Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.05.2002. Die Zeit will nicht glauben, dass die Popkultur schuld ist an Erfurt. In der SZ beschwört Harry Mulisch die kindliche Unschuld Pim Fortuyns. Auch die FAZ porträtiert ihn nicht ohne Sympathie. In der FR wirbt Nathan Sznaider um die europäische Sympathie für die Belange Israels. Die taz erregt sich vorab über Gerhard Schröders Gespräch mit Martin Walser.

Zeit, 08.05.2002

Thomas Groß, Popkritiker der Zeit, will nicht glauben, dass die Popkultur schuld ist an Erfurt. Sein Argument ist so schlicht wie einleuchtend: "Millionen Teenager hören es auch und schießen nicht." Stattdessen zieht Groß eine medienpraktische Konsequenz: "Wenn etwas zu fordern wäre, dann nicht weniger Pop, sondern tatsächlich mehr und bessere Popkritik. Eine Kritik müsste dies sein, die nicht nur herbeizitiert wird, wenn ein schockierendes Ereignis akuten Erklärungsnotstand nach sich zieht, um Tage später wieder in Vergessenheit zu geraten." Auf wen spielt Groß hier an?

Der Schriftsteller Matthias Altenburg (mehr hier) liefert einen eher atmosphärischen Text zum Thema. Er hat die Nachricht aus Erfurt im Radio gehört: "Die Erregung in den Stimmen der Moderatoren ist nicht zu überhören. Fast möchte man, was da mitschwingt, Geilheit nennen. Plötzlich sind sie wichtig. Haben uns etwas Unerhörtes, etwas Nie-da-Gewesenes mitzuteilen. Nicht mehr bloß Effenberg, Uschi Glas und Frühlingsdiäten. Achtzehn Tote, heißt es zunächst, habe es im Erfurter Gutenberg-Gymnasium gegeben 'Das ist nicht die Art, wie wir uns das Projekt 18 vorstellen' sagt der FDP-Abgeordnete Ralf Witzel, dessen Partei bei den kommenden Bundestagswahlen 18 Prozent der Wählerstimmen anstrebt.... Die Medienmaschine läuft. Wie geölt."

Peter Kümmel bespricht drei Theaterpremieren aus Berlin, Zürich und Wien und erzählt dabei folgenden Witz, den wir den Perlentaucher-Lesern nicht vorenthalten wollen: "Ein Amerikaner, ein Japaner und ein Deutscher sitzen in der Sauna und prahlen mit der neuesten Technologie ihrer Länder. Da hört man ein Fiepsen aus der Faust des Amerikaners. Der Mann sagt: 'Sorry, a phone call', hält sich den Daumen ans Ohr und spricht in den Nagel des kleinen Fingers. Kurze Zeit später summt es in der Mundhöhle des Japaners. 'Das ist mein Backenzahntelefon', sagt der Japaner und beginnt, tief im Gaumen, mit seinem Anrufer zu sprechen. Plötzlich rutscht der Deutsche unruhig aus seinem Handtuch hin und her: 'Oh je, ich glaub', ich krieg' ein Fax.'" Platt, aber wir haben gelacht!

Weiteres: Evelyn Finger kommentiert die Büchner-Preis-Entscheidung für Wolfgang Hilbig. Der Schriftsteller Ulrich Peltzer ("Bryant Park") bespricht Chantal Akermans Film "Die Gefangene" nach Proust. Christian Welzbacher berichtet, dass die international so berühmte avantgardistische niederländische Architektur daheim immer mehr einer reaktionären Postmoderne weicht.

Besprochen werden die Ausstellung "Iconoclash" (mehr hier) in Karlsruhe, neue CDs von Tom Waits und die Musiktheater-Biennale in München.

Aufmacher des Literaturteils ist Hubert Winkels' Besprechung von Norbert Krons Roman "Autopilot".

Hinzuweisen ist auch auf einen Essay des Historikers Tony Judt im politischen Teil über den Nahostkonflikt, den die Zeit aus der New York Review übernimmt, auf das Selbstporträt eines Videospieler und "Egoshooters" im Leben, auf ein Gespräch über Gewalt in der Schule mit dem Bildungsforscher Wolfgang Edelstein im Wissen-Teil und auf eine Polemik Michael Naumanns gegen Martin Walser, der vom Kanzler zu einem öffentlichen Gespräch am heutigen Kapitulationstag eingeladen wurde.

