Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2001.

FAZ, 11.07.2001

Einen "Pfahl im Fleische des Rechtsstaats" hat der Freiburger Rechtsanwalt Michael Kleine-Cosack entdeckt: die Gauck-Behörde. "Zahllose bis zur Wende eigentlich selbstverständliche Errungenschaften der ... rechtsstaatlichen Ordnung schienen im Rahmen der Vergangenheitsbewältigung vorübergehend außer Kraft gesetzt worden zu sein. Erinnert sei nur an die Säuberung des öffentlichen Dienstes, an die Eingriffe in das Rentensystem bei Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die Überdehnung des Rechtsbeugungstatbestandes zu Lasten von Richtern und Staatsanwälten der DDR, die Einschränkung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots und die... Berufsverbote gegen Rechtsanwälte und Notare." Und was war erst mit der Wende? Das war doch eindeutig ein Bruch mit der Verfassung der DDR!

Jürgen Kaube hat einer Vorlesung Julian Nida-Rümelins an der Humboldt-Uni zugehört. Thema war die "Risiko-Ethik": "Dass die gebildeten Stände nicht hinzuströmten..., war so verwunderlich wie im nachhinein berechtigt. Denn den drei, vier Dutzend Studenten, die sich einfanden, bot sich ein rätselhaftes Schauspiel. Für Nida-Rümelin nämlich behandelt die Risiko-Ethik nicht das Risiko der Ethik. Sie beurteilt vielmehr die Zulässigkeit von Handlungen, deren Folgen, insbesondere mögliche Schäden, beim Handeln selbst nicht völlig bekannt sind. Da das, recht besehen, so gut wie alle Handlungen sind, behandelt die Risiko-Ethik also alles das, was früher die Ethik ohne Zusatz auch behandelte." Ja, aber mit einer Ethik ohne Zusatz wird man weder Professor noch Minister.

Dokumentiert wird Susan Sontags Rede zur Verleihung des Jerusalem-Preises, die vor Wochen in Israel große Aufregung auslöste - Sontag kritisiert darin das Vorgehen der Israeli gegen die Palästinenser. "Meiner Ansicht nach ist die Doktrin der Kollektivverantwortung als Grundlage für kollektive Strafmaßnahmen niemals zu rechtfertigen, weder militärisch noch ethisch. Ich meine damit den Einsatz unverhältnismäßig massiver Feuerkraft gegen Zivilisten, den Abriss ihrer Häuser und die Zerstörung ihrer Obstbäume und ihrer Gärten, die Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen, die Verweigerung der Möglichkeit, zu arbeiten, Schulen zu besuchen, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen, benachbarte Städte und Gemeinden ungehindert zu erreichen . . . und all dies als Bestrafung für feindselige militärische Aktivitäten aus der Umgebung dieser Zivilisten."

Weitere Artikel: Werner Bloch berichtet über die Menschenrechtsgruppe Freemuse, die sich für verfolgte Musiker einsetzt, und er schildert die haarsträubende Politik der afghanischen Taliban, die alle Musik verboten haben. Der britische Schriftsteller David Flusfeder denkt über die jüngsten Rassenunruhen in Bradford nach. Michael Gassmann stellt die neue Dauerausstellung des Bonner Hauses der Geschichte vor. Hansjörg Küster legt in einem längeren Essay dar, dass in dem von der rotgrünen Regierung geplanten neuen Naturschutzgesetz "ein gefährlicher Geist" steckt - womit er meint, dass es an die Nazi-Begrifflichkeit des Naturschutzes anknüpfe. Malte Selugga stellt neue Architektur in Peking vor. Dieter Bartetzko gratuliert Ilse Werner zum Achtzigsten. Und Wolf-Dieter Lange schreibt zum Tod des Romanisten Manfred Hardt.

Auf der Stilseite erfahren wir, wie es beim sechzigsten Geburtstag des Spitzenkochs Eckart Witzigmann zuging. Außerdem wird eine Ausstellung über den Rohstoff Holz im Stuttgarter Haus der Wirtschaft besprochen.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung über den Heiligen Georg im Diözesanmuseum Freising, die Thalia-Theatertage in Hamburg und eine Ausstellung mit figurativer Kinetik im Museum Heilbronn.

