Essay

Neid und Gier in Darmstadt

Eine Predigt über das Neunte Gebot, gehalten in der Stadtkirche Darmstadt Von Götz Aly
11.03.2010. Seit 2004 veranstaltet der Pfarrer der Stadtkirche Darmstadt einen Predigtzyklus zu den zehn Geboten. Er lädt zu diesen Predigten prominente Autoren ein. Götz Aly deutet das Neunte Gebot am Beispiel der Judenverfolgung in Darmstadt: Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen.
Liebe Gemeinde!

Zehn Wochen, nachdem die Israeliten der ägyptischen Sklaverei entflohen waren, ließ Gott ihren Stammesführer Moses auf den Berg Sinai kommen. Unter Donner und Blitz, Rauch und Fanfarenstößen verkündete er dort die Zehn Gebote. Sie betreffen das Verhältnis der Menschen zu Gott, insbesondere verbieten sie den Menschen die Vergottung des Irdischen, den selbstgefälligen Tanz um das Goldene Kalb, den Götzenglauben, der das Paradies auf Erden verspricht. Davon handeln die ersten drei Gebote dieses alten, knapp gefassten Gesetzeswerks, des Dekalogs. Die folgenden sieben Gebote beinhalten Regeln, mit deren Hilfe die Menschen den Haus-, Stadt- und Landfrieden wahren, Rechtsordnungen begründen, Faustrecht und Willkür zurückdrängen können.

Am heutigen zweiten Sonntag der Passionszeit ist mir aufgegeben, über das 9. Gebot zu sprechen. Das 9. und 10. Gebot werden im biblischen Text nicht getrennt und lauten: "Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind, seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört." Nimmt man die zeitgebundenen Eigenheiten heraus - die Sklaven und die zum Eigentum des Mannes gezählte Frau -, dann sagen diese Gebote: Du sollst nicht habgierig auf deinen Nachbarn schauen; du sollst aufhören, dich als den Zukurzgekommenen zu betrachten; du sollst dich nicht an den Besitztümern und Erfolgen anderer messen; du sollst auf hinterhältige Gedanken und neidische Blicke verzichten.

Die Gebote vier bis acht verbieten den Diebstahl, den Mord, den Ehebruch und die falsche Beschuldigung. Sie handeln von der Untat selbst. Dagegen zielen die beiden letzten und damit hervorgehobenen Gebote neun und zehn auf die innere Haltung des Menschen. Sie thematisieren das Begehren, die nagende Eifersucht, die gehässige Missgunst, die Engherzigkeit, den tückischen, unversöhnlichen Blick auf den Konkurrenten oder den Erfolgreichen. Sie handeln vom Neid.

Ich habe den Auftrag zu dieser Predigt bekommen, um anhand des 9. Gebotes "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus" über die Judenverfolgung zu sprechen, insbesondere über die sogenannte Arisierung des Eigentums der Juden in der Zeit des nationalsozialistischen Deutschland. Warum wurden Juden teils von ihren christlichen Nachbarn unmittelbar beraubt und teils vom Staat zugunsten aller Nichtjuden enteignet? Wie kam es, dass so viele Deutsche stillhielten, als die Juden deportiert wurden - auch hier in Darmstadt?

Im ersten Buch der Könige wird im Alten Testament berichtet, wie derartiges geschehen kann (1 Kön 21, 1-16). Es ist die Geschichte von Ahab, der damals König von Israel war. Ahab wollte einen herrlich fruchtbaren und gepflegten Weinberg kaufen, der neben seinem Palast lag. Doch Nabot, der Besitzer, verweigerte den Verkauf aus Familienstolz. Daraufhin verbreitete Ahabs Frau Isebel das Gerücht, Nabot habe Gott und den König gelästert, sei ein Volksfeind, eine Gefahr für das Land und für alle Israeliten. Nach einem kurzen, vor großem Publikum veranstalteten Prozess erging das Todesurteil. Die Menge führte Nabot aus der Stadt hinaus und steinigte ihn. Seinen Leichnam warf man vor die Hunde. Jetzt konnte der Weinberg den Besitzer wechseln.

