Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2002. Die FAZ erklärt, was der spanische Ministerpräsident unter Verfassungspatriotismus versteht und fand die neue Büchersendung "Der Club" mit Lea Rosh nicht besonders amüsant. In der taz porträtiert Gabriele Goettle einen Psychiater, der erklärt, warum er Neuroleptika verschreibt. Die SZ debattiert über Stammzellen.

SZ, 28.01.2002

Die SZ widmet zwei Texte dem Import embryonaler Stammzellen, über den der Bundestag am Mittwoch entscheiden wird. Bernd Graff blickt auf die Debatte der vergangenen eineinhalb Jahren zurück: "Daran krankte die Diskussion und wird sie fortan weiter kranken: Ethischer Fundamentalismus verbietet jede Forschung. Der Tatsachenfatalismus verbiegt die Ethik. Solange man in Deutschland nicht den Mut hat, sich an eine Revision und Neudefinition des Beginns menschlichen Lebens zu wagen werden es auch in Zukunft solche ethikfremden Bedingungen sein, die das ethische wie das juristische System im Nachhinein zu integrieren suchen muss. Eine Ethik in der Reaktion aber, erpresst vom Tagesgeschäft, ist keine Ethik."
Heidrun Graupner überlegt, was man mit dem Rat der Räte anfangen kann: Die Enquetekommission des Bundestages (hier mehr) lehnt mehrheitlich den Import embryonaler Stammzellen ab, der Nationale Ethikrat des Kanzlers befürwortet ihn (mehr hier).

Andrian Kreye berichtet vom letzten Aufgebot der New Yorker Friedensbewegung (mehr hier), die zum Boykott des Films "Black Hawk Down" aufruft: "Es sah fast drollig aus, wie die Transparente über den Köpfen der Feierabendmenge auf- und niederhopsten. Ein Häuflein von 30 Demonstranten marschierte vor dem Kinopalast am New Yorker Union Square im Kreis und skandierte: 'Racist pro-war propaganda ? boycott 'Black Hawk Down'!" Recht hätten sie zwar, meint Kreye, doch demonstrierten die wenigen Unermüdlichen und der Klapptisch mit Flugblättern vor allem eines: "den jämmerlichen Zustand, in dem sich die New Yorker Friedensbewegung 'vier Monate nach den Anschlägen und am Vorabend der zweiten Kriegsphase' befindet".

Weiteres: Verena Auffermann verkündet einen Generationenwechsel in sämtlichen Kunsthäusern der Stadt Frankfurt. Claus Heinrich Meyer erinnert an den verstorbenen Germanisten Wolfgang Promies. Ijoma Mangold schreibt über die neuesten Verwerfungen aus der Welt der Fach- und Ratgeberverlage (immerhin der ökonomische Kern des Buchhandels).

Besprochen werden Franz Schreker neoromatisches Renaissance-Drama "Die Gezeichneten" in Stuttgart, eine Aufführung von Brechts "Heiliger Johanna der Schlachthöfe" am Frankfurter TAT, Luciano Berios Musiktheater "Un re in ascolto" an der Frankfurter Oper, eine Version von Strindbergs "Fräulein Julie" der schwedischen Künstlerin Charlotte Engelkes in Hamburg, Paul Cox' Film "Innocence" und schließlich das Konzert des "begnadeten" Entertainers Bobby Conn.
Ferner die Ausstellung "Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933 bis 1945", die seit September letzten Jahres durch norddeutsche Kirchen tourt und momentan in der Hamburger Petrikirche gastiert, zwei Schauen von Iving Penns Aktfotografien in New York und Bücher, darunter Martin Bauschkes Studie "Jesus im Koran" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 28.01.2002

Paul Ingendaay porträtiert den spanischern Ministerpräsidenten Jose Maria Aznar auf dem Höhepunkt seiner Macht. Auf dem Parteitag seiner konservativen Partei verteidigte er seinen Begriff des "Verfassungspatriotismus" und wies damit alle Regionalisten Spaniens in die Schranken: "Mit der Besetzung des Begriffs 'Verfassungspatriotismus' schlägt Aznar drei Fliegen mit einer Klappe. Er lässt die Tradition seiner eigenen Partei gleichsam neu beginnen, nämlich mit der demokratischen Verfassung von 1978. Er attackiert Eta und das Umfeld des harten Nationalismus. Und er sendet an die autonomen Regionen Spaniens die eindeutige Botschaft, dass sie von der Zentralregierung keine weiteren Sonderrechte zu erwarten haben. Denn die Verfassung schließt das Autonomiestatut ein. 'Verfassungspatriotismus' bedeutet: Bis hierhin und nicht weiter."

