Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2002. Die SZ druckt Götz Alys aufsehenerregende Rede zum Heinrich-Mann-Preis: Wer profitierte von der Verfolgung der Juden? Das "einfache Volk". Die FAZ verteidigt Martin Walser gegen Michael Naumann und bringt seine Rede zum 8. Mai. Die taz fand sie allerdings einfallslos. NZZ und FAZ kommentieren eine denkwürdige Episode bei den Buchhändlertagen. Und die FR macht sich Sorgen über Hollands Nöte.

SZ, 10.05.2002

Etwas unauffällig versteckt die SZ die aufsehenerregende Rede Götz Alys (mehr hier) zum Heinrich-Mann-Preis aus der letzten Woche zwischen Feiertag und Wochenende (der Perlentaucher hatte ja schon Gustav Seibts Laudatio veröffentlicht). Wer hat vom Nationalsozialismus am meisten profitiert? Banken und Industrie? Sicher, aber sie haben nur den kleinsten Teil eingesteckt, erklärt der Historiker. Die Hauptprofiteure waren Millionen "einfacher" Deutscher. "Ihnen mutete das Regime geringe Kriegslasten zu und zahlte ihren Sold indirekt aus dem Verkauf des Eigentums von Millionen enteigneter und zum großen Teil ermordeter europäischer Juden." Das Programm der Nazis bot ein "völkisches Gleichheitsversprechen", schreibt Aly. Darin lag seine eigentliche Attraktion. "In der Tendenz brach der Begriff Rasse den Begriff Klasse. Das - so meine These - machte den Nationalsozialismus immer wieder mehrheitsfähig. Hitler sprach von Volksgemeinschaft, Mussolini von democrazia totalitaria. Die Mehrheit der Deutschen empfand die Zeit als Epoche besonders schneller Veränderung, sozialer Umschichtung, breiter Aufwärtsmobilisierung, oft auch hoher individueller Verantwortung. In einer Orgie von Krieg und Expansion, Zerstörung und Selbstzerstörung erfüllten sich die gegen die Klassenschranken gerichteten Ziele der Volksgemeinschaft."

Auf dem bange erwarteten Treffen von Schröder und Walser am 8. Mai hat sich Lothar Müller nur eines gefragt: Warum lächelt der Schröder so (und gähnt nicht)? Ganz einfach: So wird "aus der angekündigten skandalösen ... eine harmlose Veranstaltung. Das entwaffnende Lächeln lässt Walsers Pathos zerschmelzen. Unangetastet bleibt der unverdächtige Patriotismus zurück. Die wichtigste Botschaft des Moderators (gemeint ist Schröder) ist eher allgemeiner Natur: Ich könnte alles moderieren - sogar eine große Koalition."

Ferner: Gustav Seibt verkündet die Eröffnung des restaurierten Schlosses Neuhardenberg, Andreas Wilink resümiert die 48. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, "Wie" weiß, wie trüb es nach dem Rausschmiß von Vitali und dem Weggang von Gaßner im Münchner Haus der Kunst zugeht, und "bml" berichtet von einem neuen Versuch, den ultimativen Literaturkanon zu wählen - mit 100 Juroren.

Besprochen werden die erste europäische Retrospektive des Malers Alex Katz in der Bundeskunsthalle Bonn, Mauricio Kagels "Entführung im Konzertsaal" in einem Konzertsaal in München, die offenbar ärgerliche König-Lear-Adaption "L. King of Pain" von Luk Perceval am Schauspiel Hannover, ein Konzert mit dem Artemis-Quartett und Mendelssohn, Bartok und Dvorak im Münchner Herkulessaal, Brian Robbins' Kinofilm "Hardball", schließlich ein Bildband, der uns das Bildergucken lehren will, sowie Antonio Lobo Antunes' Roman "Fado Alexandrino" (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 10.05.2002

