Dokumentation "Missing Allen", um eine Dokumentation über Innenminister Schily und eine neue Vorabendserie der ARD. Auf der letzten Seite schildert Paul Ingendaay antiisraelische Ausfälle in der spanischen Presse. Roland Kany weist auf die Taschenbuchausgabe von Sebastian Haffners "Geschichte eines Deutschen" hin, die um ein bisher unveröffentlichtes Kapitel bereichert wurde. Und Dietmar Dath porträtiert die Comicfigur Caitlin Fairchild.

Besprochen werden ein Schauspiel nach Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" in Bonn, eine Ausstellung der Sammlung Schürmann in Baden-Baden, ein Stück von Jörg Steinberg und Axel Poike über Fußballbesessenheit in Cottbus, der Film "Prüfstand 7" von Robert Bramkamp, eine Ausstellung des Malers Helmut Federle im Musee des Beaux Arts von Nantes, der Prager Frühling, der Film "Seitensprünge in New York" und eine "Rigoletto"-Inszenierung durch den Berlusconi-Staatssekretär Vittorio Sgarbi in Busseto.