Tilman Spreckelsen kommentiert die neue Lage nach Verabschiedung des neuen Urhebervertragsrechts: "Sosehr das Reformvorhaben auch verwässert wurde, so wenig präzise einige Bestimmungen auch sein mögen - eines jedenfalls wird das neue Gesetz in jedem Fall bewirken: Es zwingt beide Seiten wenn schon nicht zur Einigung, so doch jedenfalls an einen Tisch, und dies mit der klaren Vorgabe, worüber verhandelt werden muss."

Auf der Medienseite schreibt Jörg Magenau eine vernichtende Kritik der ersten Bertelsmann-Buchclub-Sendung "Der Club", die gestern in Vox lief: Gast "Walter Kempowski, 73, musste sich mit Gaby-Hauptmann-Fragen auseinandersetzen wie: 'Wollen Sie noch siebzig Jahre leben?' Oder: 'Sie haben schon vierzig Bücher geschrieben. Wollen Sie ins Guinness-Buch der Rekorde?' Kempowski trug's mit Fassung und Humor, und doch fragt man sich, was Autoren noch alles ertragen, um ihre Bücher zu verkaufen." (Siehe dazu auch die Kritik beim Perlentaucher.)

Weitere Artikel: In Carl Zuckmayers Geheimdienstkolumne geht es um den Schriftsteller Ernst Glaeser. Der Staatsrechtler Wolfram Höfling stellt die im Bundestag kursierenden Vorschläge zum Stammzellimport auf den Prüfstand des Verfassungsrechts. Stefan Weidner hat einem Gespräch zwischen dem israelischen Dichter Amos Oz und seinem palästinensischen Kollegen Izzat Ghazzawi in Tübingen zugehört - beide waren sich einig, dass ein Kompromiss gefunden werden müsse, der unter anderem voraussetzt, dass die jüdischen Siedler die besetzten Gebiete verlassen. Joseph Hanimann er innert an den Buchhändler Martin Flinker, der als jüdischer Exilant im Nachkriegs-Paris eine berühmte deutsche Buchhandlung betrieb (ihm ist im Jüdischen Museum von Paris eine Ausstellung gewidmet).

Ferner blickt Joseph Croitoru in osteuropäische Zeitschriften, die sich mit dem Phänomen des Populismus in der Region auseinandersetzen. Jordan Mejias bleibt angesichts des jüngst von Amazon.com gemeldeten Profits skeptisch. Patrick Bahners schreibt zum Tod des Historikers Dimitri Obolensky. Roland Kany lauschte einem Vortrag des Religionshistorikers Arnolf Angenendt über die Entstehung Europas als Folge christlicher "Entethnisierung". In Meldungen erfahren wir, dass Peter Handkes Roman "Der Bildverlust" die SWR-Bestenliste anführt und dass der Berner Schriftsteller Alexander Heimann für seinen Roman "Muttertag" den Deutschen Krimipreis 2002 erhält.

Für die letzte Seite hat Andreas Rosenfelder eine Grundschule in Köln besucht, wo man nach der Pisa-Studie auf mehr Unterstützung der täglichen Kärrnerarbeit hofft. Katja Gelinsky schilder Auseinandersetzungen amerikanischer Tierschützer mit Religionen, die Tieropfer praktizieren. Und Matthias Oppermann schreibt ein kleines Profil über den amerikanischen Althistoriker und Kriegstheoretiker Donald Kagan, der einen mangelnden Patriotismus der amerikanischen Akademiker beklagt.

Besprochen werden Schrekers von Blut und Sperma "Gezeichnete" in Stuttgart, die "Heilige Johanna der Schachthöfe" am Frankfurter TAT, ein Drama, das für Gerhard Stadelmaier zum Alteisen gehört und auch von Regisseur Tom Kühnel nicht wieder fahrtüchtig gemacht wird, Martin McDonaghs Stück "Der Leutnant von Inishmore" am Burgtheater und eine Ausstellung über die "Neue Sachlichkeit" in Hannover.