Von wegen skandalös. Zum Einschlafen wars, als sich Schröder und Walser in Berlin über die "normale Nation" verständigten. Patrik Schwarz jedenfalls wundert sich über die Einfallslosigkeit der Diskutanten: "So frei sich Schröder von der Vergangenheit machte, so wenig wusste er mit dieser Freiheit anzufangen. Er scheiterte daran, 'das normale Deutschland', das er gerne verkörpern würde, auf einen Begriff zu bringen. Walser war da keine Hilfe. Die beiden absolvierten auf offener Bühne einen Sprachtest 'Deutsch für Anfänger'. Mühsam erprobten sie neue Vokabeln für eine neue, womöglich normale Nation. Gerhard Schröder landete dabei letztlich immer beim Sport und beim Glück, im Urlaub plötzlich auf Deutsche zu stoßen ('Da freut man sich!'). Walser wiederum stellte einmal mehr unter Beweis, wie verkehrt sein Pop-Image als Auschwitz-Verdränger ist. Weit davon entfernt, Auschwitz vergessen machen zu wollen, zelebrierte er es als edelste Qual seines Deutschseins."

Weitere Artikel: Andreas Merkel startet einen Selbstversuch im Hitwellenreiten in den deutschen Singlecharts. Harald Fricke hält die 48. Kurzfilmtage in Oberhausen für ein aufgewecktes Unternehmen. Besprochen werden Luk Percevals Aufführung von "L. King of Pain" in Hannover, die beiden neuen Tom-Waits-Alben "Blood Money" und "Alice". Und auf der Medienseite erörtert Ralf Geissler die handfeste Krise im deutschen Blätterwald.

Schließlich TOM.

FR, 10.05.2002

Christian Schlüter macht sich daran, Hollands Nöte zu verstehen, die er auf einen "politisch leer laufenden Formalismus" und die Verdrängung des "Ressentiments" bzw. der "politischen Leidenschaften" zurückführt. Ein formal entleerter, nur pragmatischer gehandhabter Konsens, so Schlüter, verdecke allerdings nicht nur das Ressentiment, sondern bringe es auch hervor, wie Fortuyn gezeigt habe, der dem Ressentiment überhaupt zur Sprache verholfen habe. Schlüter beunruhigt nicht nur der politische Mord an Fortuyn, "sondern auch die Möglichkeit politik- und mehrheitsfähig gewordenen Ressentiments - in aller Unschuld. Die Vorgänge in Holland künden von einem ganz anderen Unheil: Wann nur entdecken die europäischen Demokratien ihre politischen Leidenschaften?"

In einem anderen Artikel dokumentiert Ulrich Speck das Treffen Schröder/Walser vom 8. Mai, bei dem Martin Walser mit seinem Versuch, Hitler mit Versailles zu erklären, auflief: "Moderator Dieckmann - nachdem er sich für eine Formulierung in der Zeit, 'Israels Geschichtshybris ist ein Fluch' entschuldigt hat - hakt nach: Ist das nicht Revisionismus? Schröder ringt, mit bleiernem Fernsehlächeln, um Fassung. Walser geht zum Gegenangriff über, präsentiert sich mal wieder als Opfer der Medien. Schröder, wahrscheinlich Schlimmstes befürchtend, übernimmt die Regie: Keine Zwangsläufigkeit führte von Versailles zu Hitler, es gab andere Optionen. Müntefering atmet auf: Da ist er, der Gegensatz zwischen Schröder und Walser."

Weitere Artikel: Ralf Grötker hat der Verwandlung des Schriftstellers Breyten Breytenbach zum öffentlichen Intellektuellen beigewohnt. Peter Iden besichtigt Markus Lüpertz' Alu-Figurengruppe "Das Urteil des Paris" am Ku-Damm. Christian Thomas huldigt dem Fußballgott ("eine Spielernatur"), und Petra Kohse staunt über Wismar und sein kleines, feines Stadttheater.

