Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2001.

FR, 15.06.2001

Eine originelle Ausstellung über Alfred Hitchcock hat Peter Körte im Pariser Centre Pompidou gesehen. Sie heißt "Coincidences fatales": "Die Räume sind nach Themen wie Schrecken, Fetisch oder Spektakel gegliedert, jeder entwirft in sich Korrespondenzen und Verschiebungen, und zugleich korrespondieren sie miteinander, so dass der Weg durch die Ausstellung zum Gang durch ein Labyrinth wird."

Weitere Artikel: Roman Luckscheiter resümiert französische Debatten über den Kultur- und Naturbegriff in Zeiten der Gentechnologie. Thomas Oberender interviewt den Autor und Musiker Alexej Schipenko zu seinem Stück "Dreiunddreißigstes Kapitel", das in Boch uraufgeführt wurde. Besprochen werden Connie Walthers Film "Wie Feuer und Flamme", die Händel-Festspiele in Halle, Jewgeni Schwarzes Stück "Der Drache" in Basel, die Ausstellung "Unter der Haut" im Lehmbruck-Museum in Duisburg und eine "Iphigenie" in Hersfeld.

TAZ, 15.06.2001

Im Interview mit Künstlern der Gruppe "kein mensch ist illegal" erfährt man Neues über Strategien der Subversion, die auch mit den Mitteln des Internets arbeiten. Ziel der Aktion ist es, die Lufthansa davon abzubringen, Abschiebehäftlinge zu transportieren: "Wir versuchen, die Lufthansa zum Ausstieg aus diesem Geschäftsbereich zu bewegen, indem wir die Marke angreifen. Die Lufthansa verkauft nicht nur Flüge, die Lufthansa verkauft ein Image, dass man dort sicher fliegt und sauber fliegt. Darum ging es in der Kampagne, dieses Image anzugreifen", sagt Siegmund Bergmann, der die Aktionen mit organisiert. Nun wird unter dem Titel deportation.class eine Online-Demonstration vorbereitet.

Weitere Artikel: Frieder Reininghaus stellt fest, dass sich das Musiktheater erst jetzt wirklich mit dem Holocaust befasst, untersucht verschiedene neue Opern, findet aber keine richtig überzeugend. Bei Jay Rutledge erfahren wir: "In Westafrika sind Magic System längst zu führenden Stars der lokalen Zouglou-Szene aufgestiegen. Allmählich verbreitet sich ihr Ruf nun auch in Europa." Eine Doppelbesprechung widmet sich einer CD von Bertrand Burgulat und einem elektronischer Tribut an Gainsbourg. Kurz vorgestellt wird außerdem eine Marianne-Hoppe-Biografie.

Schließlich Tom.

SZ, 15.06.2001

Henning Klüver stellt Giuliano Urbani vor, Schüler von Norberto Bobbio und Giovanni Spadolini, und jetzt neuer italienischen Kulturminister, der sich mit zwei Konkurrenten im eigenen Haus herumschlagen muss: Vittorio Sgarbi, Staatssekretär mit besonderen Aufgaben für die Kulturgüter und zugleich "größter Schreihals der Szene, der keinen Streit auslässt, vor laufenden Fernsehkameras auch schon mal handgreiflich wird, und in zahlreichen Prozessen wegen Beleidigung verurteilt worden ist" und einem weiteren Staatssekretär für die Kulturarbeit, dem "politisch bislang unbekannte Steuerberater Nicola Bono", der "zur Alleanza Nazionale gehört, und aus der Jugendbewegung der neofaschistischen Sozialbewegung MSI hervorgekommen ist. Hier ging es wohl vor allem darum, jemanden ein Amt zu geben, ohne nach dem Verstand zu fragen."

Thierry Chervel zitiert kesse Worte der künftigen Berliner Kultursenatorin Adrienne Goehler: "Gleich in ihren ersten Äußerungen im Berliner Inforadio schlug die Politikerin Pflöcke ins Terrain: 'Ich komme nicht nach Berlin, um eine Oper zu schließen', sagte sie gestern zum Lokalsender, 'die jetzige Truppe hat sich darauf verständigt, dass sie sehr viel ändern möchte und dazu gehört auch, dass Kunst, Kultur, Wissenschaft und Forschung einen Stellenwert bekommen, der der Hauptstadt zusteht.' Ein Zitat, das man sich in den elektronischen Kalender eintragen und alle drei Monate durch automatische Erinnerungen ins Gedächtnis zurückrufen sollte."

Dazu passt eine kurze Meldung von Wolfgang Schreiber, der schockiert berichtet, dass die "bereits zugesagte Umwandlung der Berliner Philharmoniker in eine Stiftung" aufgeschoben, "wenn nicht akut gefährdet" sei. Akut gefährdet ist damit auch Sir Simon Rattles Unterschrift auf dem Vertrag für die Nachfolge Claudio Abbados.