SZ, 08.05.2002

Gleich drei Artikel zum Tod von Pim Fortuyn bringt das SZ-Feuilleton heute: Chris Dercon fürchtet, die nun einsetzenden moralischen und existenziellen Fragen könnten die noch immer ausstehende politisch-kulturelle Debatte um Fortuyn verhindern. Christoph Buchwald kann nicht glauben, wie die Wirklichkeit die Fiktion in Pieter Hilhorsts Wahl-Drama "Hetze" eingeholt hat, das von einem Attentat auf einen Rechtspopulisten handelt.

Und der Schriftsteller Harry Mulisch beschwört die kindliche Unschuld Fortuyns: "Ich habe ihm ein paar Mal die Hände geschüttelt. Man hat ihn abgestempelt, als niederländischen Le Pen oder Haider. Aber so war er nicht. Er bezog seine Kraft daraus, dass in ihm nichts Bösartiges war. Das Kennzeichen eines Faschisten ist die Bösartigkeit. Irgendwie war er aber wie ein unschuldiger Junge von zwölf Jahren. So hat er sich auch selbst empfunden, glaube ich. Und das war eben die Kraft. Er konnte schreckliche Sachen über Asylbewerber sagen, und die Leute haben ihn trotzdem gemocht."

Während die taz ein Zuwenig an Erregung feststellt, hält Thomas Steinfeld die Entrüstung (u.a. von Michel Friedman) über Walser, den Kanzler und den 8. Mai für haltlos und einen Akt der Gesinnungshygiene: "Bislang sind von der Veranstaltung nur die Titel der Beiträge bekannt, lauter gewöhnliche Kategorien der politischen Debatte, keine dazu angetan, einen Sturm der Entrüstung anzufachen, und nirgendwo ist eine Entscheidung über den Inhalt dieser Kategorien zu erkennen. Von keinem der Beteiligten ist eine rechtsradikale, geschweige denn antisemitische Äußerung überliefert. Wer auch immer an dem, was an heute Abend über 'Patriotismus' und 'Geschichtsgefühl' gesagt wird, Anstoß nimmt, kann sich dazu in der üblichen Form öffentlicher Polemik äußern. Statt dessen wird eine Unterstellung in Umlauf gebracht: Der Kanzler wolle Martin Walser ein Forum geben, auf dem dieser zum 'Vergessen' aufrufen könne."

Weitere Artikel: Andrian Kreye berichtet von Robert De Niros New Yorker "Tribeca Film Festival". Michael Struck-Schloen besuchte das Festival Neuer Kammermusik in Witten. Angesichts des wiedergehenden Falcos fragt Christian Kortmann, was Musicals aus Popmusik zaubern (viel Geld vor allem). Verena Auffermann kommt von einem egozentrisch geprägten Symposion zur Baukultur im Architekturmuseum Frankfurt. Cathrin Kahlweit schreibt zum Siebzigsten des Historikers und Politologen Arnulf Baring. Nico Bleutge verfasst einen Nachruf auf den Schriftsteller Manfred Bieler, den Verfasser des "Mädchenkriegs". Kristina Meidt-Zinke gratuliert Gertrud Fussenegger zum Neunzigsten, und in einem rührenden Brief aus Cannes teilt Jan Schütte seine Freude mit, zusammen mit Scorsese und Co. die Jury der Cinefondation zu stellen.

Besprochen werden Jessie Nelsons Film "Ich bin Sam" mit Sean Penn, eine neue Verfilmung von Dumas' "Der Graf von Montechristo", eine Ausstellung über die Geschichte des fotografischen Porträts im Deutschen Museum in München sowie Lektüre: Heike Geißlers Roman "Rosa", ein Buch über den Gott Jahwe und Victor Hugos Revolutionsjournal (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 08.05.2002

Auch die FR hat heute ein Dossier über den ermordeten Pim Fortuyn zusammengestellt.

Im Namen von Israels Liberalen wirbt Natan Sznaider bei den Europäern um mehr Verständnis für die Belange Israels: "Die anti-israelischen Demonstrationen in Europa, gerade von Seiten vermeintlich fortschrittlicher Kräfte, haben in den letzten Wochen nicht nur zu dem Gefühl beigetragen, dass 'die ganze Welt gegen uns' ist, sondern auch, dass es bei dem Konflikt nicht nur um die Politik Israels geht, sondern ganz einfach um das Ressentiment gegen Juden schlechthin. Auf diese Weise wird die Position derjenigen Israelis bestärkt, die den Konflikt als einen Existenzkampf der Juden gegen ihre Feinde definieren wollen. Wenn man dann noch das Vorgehen der israelischen Armee in den besetzten Gebieten mit dem Vorgehen der Nazis vergleicht, wird ein sachlicher Streit über die israelischen Maßnahmen vollkommen unmöglich."

