Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2001.

TAZ, 22.06.2001

Christian Beck erzählt die Geschichte der Band 3Mustapha3, die in den achtziger Jahren "Balkan-Boom und Alles-geht-Trend" vorwegnahmen und jetzt ein Album mit Live-Aufnahmen herausgebracht haben. "Nehmen wir den berühmten Kühlschrank, der wann immer möglich, das Mustapha-Bühnenbild zierte: Hatte ihn nach der einen Quelle der alte Oberonkel der vorigen Generation von seinen Jahren im Westen mit nach Hause gebracht, so stand er an anderer Stelle für die Schmuggelware auf den Balkan, mit der die Musikanten, bevor sie die Kapelle gegründet hatten, erste Geschäfte gemacht hatten; wieder ein anderes Mal sollen sie sich gar selbst in Kühlschränken ausser Landes geschmuggelt haben. Dass es sich bei dem zentralen Objekt der Bandgeschichte um einen Kühlschrank handelte, machte eines allerdings sofort unmissverständlich klar: Ganz so ernst gemeint konnte das alles natürlich nicht sein!"

Zeit und FAZ haben gestern ein und dasselbe Buch besprochen: Alistair MacLeods Roman "Land der Bäume". Heute wird es im Literarischen Quartett vorgestellt. Zu diesem Zusammentreffen meint Dirk Knipphals: "Am Beispiel Alistair MacLeods (der dafür gar nichts kann) kann man im Kleinen sehen, woher die Königsmacht Reich-Ranickis im Detail rührt: aus unzähligen Liebdienereien und Kotaus der anderen."

Weitere Artikel: Falko Hennig führt sein Literaturfestivaltagebuch weiter, Steffen Grimberg beschreibt, wie die deutschen Filmproduzenten an Einfluss gewinnen, und Harald Fricke erinnert an die Minimalrocker Neu!, in den Siebzigern "stilbildend für den deutschen Elektronikminimalismus und doch weit gehend vergessen" - nicht jedoch von Herbert Grönemeyer, der gerade ihre drei ersten Platten auf CD wiederveröffentlicht hat.

Besprochen werden die neue CD der Prefab Sprout und Nana Djordjadzes Film "27 Missing Kisses".

Schließlich Tom.

SZ, 22.06.2001

Uwe Mattheis schildert, wie die Wiener Festwochen mit der 24-tägigen Installation aus Kunstwerken, Menschen und Medien ? "Du bist die Welt" ? den Horizont für die Hochkultur erweitern wollen. Zu sehen gibt es etwa Beiträge über den Bürgerkrieg im Libanon, die "gerade erst überwundenen Diktaturen" in Südamerika oder den "Einbruch ungebremster wirtschaftlicher Dynamik" in die chinesische Gesellschaft. "Das Wiener Künstlerhaus gerierte sich im Unterschied zu üblichen Festivals in einer eigenwilligen Mischung aus olympischem Dorf und linkem Stadtteilfest. Doch was unterscheidet ein offenenes Konzept ohne letzte Antworten von einem Warenkorb, die jedem etwas bietet? Es ist vielleicht der Versuch, aus jeder dieser einzelnen, aber eben nicht individuell-zufälligen Erzählungen die Dimension einer Totalität des gesellschaftlichen Prozesses zu erschließen, der sich als solcher schon nicht mehr positiv formulieren lässt."

Holger Liebs behauptet, wir erlebten ein Comeback der Softcore-Ästhetik David Hamiltons, wie sie das Magazin "twen" prägte. Beleg für dieses Comeback ist ein "sechsseitiger, großzügig bebilderter Artikel" im Kunstmagazin Frieze über "Hamilton und seine romantischen Utopien androgyner Teenager-Liebe". Ihm ist es recht: "Das Bilder-Universum eines David Hamilton ist zwar vergleichsweise schlicht strukturiert ... aber seine Beliebigkeit ist zugleich seine größte Stärke: Man kann praktisch alles damit bebildern ? so auch die gegenwärtig grassierende Sehnsucht nach Traumbildern eines fernen, unerreichbaren Erotik-Ideals im Zeitalter proliferierender Pornografie und Post-Pornografie, die die trostlos-nüchterne Entblößung des Fleisches anstelle verführerischer Wunschbilder und diffundierender Erlösungsprojektionen propagiert." Gerade 30 geworden, wie?

Weitere Artikel: Fritz Göttler berichtet ziemlich missmutig über den Deutschen Filmpreis 2001, der heute in Berlin verliehen wird. Jakob Augstein meditiert über die wachsende Inflation, die seiner Ansicht nach "die Stabilität der deutschen Seele" bedroht (mit Ausnahme der seinen, versteht sich). Klaus Koch liefert seine Noten und Notizen, und Bernd Graff kommentiert den Versuch des Sterns, Schwule mittels eines "grob auf Schwuchtel umgeschminkten Bundesadlers" aufs Cover zu bringen: "Alltagsrequisiten aus dem Kleiderschrank des Transvestiten also, alles, was der Schwule eben tagsüber so anzieht: Federboa, Nagellack, falsche Wimpern und Lidschatten. Das Übliche ? wenn man unter 'üblich' das annimmt, was den Minimalkonsens des normalen deutschen Spießers seit den fünfziger Jahren bildet." Das Cover zum Thema weiblicher Orgasmus ? "Frau in zitternder Ekstase, hungriger Körper, auffahrende Lust" - fand er dagegen "schön: versengende Inbrunst at it?s very, very best."