Martin Urban berichtet über eine Veranstaltung mit Theologen und Naturwissenschaftlern in der Berliner Urania, die sich mit der Frage beschäftigten, ob der freie Wille eine Illusion ist. Denn "nun ziehen Naturwissenschaftler, vor allem Gehirnforscher, aus ihren Experimenten den Schluss, dass der Mensch keinen freien Willen hat, sondern dass alle seine Entscheidungen bedingt sind. Neurologen und Psychologen versuchen durch Experimente zu erklären, warum der Mensch subjektiv das Gefühl eines freien Willens hat, sich dabei aber in einem Irrtum befindet. Wenn die Naturwissenschaftler Recht hätten, bräche für die Kirchen wieder einmal ein Weltbild zusammen. Sie müssen die Begründungen für ihren Glauben neu interpretieren."

Weitere Artikel: Peter Luthersson, ehemaliger Feuilleton-Chef der Tageszeitung Svenska Dagbladet, berichtet über einen hässlichen Streit zwischen zwei Alt-Sekretären der Schwedischen Akademie. Steffen Kopetzky schreibt in der Reihe "Das war die BRD" über Perry Rhodan, Helmut Mauro berichtet über den Van Cliburn Klavierwettbewerb, Ulrike Bals skizziert die "Erfolgsgeschichte" des Hamburger Architekturbüros gmp, und Johannes Willms kritisiert, dass das Thema Europa von den Politikern nie politisiert wurde und das mit gutem Grund, denn "was wäre gewonnen, wenn die Wähler wirklich über die kostspieligen Ungereimtheiten des EU-Agrarmarkts Bescheid wüssten?! Würde sie da nicht der heilige Zorn packen und dazu anstiften, das ganze Projekt Europa in Frage zu stellen?" Deshalb habe Europa "keine andere Wahl, als weiterzuwursteln" wie bisher.

Besprochen werden eine Ausstellung mit "moralischen Bildern" von Sean Scully im Haus der Kunst in München, eine Retrospektive mit Filmen von Boris Barnet im Münchner Filmmuseum, eine szenische Aufführung von Verdis "Simon Boccanegra" in Bozen mit Claudio Abbado und dem Mahler Chamber Orchestra, der Auftritt von Theo Loevendies "Johnny & Jones" beim Holland-Festival und zwei Bücher, nämlich die Autobiografie des Filmemachers Frank Beyer und ein Band über die Bauentwicklung Berlins (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 15.06.2001

Heinrich Wefing schreibt über die kulturpolitische Lage in Berlin und nimmt den nun bald abtretenden Kultursenator Christoph Stölzl trotz einer traurigen Bilanz in Schutz: "Dass er in seiner kurzen Amtszeit so wenig bewegen konnte, resultiert weniger aus individuellem Versagen als vielmehr aus einer strukturellen Lähmung. Jeder Kultursenator in Berlin, auch Stölzls designierte Nachfolgerin, die parteilose Ex-Grüne Adrienne Goehler, derzeit noch Präsidentin der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, sieht sich von einer Pyramide von Problemen schier erdrückt und von Sachzwängen eingemauert wie ein Pharao in seiner Grabkammer."

Im gleichen Zusammenhang steht ein Artikel von den Charite-Ärzten Manfred Dietel und Joachim Dudenhausen, die vom Plan des designierten neuen Bürgermeisters Klaus Wowereit, in der Hochschulmedizin 150 Millionen Mark einzusparen, warnen: "Eine Phantasiezahl, die, selbst wenn alle begeistert mitmachen würden, gar nicht umsetzbar ist, ohne Wesentliches zu zerstören und so nebenbei noch massiv gegen gesetzliche Vorschriften zu verstoßen. Dies wäre der Tod der Medizinforschung in Berlin - eine Katastrophe nicht nur für die Charite allein, sondern für das erfolgreich aufgebaute Netzwerk der molekularmedizinischen Forschungslandschaft und Berliner Biotechnologie."

Aber es ist kulturell auch was los in Berlin, zum Beispiel das Internationale Literaturfestival, das ganz ohne Berliner Gelder auskommt. Die FAZ dokumentiert Charles Simics Eröfffnungsrede. Der amerikanische Lyriker verteidigt die "Glückseligkeit des Gegenwärtigen" gegen den Tugendterror der Utopien und stellt noch mal richtig: "Eierköpfe aus aller Herren Ländern sind in der Regel emsig bemüht, den Konformismus salonfähig zu machen. Die abstoßendsten Formen von Unterdrückung in der Sowjetunion, Nazideutschland und jüngst während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien wurden von einigen der größten Geister der Zeit enthusiastisch unterstützt. Die Intellektuellen und Schriftsteller, die sich auf Distanz halten und den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht sagen, waren traurigerweise immer eine kleine Minderheit."