In einem Interview gibt der US-Regisseur James Ivory ("The Golden Bowl") Einblick in den Entstehungsprozess seiner berühmten Historienfilme: "Was man braucht, um sich ganz in die Vergangenheit zu vertiefen, ist noch viel mehr als Nostalgie. Man muss das Gewesene wieder ins Leben zurückholen, und tief darin atmen. Nein, es ist nicht Nostalgie, so empfinde ich es nicht. Man erweckt etwas zum Leben, das noch da ist und besorgt sich die Materialien, die dafür nötig sind."

Weitere Artikel: Josef Früchtl, Professor für Philosophie in Münster, sieht das neue Hochschulrahmengesetz absurde Blüten treiben und macht als eigentliche Gewinner den Staat und die Privatwirtschaft aus. Silke Hohmann besichtigt das neue Museum Kulturspeicher von den Brüdern Brückner & Brückner am Mainufer Würzburgs. Und Friedrich Denk gratuliert der Schriftstellerin Gertrud Fussenegger zum 90.

Eine einsame Besprechung schließlich widmet sich Tom Waits' neuem Album "Blood Money".

NZZ, 08.05.2002

Martin Meyer liefert eine stimmungsvolle Reportage über die Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Turin. Das Thema: "La fortuna della mediazione". Es schüttete zwar wie aus Kübeln, aber, meint Meyer, "was wäre die Poesie ohne Entzug und Verlust, ohne zerschnittene Bande und versagte Wünsche?" Auf der Tagung selbst konnte man "berühmte Namen ... sehen und mehr noch hören - die alten Meister Andrea Zanzotto oder Giovanni Giudici; die jüngeren Talente wie Herta Müller, Wilhelm Genazino oder Joseph Zoderer; für einige Stunden war Durs Grünbein zu erblicken, während Wolfgang Hilbig, der frisch gekürte Büchnerpreisträger, auch spät in der Nacht und dann gleich wieder beim Frühstück gerne dabei war." Und "am Ende herrschte fast überall Zufriedenheit vor, dass für einmal die Literatur als reine Kunst vor den gelehrten Referaten zur Theorie dominierte."

Derek Weber berichtet über Querelen beim Umbau des Kleinen Festspielhauses in Salzburg: "Eine neunköpfige Jury kürte im September 2001 den Entwurf der luxemburgisch-salzburgischen Architektengruppe Hermann & Valentiny, Wimmer, Zaic zum Siegerprojekt. Holzbauer, ein Schüler Clemens Holzmeisters, wurde nur an zweiter Stelle placiert. Gegen diese Entscheidung legte Holzbauer beim Bundesvergabeamt Berufung ein. Genau hier kommt das kafkaeske Element ins Spiel. Es ist gar nicht leicht, herauszufinden, was diese Institution genau macht und wer ihr angehört."

Weitere Artikel: Rainer Hoffmann stellt das Museum für Gartenkunst im Schloss Benrath vor. B. En. berichtet über den Neubeginn im Theater Biel Solothurn, das künftig der "Heimkehrer" Hans J. Ammann leiten wird. Und köh. annonciert Robert de Niros Tribeca-Filmfestival in New York vor.

Besprochen werden die Ausstellung "Jan van Eyck und seine Zeit" in Brügge und Bücher, darunter ein Band mit Erinnerungen und Polemiken von Charles-Albert Cingria und ein Raffael-Katalog von Jürg Meyer zur Capellen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 08.05.2002

Aus gegebenem Anlass wurde auf den vorderen Seiten ein Pim-Dossier zusammengestellt, das u.a. ein kleines Porträt des am Montag ermordeten niederländischen Rechtspopulisten enthält.

Über den Mangel an Vorab-Erregung über die Schröder/Walser-Diskussion am Jahrestag des Kriegsendes wundert sich Ralph Bollmann in einem Beitrag der Tagesthemen - nicht übermäßig. Schließlich, so Bollmann, hat sich das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation in den vier Jahren Rot-Grün so grundlegend verändert wie zuvor in Jahrzehnten nicht, haben die Sozialdemokraten eine berlin-republikanische Erinnerungskultur installiert, zu der es auch passt, dass der Kanzler am 8. Mai mit dem "umstrittenen Schriftsteller Martin Walser" über die 'normale Nation' diskutiert. "So wird das Kriegsende, als Tag der Befreiung von Nationalsozialismus, zu einem positiven Anknüpfungspunkt des deutschen Selbstverständnisses."

