Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2002. Die FAZ erklärt, warum "Empire" gute Laune macht. Die NZZ freut sich über die neue Innenstadt von Chemnitz. Die FR bewundert die Ästhetik des Widerstands gegen Bush. In der SZ stellt der Historiker Moshe Zimmermann einen Antisemitenkatechismus vor.

FAZ, 24.05.2002

Nachdem Jörg Lau gestern in der Zeit heftig gegen "Empire" polemisiert hat, setzt sich heute in der FAZ Mark Siemons mit dem Buch von Antonio Negri und Michael Hardt auseinander, das die linken Phantasie offenbar heftig anregt. Auch Siemons überlegt, was die Gründe für den enormen Erfolg des Buchs sein könnten: Zunächst mal könne sich die "vom Fatalismus bedrohte Linke" endlich wieder "als Subjekt der Geschichte", als "Revolutionär" fühlen. "Es wird akzeptiert, dass der Revolutionär neuen Typs das System mit seiner Arbeit in der ausdifferenzierten und vernetzten Dienstleistungsgesellschaft selbst am Laufen hält; ihm wird nicht mehr der Selbstbetrug abverlangt, er stehe in Wahrheit irgendwo außerhalb. Was ihn unterscheidet, ist allein eine Bewusstseinstatsache: Wie der moderne Manager bei Peters/Waterman glaubt er daran, dass es vor allem von seiner inneren Einstellung, von seiner Interpretationsleistung abhängt, wie sich die Dinge verhalten." Und dann macht das Buch einfach gute Laune, meint Siemons: "Die analytische Energie wird nicht auf die Beschreibung oder Widerlegung des Gegners verwandt, sondern auf die eigenen mentalen Bedingungen des Erfolgs. 'Empire' ist ein linkes Manifest des positiven Denkens." Da schadet auch die Esoterik nichts, behauptet Siemons.

Weitere Artikel: Jordan Mejias berichtet, dass Albert Einsteins 1427 Seiten umfassende die FBI-Akte veröffentlicht wurde (einzusehen hier). Marcel Reich-Ranicki verteidigt im Interview seinen Kanon. Siegfried Stadler freut sich über die Grundsteinlegung für den Erweiterungsbau der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar und ärgert sich über die geplante Fusion der Stiftung Weimarer Klassik mit den städtischen Kunstsammlungen. Gerhard Stadelmaier berichtet kurz von einem "Statement" der "wirklich" jungen Theatermacher (da sind die unter dreißig), die sich über die resignative Haltung der vermeintlich jungen Theatermacher (das sind die über dreißig) wundern und wünscht "jede Menge Spaß im Kampf mit dem Jugend-Establishment".

Gina Thomas war bei Madonnas Schauspiel-Debüt im Londoner Westend. Madonna als Kunsthändlerin in David Williamsons Stück "Up for Grabs" spielt "unsicher, befangen und sogar ein wenig hölzern", Gott sei Dank steht ihr jedoch eine "glänzende Besetzung zur Seite". Wilfried Wiegand schreibt aus Cannes über Filme von Ken Loach, Jia Zhang Ke und den Brüdern Dardenne. Anlässlich des Grand Prix Eurovision-Schlagerfestivals porträtiert Stefan Niggemeier auf der Medienseite Bernd Meinunger, den Songschreiber von Corinna May. Wiebke Hüster stellt auf der letzten Seite den Austragungsort Tallinn in Estland vor (mehr Informationen gibt es auf der website der deutschen Botschaft in Tallin).

Besprochen werden eine Ausstellung der Funde vom Glauberg in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, Dick Maas' Film "Down", das Konzert von Destiny's Child in Köln, Franco Alfanos Oper "Cyrano de Bergerac" in Kiel, eine Ausstellung der kalifornischen Broad Collection in der Corcoran Gallery of Art in Washington und Bücher, darunter Francis Fukuyamas "Das Ende des Menschen" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phonoseite werden CDs von Moby, Pierre Boulez ("Pli selon Pli" mit Christine Schäfer und dem Ensemble Intercontemporain) und Filmmusik von Serge Gainsbourg vorgestellt.