TAZ, 28.01.2002

Heute ist der letzte Montag im Monat, also ist Gabriele-Goettle-Tag. Sie war zur "Stippvisite bei einem Hartnäckigen", dem Psychiater Klaus Dörner. Der doppelte und sehr fortschrittliche Doktor überrascht mit dem offenen Bekenntnis zur natürlich auch von ihm praktizierten Behandlung mit Neuroleptika: "Wir geben sie dem Patienten immer auch zu unserer Selbstbehandlung, um ihn überhaupt ertragen zu können."

Mathieu Carriere hat ein etwas kompliziertes Gespräch mit dem legendären Abenteurer, dichtenden Reisereporter und Kult-Autor Helge Timmerberg geführt. Frauke Kempka war im Einkausparadies Venus Fort auf der japanischen Vergnügungsinsel Odaiba.

Und schließlich Tom.
Stichwörter: Goettle, Gabriele

FR, 28.01.2002

Zwei ausführliche Rezensionen heute im Feuilleton der FR:

Über die Stuttgarter Aufführung der opulenten Kultoper "Die Gezeichneten" von Franz Schreker schreibt Hans-Klaus Jungheinrich: "Hässlichkeit als Metapher für Außenseitertum, für psychische Verelendung und verrückte Hoffnung scheint ein geschichtlich abgelegtes Motiv, etwa aus dem Arsenal des Jugendstils. Die moderne Körpermaschine trainiert ihre Materialträgheit nach dem verinnerlichten Bild optimaler Funktionstüchtigkeit, und Zynismus als ultimativer Ausdruck von Subjektivität kennt bei seiner selbstbewussten Exhibition keine Schamgrenze. Jeder seines Outfits Schmied. Gleichwohl enthält die Leidensgeschichte eines Entstellten - der Handlungsgang der Schreker-Oper 'Die Gezeichneten', uraufgeführt 1918 - nicht Wehleidiges von gestern, vollzieht sich (nach Traumlogik) vielmehr als Alptraum durch die Epoche, ein Bad in Lust, Schmerzlust und Luxus, Blut und Gewalt."

Frauke Hartmann hat sich angesehen, was Charlotte Engelkes in Hamburg aus Strindbergs "Fräulein Julie" gemacht hat: ein Musical. Schließlich werden noch politische Bücher besprochen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 28.01.2002

Eine Renaissance des Kirchenbaus in Deutschland vermeldet Jürgen Tietz, der als einen der Gründe dafür eine Sehnsucht nach konfessionsübergreifender Religiosität benennt. "Darauf lässt zumindest einer der bemerkenswertesten 'sakralen' Neubauten schließen, das 'Haus der Stille' der Benediktinerabtei Königsmünster in Meschede von Peter Kulka aus Köln. Beim 'Haus der Stille' entspricht der Reduzierung der Formen auf kubische Grundelemente die absolute Kargheit des Baumaterials Sichtbeton. So erlangt etwa die schmale Kapelle gerade dank der Entäußerung von allem Überflüssigen ihre hohe Unmittelbarkeit."

Maja Turowskaja feiert ein vergessenes Kleinod der russischen Avantgarde, "das seinerzeit berühmte 'Schiffshaus' von Ginsburg und Milinis (1928-30). Früher thronte es frei auf einer Anhöhe des noch nicht abgeholzten Nowinski-Boulevards am Gartenring und erinnerte mit seinen wie Masten in den Himmel ragenden Antennen tatsächlich an ein dahinjagendes Schiff. Es war - da die Baukunst bei grandiosen Neuerungen immer hinterherhinkt - das verspätete Flaggschiff einer Architektur, die bereits beidrehte und Kurs nahm auf den 'Sozrealismus'..."

Weiteres: Anne Huffschmid stellt ein Kunstprojekt des Goethe-Instituts in Mexiko-Stadt vor, dass die Geschichte der Metropole aus der Perspektive des Wassers zu erzählen will. Besprochen werden "Die Gezeichneten" von Franz Schreker in Stuttgart, Johann Kresniks Abschied mit "Picasso" von der Berliner Volksbühne und zwei umjubelte Choreografien des Basler Ballettdirektors Richard Wherlock nach Strawinskys "Sacre" und Mahlers "Kindertotenliedern".
Ferner lesen wir ein Gedicht von Martin Walser: "Heute bin ich heiter vom Gedichtemachen und Ausräumen des Mäusemists..." Nur das Fernsehen, so Walser, macht ihn nicht heiter.