Besprochen werden Albrecht Hirches Inszenierung von Sergio Leones Film "Spiel mir das Lied vom Tod" im Berliner Prater und Paul Celans Briefwechsel mit Erich Einhorn (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 22.06.2001

Jordan Mejias hat die New York Times besucht, um zu sehen wie die Stimmung dort nach Bekanntgabe von Massenentlassungen (die Zahl nennt die FAZ leider nicht) ist und stieß dort auf komplettes Unverständnis für seine Sorge um die amerikanischen Medien: "Im staunenswert euphemistischen Jargon der gewandten Medienkommunikatorin: Während eines 'wirtschaftlichen Abschwungs werden die Kosten mit den Erträgen abgestimmt, ohne langfristige Perspektiven dabei zu schädigen'. Bei soviel Voraussicht und betriebstreuer Fürsorge wird es einem richtig wohl ums Herz, und wenn Mathis schließlich vom 'chirurgischen Zurechtstutzen' schwärmt, das dem Patienten zu 'mehr Effizienz' verhelfe, aber nicht seine 'Produktivität' antaste, fühlt sich der Gast aus Europa fast gedrängt auszurufen: Warum nur acht oder neun Prozent weniger Angestellte? Warum nicht gleich eine Radikaloperation, die ein für allemal Glück, Profit und das ewige Leben der Firma und ihrer Investoren garantiert?"

Joseph Hanimann berichtet über die Bioethikdebatte in Frankreich, die sich von der in Deutschland strikt unterscheidet: "Wird die Frage über Diagnose und Manipulation an befruchteten menschlichen Eizellen etwa in Deutschland stark unter dem Gesichtspunkt versteckter Eugenik mit oft theologischen Anklängen diskutiert, geht das laizistische Frankreich das Thema eher in der Perspektive der Menschenrechte an." Ratlos ist man in Frankreich nur, wenn es um Embryonen geht, die noch keine "wahren Subjekte" sind. Doch versucht man pragmatisch zu denken: "Just am Tag der Kabinettssitzung über die Bioethik wurde auch die unglaubliche Geschichte der zweiundsechzigjährigen Jungmutter bekannt, die in Südfrankreich einen Knaben zur Welt brachte. In Kalifornien hatte sie sich die mit dem Sperma ihres Bruders befruchtete Eizelle einer Spenderin einpflanzen lassen. Dieser Bruder, der sich im konfliktreichen Zusammenleben mit seiner Schwester bei einem Selbstmordversuch das Gesicht verstümmelt hat und erblindet ist, benutzte die Gelegenheit, von einer amerikanischen Leihmutter ebenfalls ein Kind gebären zu lassen. So hätschelt das in die Jahre gekommene Geschwisterpaar, dessen Streitszenen wiederholt von der Polizei geschlichtet werden mussten, nun gemeinsam die beiden Säuglinge. Wollen wir so eine Gesellschaft? fragen die französischen Medien im Verein. Und man muss zugeben, dass diese Frage irgendwie dringlicher ist als die grundsätzlichere und höhere Frage nach dem prinzipiellen Recht auf Leben."

Andreas Kilb fordert anlässlich der heutigen Verleihung des Deutschen Filmpreises die Zentralisierung der deutschen Filmförderung: "Und natürlich kann nur eine Stadt die Zentrale sein: Berlin."

Ben Goertzel porträtiert in der Reihe "System Builders" den KI-Forscher Danny Hillis, Erfinder der Connection Machine, heute Vizepräsident der Forschungs- und Entwicklungsabteilung im Inagineering Department der Walt Disney Corporation, aber "im Grunde seines Herzens" immer noch ein MIT-Hacker.

Weitere Artikel: Gerhard R. Koch gratuliert Billy Wilder zum 95. Geburtstag, Andreas Rossmann fragt, ob Nordrhein-Westfalen sechs neue Museen braucht, Patrick Bahners hat zugehört, als Brigitte Kronauer das Schneekapitel ihres Romans "Teufelsbrück vortrug, Florian Rötzer berichtet von einer Studie der University of Washington, wonach sich Frauen im virtuellen Raum schlechter orientieren können als Männer, Hans-Jörg Rother schreibt über das Jewish Film Festival in Berlin, Thomas Weber erklärt, warum Gentests nur halbe Wahrheiten sagen, Caroline Neubauer berichtet über eine internationale Konferenz zur Psychoanalyse in Osteuropa, die in Magdeburg stattfand, Christof Kullmann berichtet über die Sanierung des Londoner Stadtteils Elephant & Castle, ein Gebiet von 112 Hektar, dass von einem einzigen privaten Investor saniert werden soll, Thomas Wagner flaniert auf dem "Plateau der Menschheit" der Kunstbiennale von Venedig, und Siegfried Stadler schildert einen Rechtsstreit um eine Karl-May-Fälschung.