Betrachten wir den biblischen Fall, so bildeten Neid und Habsucht das Motiv für ein schweres, von der politischen Führung geplantes Verbrechen. Zur Mordtat selbst bedurfte es der Verleumdung, wirksamer Propaganda, eines Schauprozesses und der gemeinsam vollzogenen Steinigung. Mit diesen Mitteln zogen König Ahab und Königin Isebel das Volk Israel in die Mittäterschaft, sie "verführten es zur Sünde", wie es im biblischen Text heißt, zum gemeinsamen Mord an einem Unschuldigen. So entstand kollektive, individuell nicht genau zu bemessende Schuld. Die diffus verteilte Schuld führte zum gemeinsamen Beschweigen des Bösen. Auf der so eingeschlagenen, Moral und Gewissen lähmenden schiefen Bahn hätten - in der Logik des Satans - bald weitere, schwere Verbrechen folgen können. Aber Gott zürnte angesichts des Mordes. Mit all seiner Macht gebot er den Menschen Einhalt und rottete die Königsfamilie aus.

Wie verhielt es sich vor rund 70 Jahren mit den Juden in Darmstadt? Nach einer langen Zeit antisemitischer Propaganda, die, zumal an der hiesigen Technischen Hochschule, schon während der Weimarer Jahre starken Widerhall gefunden hatte, berief der Leiter der Darmstädter Gestapo Anfang März 1942 eine Sitzung ein. Sie fand im Plenarsaal des Landtages am Luisenplatz statt. In der Einladung stand: Umsiedlung der Juden aus dem Volksstaat Hessen. An der Versammlung nahmen Vertreter der Reichsbahn teil, der Reichspost, des Oberfinanzpräsidenten, der Grundbuchämter, der Gauwirtschaftsverwaltung, des Generalstaatsanwalts und weiterer Behörden. Am 20. März wurden die ersten 1000 Juden von hier nach Lublin deportiert. Die nächsten Deportationen folgten am 27. und am 30. September 1942. Sie betrafen mehr als 2000 Menschen: 1288 wurden in das Konzentrationslager für alte Leute Theresienstadt verschleppt, 883 jüngere Juden ins besetzte Polen, wo mittlerweile die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka errichtet worden waren. Die Transportbegleitung übernahmen nicht SS-Männer, sondern hiesige Schutzpolizisten, die sonst den Verkehr regelten, die öffentliche Ordnung wahrten und alten Leuten über die Straße halfen.

Das Sammellager für die todgeweihten Juden errichtete die Gestapo mitten in dieser Stadt in der Justus-Liebig-Schule. Wie sicher mussten sich die staatlichen Machthaber fühlen, wenn sie auf jedes Versteckspiel verzichteten! Die Schule blieb im März für einige Tage und vom 14. September bis zum 2. Oktober für den Unterricht geschlossen. In der Liebig-Schule mussten sich die eingelieferten Männer und Frauen nackt ausziehen und körperlich durchsuchen lassen. Anschließend katalogisierten Beamte und Sekretärinnen der Finanzverwaltung ihre Besitztümer peinlich genau. Sie nahmen ihnen Wertgegenstände, Parfümerien, Medikamente, Lederwaren, gute Kleidungsstücke und Geld ab und übergaben die Beute teils dem Finanzamt, teils dem Darmstädter Einzelhandel, um dessen kriegsbedingt karges Sortiment aufzubessern. Sozialarbeiterinnen und freiwillige Helferinnen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt versorgten die in der Schule gefangen gehaltenen Juden mit Suppe. Die Angestellten im Einwohnermeldeamt vermerkten auf den Meldekarten "unbekannt verzogen" oder "ausgewandert". Die Darmstädter beobachteten, wie die Juden gruppenweise aus dem hessischen Umland zum Sammellager Liebig-Schule antransportiert wurden, später konnten sie sehen, wie die Gefangenen von dort die etwa eineinhalb Kilometer bis zum Güterbahnhof durch die dicht bewohnten Straßen geführt wurden. "Alles ging exakt vor sich, in Ruhe und Ordnung", wie ein beteiligter Kriminalbeamter später bezeugte. Der vor aller Augen vollzogene Abtransport der Juden "nach Osten" war Tagesgespräch, selbst unter den Kindern, die schulfrei hatten. Fragten sie, was mit den Gefangenen geschehe, antworteten die Eltern: "Das sind Leute, die zum Arbeitseinsatz weggebracht werden!" Das Wort "Juden" vermieden die Eltern. Protest regte sich nicht. Die Darmstädterinnen und Darmstädter wollten nicht wissen, was da vorging. Sie waren längst mitschuldig geworden, und die öffentlich organisierte Deportation zog sie noch tiefer in die Mitverantwortung.