Besprechungen widmen sich Luk Percevals Lear-Adaption "L. King of pain" in Hannover, einer Ausstellung über "Ökonomien der Zeit" im Kölner Museum Ludwig.

FAZ, 10.05.2002

Der niederländische Schriftsteller Marcel Möring (mehr hier) erzählt die Geschichte Pim Fortuyns als eine bizarre Passionsgeschichte, vielleicht weil ihn auch Leute wählten, von denen man es nicht vermutet hätte: "Nach wenigen Wochen war er einer der erstaunlichsten Arbeiterhelden, die es je gegeben hat. Er war alles, was die Arbeiter nicht waren: ein schwuler Paradiesvogel, der elegante Anzüge von Zegna, handgearbeitete Seidenkrawatten und teure englische Schuhe trug. Er fuhr einen Daimler, erklärte öffentlich seine Vorliebe für Darkrooms und beendete Interviews, sobald er nur den Hauch von Dummheit oder Falschheit spürte. Er war alles, was seine Anhänger nicht waren, und trotzdem beteten sie ihn an."

Martin Walser wird nach der SZ nun auch in der FAZ mannhaft verteidigt. Hubert Spiegel polemisiert gegen Michael Naumann, der wiederum noch vor dem Treffen Walsers mit Gerhard Schröder am 8. Mai in der Zeit gegen den Schriftsteller polemisiert hatte. Johan Schloemann beschreibt die schüttere Demonstration, die gegen das Treffen vor dem Willy-Brandt-Haus abgehalten wurde. Und schließlich wird Walsers kurze Rede zum Anlass dokumentiert - die ebenfalls auf Naumanns Artikel in der Zeit Bezug nimmt: "Bei uns wird heute jedes Buch akklamiert, das die Geschichte so darstellt, als sei sie immer schon auf Auschwitz zugelaufen. Weil wir eben so sind. Erinnern Sie sich, bitte, wer alles und wie laut und wo überall im Land Daniel Goldhagens Buch 'Hitlers willige Vollstrecker' propagiert hat. Wenn man aber aus der sorgsamsten Rekonstruktion der Geschichte, der deutsch-jüdischen Familie Klemperer, also aus achtzig Jahren deutsch-jüdischer Geschichte, den Schluss zieht, das deutsch-jüdische Verhältnis hätte unter anderen Umständen nicht in Auschwitz geendet, dann wird einem vom liberalen Wochenblatt 'Verharmlosung von Auschwitz' vorgeworfen."

Richard Kämmerlings hat bei den Braunschweiger Buchhändlertagen eine denkwürdige Episode miterlebt: "Gesprächsthema Nummer eins war natürlich der Streit um die exklusive Vorabveröffentlichung des neuen Romans von John Grisham im Bertelsmann-Club, den die großen Buchhandelsketten Hugendubel, Thalia und zuletzt auch die Mayersche mit einem Boykott des Heyne-Verlags beantwortet hatten. Bereits im Vorfeld des Treffens war Christian Strasser, der Geschäftsführer von Ullstein Heyne List, in einem Brief an den Sortimentsbuchhandel zurückgerudert... In Braunschweig ging er noch weiter, gestand einen schweren Fehler ein und entschuldigte sich vor den versammelten Vertretern des Sortiments."

Weiteres: Gerhard Stadelmaier schreibt eine der kürzesten Kritiken der Theatergechichte über Luk Percevals "Lear"-Spektakel in Hannover (Auszug: "Kein Fall für die Theaterkritik. Eindeutig ein Fall für die Pflegeversicherung.") " Der Berlin-Historiker Michael S. Cullen (mehr hier und hier) plädiert für Bedächtigkeit in der Schlossdebatte und schlägt vor, die Staatsbibliothek im (noch zu definierenden) Neubau unterzubringen. Verena Lueken gehörte zu den wenigen Auserwählten, die in New York die Pressevorführung der neuen "Star Wars"-Folge besichtigen durfte und äußert sich dennoch nicht allzu begeistert. ("Den ersten Kuss in der bisher vollkommen sexfreien 'Star Wars'-Serie begleitete im Zuschauerraum ein peinlich berührtes Giggeln, als spielte der Film nicht vor der Presse, sondern bereits vor dem Publikum, für das er gedreht wurde.")