TAZ, 24.05.2002

Warum die DDR-Komödie kein ganz leichtes Genre ist, erklärt uns Barbara Schweizerhof anlässlich des Filmstarts von Olaf Kaisers "Drei Stern Rot": "Als Staatsgebilde mit anmaßend starken Autoritäten, deren Legitimation aber längst unterhöhlt war und deshalb in leerer Formelhaftigkeit einfach starr weiter behauptet wurde, reizte die DDR natürlicherweise zum Humor heraus. Weil diese Konstruktion, so lächerlich und fiktiv sie in ihrer automatisierten Ritualen auch wirken mochte, bis zum Schluss aber ganz reale Repressionen ausübte, gibt es dieses ungeschriebene Gebot, dass über diese Vergangenheit nicht 'einfach so' frei herausgelacht werden darf, nein, das Lachen muss mindestens im Halse stecken bleiben oder einem besser ganz vergehen." Bei Kaiser aber, meint Schweizerhof, bleibe vor lauter "Entlarvungsverve" kaum noch Raum für Komik.

Yves Rosset berichtet vom Schweizer Mammutprojekt "Expo.O2", Hias Wrba stellt Elektrobeats vor von Crossover ("Fantasmo") und The 8-bit construction set ("Atari vs. Commodore64"), Harald Fricke hört Neues von alten Hasen wie Richie Havens ("Wishing Well") und Terry Callier ("Speak your peace"), und Cristina Nord lernt in Cannes, wie man in Würde altert und "dass hängende Brüste eine spezifische Form der Schönheit haben".

Schließlich TOM.
Stichwörter: Repression

NZZ, 24.05.2002

Armes Chemnitz! Im Krieg zerstört, im Sozialismus zum "enturbanisierten Soziotop deformiert" - da sind die Menschen und Investoren nach der Wende sofort aus der zerstörten Innenstadt geflüchtet, berichtet Werner Jacob. "Ein bereits 1991 initiierter städtebaulicher Ideenwettbewerb mündete erst 1998 in den Rahmenplan für die Innenstadt. Seither wird gebaut." Die beiden wichtigsten Gebäude, die Jacob aufzählt, sind die Galerie Roter Turm von Walter Brune, "ein kolossaler Betonklotz", dem Hans Kollhoff "eine Alhambra-Fassade auf den Leib" geschneidert hat. "Gleich gegenüber geht es glitzernd weiter. Wie am Potsdamer Platz duellieren sich die Platzhirsche auch hier in der Provinz: Helmut Jahn beglückte auch Chemnitz mit einer Vitrine aus Stahl und Glas. Dieser zweite Einkaufstempel, die Galeria Kaufhof, besetzt die Westseite des Neumarkts, schließt diesen ab und trumpft auf, indem sie sich scheinbar bescheiden als Spiegel der Stadt empfiehlt." Da zeigt sich doch, meint Jacob, dass die "Schneckenbewegungen des Zeitgeists auch positive Auswirkungen" haben: "Hätte man Chemnitz' Innenstadt gleich nach der Wende umgekrempelt und neu gebaut, so wäre sie gewiss weniger behutsam behandelt worden als heute. Deshalb keimt auch in breiten Bevölkerungskreisen nach den Zeiten der Apathie allmählich wieder Aufbruchstimmung." (Mehr über die neue Innenstadt finden Sie auf der Internetadresse der Stadt Chemnitz).

Weitere Artikel: Tarek Atia berichtet über den Mediengipfel in Dubai Ende April, auf dem über das Bild der Araber in den westlichen Medien diskutiert wurde. Georges Waser beschreibt die Queen's Gallery in London nach dem 20 Millionen Pfund teuren Umbau. Jdl. stellt die kommende Saison des Wiener Burgtheaters vor, und fsb. die Pläne des Luzerner Chefdirigenten Christian Arming und der Festival Strings. Besprochen wird die Kurt-Schwitters-Ausstellung im Wiener Kunstforum Bank Austria.

FR, 24.05.2002

Wahlkampf? Keine Spur, findet Jochen Schimmang. Und stellt fest, dass das Kanzlerkredo zur Normalität längst über die Stränge geschlagen ist. "Es besteht kein Zweifel darüber, dass dieses Programm die Bundesrepublik in den letzten dreieinhalb Jahren nachhaltig verändert hat. In dieser Startzeit der Berliner Republik sind vermutlich auch die letzten Reste eines deutschen Sonderwegs aus der politischen Diskussion verschwunden ... Wenn man aber angekommen ist, macht sich schnell Langeweile breit. Eine Leerstelle tut sich auf. Normalität, das ist als das Recht zu definieren, im Sommer auf der Terrasse oder im Garten zu grillen. Das ist ein durchaus vernünftiges Glücksversprechen, aber kein politisches Programm."