NZZ, 11.07.2001

Matthias Vogel setzt sich mit dem "Maschinenmenschen" als Thema der Gegenwartskunst auseinander. Nach einer Phase der Begeisterung für den "Cyborg" seien nun Zweifel aufgekommen, schreibt er: "Verbargen sich hinter den neuen Mythen vom selbstbestimmten Cyborg ein weiteres Mal jene Kräfte, die den menschlichen Körper - und den Geist - gemäß den militärischen, wirtschaftlichen oder volkshygienischen Anforderungen kontrollieren und abrichten wollen?"

Marta Kijowska porträtiert Wieslaw Mysliwski, der trotz seines schmalen Werks zu den wichtigsten Autoren der polnischen Nachkriegsliteratur gezählt wird: "Obgleich stets um die Dorfthematik kreisend, wurden seine späteren Werke von der Kritik in der Regel sehr unterschiedlich interpretiert: Während die einen in ihm einen eigenwilligen Chronisten des Bauerntums sahen, der in poetischen Bildern die untergehende Dorfkultur zur Wiege nationaler Mythen hochstilisierte, interpretierten die anderen in seine Bücher universelle, auf die Diagnostik der gesamten Zivilisation abzielende Inhalte hinein."

Besprochen werden Raoul Ruiz' Proust-Film "Die wiedergefundene Zeit" und einige Bücher, darunter "Die Last des Erinnerns" von Wole Soyinka und der erste Band der "Deutschen Erinnerungsorte". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

SZ, 11.07.2001

Sonja Zekri wundert sich über die Rückkehr realer Protestformen ? etwa heutzutage gegen den Ölmulti Esso, der Bushs Treibhauspolitik sponsort: "Dass sich im Zeitalter des Cyberprotestes und der Online- Demonstrationen, der per Handy gesteuerten und im Internet flankierten Großaufmärsche ausgerechnet der alte Verbraucherboykott als wirksamstes Druckmittel gegen den 'Erderwärmungsschurken Nummer 1' erweisen soll, wirkt so zeitgemäß wie ein Palästinenser-Tuch. Man fühlt sich an jenen Protest- Sommer vor sechs Jahren erinnert, als wir Wohlmeinenden den Camembert verweigerten, weil Frankreich Atomversuche auf Mururoa unternahm." Und doch braucht der Cyber-Protest auch reale Pflastersteine, meint Zekri: "In Genua werden wir es erleben."

Slavenka Drakulic schildert den Unwillen der kroatischen Öffentlichkeit, sich mit den Kriegsverbrechen der eigenen Seite auseinanderzusetzen: "Das brutale Vorgehen gegen die Muslime in Bosnien 1993/94 ist ein politisches Tabu. Die längst dokumentierten ethnischen Säuberungen in der Krajna werden von den führenden kroatischen Politikern bestritten oder ignoriert. Wurden trotzdem ein paar Fakten genannt, vor allem in den unabhängigen Wochenzeitschriften Fera Tribune und Nacional, wurden die Enthüllungen von rechten Parteien und Veteranenverbänden sofort als 'Kriminalisierung des vaterländischen Krieges' denunziert. In einer solchen Atmosphäre muss jede Zusammenarbeit mit dem Internationalen Gerichtshof als Verschwörung gegen Kroatien wahrgenommen werden."

Weitere Artikel: Heiko Flottau schildert die Lage der koptischen Minderheit in Ägypten, die gegen Verunglimpfungen der islamistischen Presse protestiert. Petra L. Schmitz hat sich die neue Dauerausstellung des Bonner Hauses der Geschichte angesehen. Ausgerechnet in Weimar wird an Kultur gespart, berichtet Jens Schneider ? die Stadt soll ihr Musiktheater schließen, dafür muss Erfurt sein Schauspiel aufgeben. Und ab dann wird getauscht! Andrian Kreye stellt einen Konzertpavillon vor, den der Architekt Richard Meier in Woodstock errichtet

Besprochen werden Peter Chelsoms Filmkomödie "Stadt, Land, Kuss" mit Warren Beatty, Kafkas "Strafkolonie" als "Taschenoper" von Philip Glass und Patrick Marbers neues Theaterstück "Howard Katz", das in London uraufgeführt wurde.