Ferner fürchtet "msi", dass Teile der Antikensammlung im Dresdner Albertinum nach Chemnitz ausgelagert werden könnten, weil es die sächsische Landesarächologin so wünscht. "F.P." hat sich das renovierte Schloss Neu-Hardenberg angesehen, das zu einem Kulturzentrum werden wird. Oliver Jungen resümiert ein Kölner Podium zum neuen Hochschularbeitsrecht. Auf der Medienseite bereitet uns Tilman Spreckelsen auf die dritte Staffel der legendären "Heimat"- Serie von Edgar Reitz vor, die ab 2004 gesendet werden soll. Auf der letzten Seite schreibt Marleen Stoessel über den Streit um das Berliner Mahnmal "Bibliothek" am Bebelplatz, das an die Bücherverbrennung erinnert und nun einem Parkhaus weichen soll. Und Michael Althen schreibt ein kleines Profil über Charlotte Rampling.

Besprochen werden Cherubinis "Medee" an der Deutschen Oper Berlin, eine Ausstellung von Richard Hamiltons Illustrationen zum "Ulysses" von James Joyce im British Museum, Puccinis selten gespielte lyrische Oper "Rondine" in Covent Garden, eine Ausstellung des Künstlers und Bildhauers Tony Smith in Valencia, Brian Robbins' Film "Hardball", eine Ausstellung des lombardischen Renaissance-Malers Vincenzo Foppa in Brescia.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine Oper des Sizilianers Salvatore Sciarrino, um eine Schubert-Lieder-CD von Barbara Bonney, um eine CD des nigerianischen Popstars Femi Kuti, um eine "Ring"-Aufnahme unter Gustav Kuhn, um eine CD von Rocko Schamoni und um Violinduos von Bela Bartok.

NZZ, 10.05.2002

Auch Joachim Güntner hat dem beachtlichen Rückzug Christian Strassers von Heyne Ullstein List bei den Braunschweiger Buchhändlertagen beigewohnt: Clubausgaben sollen künftig nicht mehr vor den Ausgaben für das Sortiment erscheinen. "Bertelsmann konnte der Handel nicht treffen, also hielt man sich an den Verlag, der dem Club die Grisham-Lizenz gegeben hatte. Dass es gelang, Heyne in Büßerstellung zu bringen, mag für die Buchhändler erfreulich sein. Illusionen über ihre Interessengegensätze aber lässt dieser Erfolg nicht zu. Die kleinen und mittleren Sortimente wissen, dass ihnen vor allem die Konkurrenz der Buchhandelsketten die Luft abdreht. Giganten wie Thalia und Hugendubel, die jetzt für einmal als ihre Mitstreiter auftraten, müssen sie generell mehr schrecken als der Bertelsmann-Club mit seinem Marktanteil von gerade einmal 3,8 Prozent."

Weiteres: Dokumentiert wird die Rede der diesjährigen Kerr-Preisträgerin Maike Albath, die über das Verhältnis von Kritik und Literatur in Italien nachdenkt. Udo Taubitz schreibt ein Porträt der britischen Autorin Nicola Barker. Barbara von Reibnitz liest eine Nummer des Leviathan über die deutsche Universitätskrise. Und Roman Hollenstein bespricht eine Ausstellung über den Architekten Rafael Moneo in Palma de Mallorca.

Auf der Filmseite erinnert Preter W. Jansen an den Hollywood-Produzenten David O. Selznick, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Besprochen werden Silvio Soldinis Film "La brulure du vent" nach Agota Kristof und "Storytelling" von Todd Solondz.