Kultur-kritisch gesehen werden eine Retrospektive des schwedischen Weltkunst-Politaktivisten Öyvind Fahlström im Institut d'art contemporain Lyon-Villeurbanne, die Kurzfilm-Kompilation "99euro-films", Sean Penns Meister-Leistung in Jessie Nelsons Kinofilm "I am Sam" sowie ein Hamburger Symposium zum Thema "Mode-Kunst, Mode-Lust, Mode-Zeit".

Schließlich TOM.

FAZ, 08.05.2002

Nicht ohne Sympathie für seine querulatorischen Qualitäten porträtiert Dirk Schümer den holländischen Politiker Pim Fortuyn: "Er hatte den Comment aufgekündigt, gemäß dem ein Premierminister sich bis zur Graugesichtigkeit durch den Apparat hochdienen und dabei alle Kanten abschleifen muss. Zuweilen glichen seine Auftritte eher wie eine Übersetzung provokanter Soziologenthesen zu 'Politik als Show und Dienstleistung' in die Wirklichkeit; zuweilen schien es sogar, als habe der Spieler Fortuyn diebischen Spaß an seiner feindlichen Übernahme eines wehrlosen Aufsichtsrats von Honoratioren und inszeniere das alles als Happening."

Auch Michael Gassmann will Fortuyn nicht einfach als Rechtspopulisten sehen: "Seinen Vorwurf, der Islam sei 'rückständig', hat er mit dem Verweis auf seine Homosexualität begründet: Einen wie ihn unterdrücke man in einem islamischen Land, während in den Niederlanden seine Orientierung akzeptiert werde. Das, was man als ausländerfeindlich gebrandmarkt hat, kam als Lob der Toleranz daher."

Hans Ulrich Gumbrecht feiert in einem hübschen kleinen Essay auf der Stilseite (die sich leider mit Mode kaum befasst) die Mode: "Meine Lieblingsfunktion der Mode hat absolut nichts mit sozialer Integration oder Abgrenzung zu tun. Am meisten bewundere ich an den Menschen, die dem rätselhaften Zickzackkurs der Moden unablässig und leidenschaftlich folgen, dass dieses Interesse in ihnen eine ständig erneuerte Konzentration auf die Gegenwart wirkt. Es macht sie wachsam."

Jochen A. Siegle interpretiert den Rücktritt des Chefredakteurs von Slate, Michael Kinsley, als Epocheneinschnitt in der jungen Geschichte des Online-Journalismus: "Kinsley hat mit Slate eine der bemerkenswertesten - wenn gleich auch teuersten - journalistischen Erfolgsgeschichten des Internets geschrieben, für redaktionelle Online-Angebote hat er einen Meilenstein gelegt." Und fand in Deutschland leider keine Nachahmer.

Weiteres: Der britische Kritiker der EU John Laughland, Autor eines Buchs über "The Undemocratic Origins of the European Idea" polemisiert gegen die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs, der "keiner demokratischen, parlamentarischen oder rechtlichen Kontrolle unterliegt". Hubert Spiegel resümiert eine Londoner Tagung über das Werk Martin Walsers. Vermeldet werden nebenbei auch die Proteste gegen das öffentliche Gespräch zwischen Gerhard Schröder und dem Autor heute in Berlin. Dietmar Dath interviewt den Hacker Christoph Kastius, der die gefälschter Adresse des Erfurt-Attentäters Robert Steinhäuser lahm legte. Volker Zastrow gratuliert dem Historiker Arnulf Baring zum Siebzigsten. Dieter Borchmeyer gratuliert der Schriftstellerin Gertrud Fussenegger zum Neunzigsten.

Auf der Medienseite bespricht Jörg Thomann eine Dokumentation über Harald Juhnke, die heute Abend in der ARD läuft. Auf der letzten Seite schreibt Georg Imdahl über die Auseinandersetzungen um eine Herforder Ausstellung des norwegischen Künstlers Bjarne Melgaard, die im Ruch steht, die Death-Metal-Szene zu verherrlichen. Dietmar Polaczek hat den Abschiedskonzerten der Berliner Philharmoniker unter Abbado in Italien zugehört. Und Milos Vec zeichnet ein Profil des Internetkritikers Lawrence Lessig, der ein neues Buch vorlegt.

Besprochen werden New Yorker Theaterpremieren von Stücken Edward Albees, Turgenjews und Max Frischs, Chantal Akermans Film "Die Gefangene" die "Türkischen Schauspiele" von Daniel Casper bei den Ruhrfestspielen, das "Festival junger Autoren" in Berlin und die Austellung "Le dernier portrait" im Pariser Musee d'Orsay.