FR, 11.07.2001

Roman Luckscheiter schildert die Reaktionen in Frankreich auf Jorge Sempruns neues Buch "Le Mort qu'il faut" (hier eine Leseprobe). Im Mittelpunkt der Erinnerungen an das KZ Buchenwald stehen die 'Muselmanen', " jene Lagerinsassen also, die den Kampf ums Überleben aufgegeben hatten und als gleichsam lebendige Tote ihr Ende erwarteten". Damit "irritierten (sie) die Lagerhierarchien, denn sie waren die einzigen, die sich den Regeln des Engagements und den Machtspielen gänzlich entzogen - wofür sie von den Ideologen unter den Häftlingen verachtetet wurden", schreibt Luckscheiter. Ausgerechnet die kommunistische Tageszeitung L'Humanite habe in ihrer Kritik begrüßt, "dass Semprun die inneren Widersprüche des 'Konzentrationsuniversums' einer dialektischen Reflexion unterzogen habe". Das Literaturmagazin Lire deutet das Buch "sogar als reine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. 'Der Kommunismus ist eine Krankheit, von der man sich ein Leben lang erholen muss', beginnt Didier Senecal seine Rezension."

Michael Mayer denkt über die Sterbehilfe und die damit einhergehende "Verrechtlichung des Todes" nach. Zur Sensibilisierung für dieses Thema empfiehlt er die Lektüre von Kants Text "Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen", in dem dieser erklärt hatte, dass auch extreme Notsituationen keine Lüge rechtfertigten.

Weitere Artikel: Jochen Wagner hat das alte Turiner Fiat-Werk Il Lingotto besucht und hofft ? wohl vergeblich ? auf dessen Rettung, denn "Il Lingotto, Prototyp einer Fabrik, Ikone des Industriezeitalters, Symbol für die Ästhetik der Geschwindigkeit und erstes Riesenatelier futuristischer Ingenieurskunst, die Geburtsstätte des legendären Topolino, zu deutsch Örtchen, wird umgebaut in ein Multifunktionszentrum aus Shopping, Unterhaltung und High Tech." Hinzuweisen ist auch noch auf einen kurzen Artikel, der eine interessante Meldung des Börsenvereins des deutschen Buchhandels weitergibt: "'Elektronische Medien und Internet haben sich als hilfreiche Partner des Buches erwiesen', unterstrich der Vorsitzende des Börsenvereins, Roland Ulmer. Intensive Nutzer des Computers seien auch 'Intensivleser'." Na bitte.

Besprochen werden die Retrospektive der Bauten und Projekte des Architekturbüros VSBA im Philadelphia Museum of Modern Art, eine "Einführung in die Pop-Kultur" des Berliner Sprayers und Comic-Künstlers Atak in der Kunsthalle Osnabrück, eine Ausstellung über Fotografien aus dem Spanischen Bürgerkrieg im Pariser Hôtel de Sully, Matthias Hartmanns Inszenierung der "Mittsommernachtssexkomödie" in Bochum und Armin Holz' Inszenierung von Jane Bowles' "Im Gartenhaus".

TAZ, 11.07.2001

Dirk Knipphals macht sich Gedanken über die "medialen Diskurse" im Fall Hannelore Kohl: "Wer sich daranmacht, das Knäuel ein wenig zu entwirren, wird feststellen, dass hier vor allem zwei Diskurse miteinander verwoben sind: ein Helden- und ein Opferdiskurs." Verstehe.

Weitere Artikel: Christian Broecking bespricht Jazzplatten von Sun Ra und von ehemaligen Arkestra-Mitgliedern. Harald Fricke hat ein Buch über Fakes in der Kunst gelesen. Und Klaus Witzeling resümiert die Autorentheatertage in Hamburg.

Schließlich Tom.