Die Ästhetik des Widerstands - im Berliner Lustgarten war sie gestern kurz zu sehen, wie Christian Schlüter berichtet: "Im Schalltrichter des Protestes gegen den amerikanischen Präsidenten George W. Bush ruft die 'Achse des Friedens' zum Widerstand gegen Terror und Krieg. Laut und durchdringend entsteht eine beeindruckende Klangkulisse, ein Chor, größer und mächtiger als ihn je eine Aufführung der Matthäuspassion erlebt haben dürfte. Die Dom-Fassade erstrahlt im gelblichen Licht und erscheint wie aus einer anderen, sehr viel älteren Zeit... Auf dem Rasen des Lustgartens brennen Transparente, die Gischt des Springbrunnens in seiner Mitte leuchtet in die Nacht." Ach!

Krystian Woznicki erklärt uns die Welterlösungsanliegen des U2-Sängers Bono, "Time mager" weiß, wie man in New York als Poet überlebt (man muss mit Stäbchen essen können), Morten Kansteiner war dabei, als Durs Grünbein und Axel Honneth bei den Essener "Korrespondenzen" über das Verhältnis von Philosophie und Literatur debattierten, Anton Thuswaldner kommentiert die Verleihung des Lyrikpreises Meran für Oswald Egger und Sylvia Geist, und im Gespräch erörtern die Oper- und Schauspielkuratoren Gerard Mortier, Matthias Lilienthal und Manfred Beilharz das Festival als solches und das globalisierte Theater.

Schließlich finden sich zwei Besprechungen: zu Claire Devers Spielfilm "Die Diebin von St. Lubin" sowie zu der Komödie "Sidewalks of New York" von und mit Ed Burns.

SZ, 24.05.2002

Woran erkennt man den Antisemitenwolf im Israel-Kritiker-Schafspelz? Der in Jerusalem lehrende Historiker Moshe Zimmermann formuliert einen neuen Antisemitenkatechismus, ausdrücklich "für Jürgen Möllemann, Michel Friedman und Guido Westerwelle": "Erstens geht es um die Assoziationswelt des Israel-Kritikers ... kommt in der Karikatur die 'jüdische' Nase oder der Hinweis auf Ritualmord zum Vorschein - dann befindet man sich bereits im Bereich des Antisemitismus, weit über die legitime Sharon- oder Israel-Kritik hinaus. Zweitens geht es um die Gruppe, gegen die die Kritik geäußert wird: Wenn es sich nicht um den spezifischen Politiker (israelischen oder auch deutschen) oder um die spezifische Organisation (auch wenn sie 'Jüdischer Weltkongress' heißt) handelt, sondern um den vermeintlichen Vertreter 'des' Judentums oder 'der' Juden, wenn nicht an israelische, sondern an jüdische Charakteristika gedacht wird - sind wir bereits beim Antisemitismus angelangt. Und drittens und vielleicht noch wichtiger: Auf die Absicht kommt es an."

Im Gespräch mit Thomas Steinfeld rehabilitiert das in Tallinn, dem diesjährigen Austragungsort des Grand Prix d'Eurovision, geborene Reimtalent Robert Gernhardt den arg auf den Hund gekommenen deutschen Schlager: "Seine größten Momente hatte der deutsche Schlager zweifellos immer dann, wenn er sich in deutscher Sprache und mit tiefem Ernst der ewigen Menschheitsthemen 'Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?' angenommen hat: 'Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong, hab ich Sehnsucht nach der Ferne./ Aber dann in weiter Ferne, hab ich Sehnsucht nach zu Haus'- ist genau dieses stete Novalis-Echo nicht allzu unüberhörbar, um als reiner Zufall abgetan zu werden?"

Ferner kommentiert "wink" den Vorwurf des Bild-Kolumnisten Mainhardt Graf Nayhauß gegen Sebastian Haffner, niemals "an der Front" gewesen zu sein. Helmut Schödel beobachtet Theaterkritiker bei der Arbeit. Arno Orzessek hörte den Kunsthistoriker Gottfried Böhm im Berliner Wissenschaftskolleg über die "Elemente einer Bildwissenschaft" sprechen, und Susan Vahabzadeh erzählt - ist es zu glauben -, dass das Wetter in Cannes sie an einen Kaurismäki-Film erinnert und was die deutschen Filmemacher ihrem Kulturstaatsminister zu klagen hatten.

Besprochen werden zwei Ausstellungen zur Geschichte des Computerspiels ("game_over. Spiele, Tod und Jenseits" im Kasseler Museum für Sepulkralkultur und "Game on" in der Londoner Barbican Gallery), eine Werkschau von Rosemarie Trockel in der Münchner Sammlung Goetz, außerdem Essays von Stanislaw Lem und Horror von Poe und King auf Hörbüchern (auch in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).