Weitere Artikel: Christian Geyer hat sich die Rede des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst Benda auf dem Kirchentag angehört ? es ging um den Schutz von Embryonen. Manuel Zick berichtet, dass Archäologen in Aleppo den Tempel des Wettergottes fanden. Vom Treffen des Ordens Pour le merite werden Enzensbergers Laudatio auf Imre Kertesz und Peter von Matts Erinnerung an Andrzej Szczypiorski dokumentiert. Jürgen Kaube berichtet über eine internationale Studie der OECD zum Bildungswesen, in der sich unter anderem herausstellt, dass mehr als 40 Prozent der deutschen Schullehrer über 50 sind. Jörg Magenau resümiert eine Berliner Tagung zum Zustand des deutschen Literaturbetriebs. Eva Menasse schreibt zum Tod des österreichischen Anchormans Robert Hochner. Uwe Walter hat einer Tagung der Mommsen-Gesellschaft in Göttingen zugehört. Andreas Obst resümiert den Van-Cliburn-Klavierwettbewerb, der von der jungen Russin (Achtung: Musik) Olga Kern gewonnen wurde. Der hervorragenden Internetadresse des Wettbewerbs widmen wir übrigens unseren Link des Tages.

Besprochen werden der Film "Love & Sex", Adriana Hölszkys Oper "Giuseppe e Sylvia", eine Ausstellung der Malerin Annette Schröder in Luckenwalde, Alexej Schipenkos Stück "Dreiunddreißigstes Kapitel..." in Bochum und der Film "Wie Feuer und Flamme".

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's unter anderem um Schubert- und Mahler-Einspielungen unter Michael Gielen und um die texanische Band "Spoon".

NZZ, 15.06.2001

Hanno Helbling legt einen interessanten kleinen Essay über die Motive der Biografik vor. Einst habe man Biografien geschrieben, um sich mit einem "großen" Menschen zu befassen. Dann sei der Autoritarismus zugunsten der Skepsis in die Krise geraten. "Was aber geschieht, wenn Bewunderung kein Motiv mehr sein soll und Identifizierung gescheut wird? Man wäre geneigt, sich darunter etwas Befreiendes vorzustellen, eine frohgemut-selbstbewusste Entthronung der Autoritäten. Dergleichen ist vorgekommen, aber aufs Ganze gesehen überwiegen inzwischen die Grautöne; ein Autor lässt sich zu widerwilliger Anerkennung herbei; er hat nicht viel einzuwenden, salviert sich durch Vorbehalte und überlässt es der Leserschaft, ob sie mehr auf die Schatten- oder die Lichtseiten achten will."

Vor Umwälzungen steht der Prado nach dem Bericht Markus Jakobs. Unter dem Vorsitz des Siftungspräsidenten Eduardo Serras, eines ehemaligen Verteidigungsministers, der nach eigenem Bekunden von Kunst nichts versteht, ist folgendes geplant: Der Etat soll verdreifacht werden, "auf ungefähr 70 Millionen Franken jährlich, inklusive eines Ankaufsetats von 15 Millionen. Sponsoring, Merchandising und Eintrittsgelder (wobei mittelfristig mit einer Verdoppelung des Eintrittspreises zu rechnen ist) sollen künftig über 30 Millionen Franken jährlich generieren. Auch der Staat wird freilich zur Kasse gebeten: Sein Anteil an der Finanzierung soll zwar von 67 Prozent (europäischer Durchschnitt heute: 62 Prozent) auf 50 Prozent sinken, in absoluten Zahlen wird er sich aber mehr als verdoppeln."

Weitere Artikel: Carlo Moos schreibt zum 200. Geburtstag des lombardischen Föderalisten Carlo Cattaneo. Besprochen wird ein "Figaro" in Stuttgart.

Auf der Medienseite der NZZ liest man einen Artikel über die Tendenz, für Inhalte im Internet wieder Geld zu verlangen und erfährt nebenbei, dass die FAZ ihren Internetauftritt offensichtlich bereut. Die NZZ zitiert den Aufsichtsratsvoritzenden FAZ, Hans-Wolfgang Pfeifer, mit den Worten: "'Intellektuelle Leistungen dürfen generell nicht verschenkt werden.' Sein Blatt hatte sich bereits bisher gegenüber der Schenkkultur zurückhaltend verhalten und nie die ganze Zeitungsausgabe gratis ins Netz gestellt. Laut der Netzeitung.de hält Pfeifer aber auch den Entscheid seines Hauses für falsch, die FAZ den Abonnenten online anzubieten. Die Nutzer würden noch erkennen, dass das Internet 'eine tiefere Information nicht bringen kann und nicht bringen will'. Dies sei die Aufgabe und Chance der Zeitungen."