Besprochen werden das Neil-Young-Konzert in Frankfurt, eine Ausstellung mit Marc Chagalls Frühwerken im Jewish Museum in New York, Paul Dukas' Oper "Ariane et Barbe-Bleue" an der Staatsoper Prag, eine Doppelausstellung über Kunst und Kultur im Japan der Edo-Zeit in der Städtischen Galerie Regensburg, Douglas Couplands Roman "Miss Wyoming" und Sachbücher (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten und Phono-Seite geht es unter anderem um die neue CD von Prefab Sprout und Arvo Pärts "Johannespassion".

NZZ, 22.06.2001

Joachim Güntner berichtet, dass "Schlingensiefs Neonazis", die in seinem Hamlet mitgespielt haben, sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Weshalb sie jetzt den Verein "Rein" gegründet haben, der als Makler "für junge Rechtsradikale Kontakte knüpft: der Wiedereinstieg in die Gesellschaft soll sich über die Mitarbeit an kulturellen Projekten, in politischen Organisationen und sozialen Organisationen vollziehen. Eine Wiederholung des als gelungen empfundenen 'Hamlet'-Modells, wenn man so will, nur in breiterem Massstab." Güntners Bedauern mit den Neonazis hält sich in Grenzen: "Hätte man das Aussteigerprojekt 'Naziline' immer deutsch aussprechen müssen, um die wahre Statur seiner Protagonisten zu erfassen: Nazilein?" fragt er am Anfang seines Artikels.

Gisa Funck hat AVL-Ville, den Künstlerstaat von Joep van Lieshout in Rotterdam besucht und ist enttäuscht: "Spätestens nach Feierabend wird klar, dass die Kategorie 'Staat' in der Variante des Egomanen van Lieshout auf das Format einer Rote-Zora-Abenteuer-Freizeit geschrumpft ist. Dann nämlich fahren die allermeisten seiner Anhänger brav nach Hause und übernachten in ihren alten Wohnungen, obwohl das Ideal eigentlich vorsieht, dass jeder sich im Hafen häuslich einrichten soll. So gesehen unterscheiden sich die Rotterdamer Pseudo-Anarchos nur rein qualitativ von den Mitgliedern eines Kegelvereins: Letztere gehen zum Kegeln, Erstere für ein paar Stunden zum Rebellieren."

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel berichtet über das Berliner Literaturfestival. Besprochen werden eine "Traviata" zum Saisonabschluss an der Volksoper Wien, eine Uraufführung von Maurice Bejart im römischen Theater von Lyon und eine Ausstellung des Zürcher Architektenteams Meili & Peter im Architekturmuseum in Basel.

FR, 22.06.2001

Jan Assmann schreibt eine Replik auf Karl Heinz Bohrers Vorwurf, die Deutschen hätten ihr "Fernverhältnis" zur eigenen Geschichte verloren, weil sich die geschichtliche Erinnerung auf den Holocaust begrenze. Assmann erinnert daran, dass man sich in Deutschland zwar intensiv mit der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt hatte, der Holocaust aber erst seit 20 Jahren eine mehr als marginale Rolle in der Geschichtswissenschaft spielt. "Es ist ja keineswegs der Fall, dass erst ab Ende der 70-er Jahre die Fakten über den Holocaust bekannt geworden und das ganze Ausmaß des Verbrechens ans Licht gekommen wäre. Die entscheidenden Fakten lagen seit Kriegsende vor. Aber erst 30, 40 Jahre später begannen sie sich im Bewusstsein der Nachwelt mit Sinn und Bedeutung anzureichern: nicht mit 'subjektiv gemeintem Sinn' im Sinne von Max Weber, sondern mit kollektiv verbindlichem Sinn, wie ihn die Völker, Nationen und sonstigen Gemeinschaften seit eh und je aus der Vergangenheit, und ganz besonders aus der Erfahrung gemeinsamen Leidens, bezogen haben."

Weitere Artikel: Jörn Klare porträtiert die Schriftstellerin Mira Magen, deren Romane im Milieu orthodoxer Juden spielen, Roland Burgard zeigt sich in einem Artikel begeistert vom "größte und meistdiskutierte Kulturprojekt der Alpenrepublik", dem jetzt eröffneten Wiener "MuseumsQuartier", und Heribert Kuhn erinnert an den Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion vor 60 Jahren.

Besprochen werden die Ausstellungen "Abstraktion und Ornament" der Fondation Beyerle in Riehen, Bauhausfotografie im Metropolitan Museum of Art und Stillleben von Irving Penn im Folkwang Museum Essen. Die CD "The Job" von der finnischen Band Op:l Bastards und Nana Dzhordzhadzes Film "27 Missing Kisses".