Kurz vorher, im November 1941, hatte Thomas Mann in einer seiner an die deutschen Hörer gerichteten BBC-Reden unverblümt von den Motiven gesprochen, die seine früheren Landsleute (und auch die Darmstädter Bürgerinnen und Bürger) an ihre Nazi-Führer fesselten: "Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins riesenhafte gewachsenen Hass, der eines Tages, wenn eure Volks- und Maschinenkraft erlahmt, über euren Köpfen zusammenschlagen muss. Ja, Grauen vor diesem Tag ist am Platz, und eure Führer nutzen es aus."

Vor 1933 hatten fast 2000 Bürger jüdischer Konfession in Darmstadt gewohnt. 1932 und 1933 war in dieser Stadt der Anteil von Wählern, die für Hitler stimmten, überdurchschnittlich, und im Zeichen der Rassenlehre wandten sich viele Christen von einem der wichtigsten Grundsätze ihres Glaubens ab: Jeder Mensch ist Ebenbild Gottes. Sie verleugneten Gott, vergotteten ihre weltlichen Führer und gerieten auf die Bahn des Bösen.

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurden hier in Darmstadt die Synagogen in der Fuchsstraße, in der Bleichstraße und in der Friedrichstraße niedergebrannt. Einzelne SA-Männer begingen die Taten. Die meisten Darmstädter schwiegen dazu betreten, wenige freuten sich offen oder insgeheim, andere sagten sich: "Was geht mich das an, die Zeiten sind schwer genug." Am nächsten Tag erschien die Hessische Landes-Zeitung mit der Schlagzeile "Darmstadts Bevölkerung erhebt sich gegen jüdische Provokation". "Wollte man fragen, wer den Brand entfacht hat", hieß es in dem Artikel, "so bliebe als einzige Antwort darauf: Niemand oder alle. Denn wer hätte es bedauert, als die fremden Zeugen einer asiatischen Bauweise in Flammen aufgingen?" Spätestens jetzt waren alle nichtjüdischen Einwohner Darmstadts in das System des Bösen eingefangen. 1940 ließen die Ratsherren die Synagogenruine in der Friedrichstraße abbrechen. Die Abrisskosten stellten sie der Jüdischen Gemeinde in Rechnung, überführten das Grundstück in städtischen Besitz und errichten darauf den Erweitungsbau für das Städtische Krankenhaus. Das nützte allen Nichtjuden - und nützt ihnen bis auf den heutigen Tag.

Die Enteignungen der Juden hatten zuvor begonnen, in Darmstadt zum Beispiel die Metzgerei Louis Oppenheim in der Wendelstadtstraße, das Geschäft für Schirme und Spazierstöcke von Max Morgenthau in der Kiesstraße, das Schuhhaus Baar in der Ernst-Ludwig-Straße. Deutlich über hundert Geschäfte verschwanden oder wurden "arisch". Schmuck, Möbel, Häuser und Fabriken wechselten die Besitzer. Im Darmstädter Lokalteil berichtete die Hessische Landes-Zeitung am 3. Juli 1938: "Der Marktplatz wurde bekanntlich beherrscht von den beiden großen nichtarischen Einzelhandelsfirmen Gebr. Rothschild und Tietz AG, die auf arische Inhaber übergegangen sind. Auf der anderen Seite des Marktplatzes sahen wir früher die nichtarische Bettenfirma Buchdahl, die ihren Geschäftsbetrieb eingestellt hat."

Die kleinen materiellen Vorteile, die Arbeitsplätze, die infolge der gegen die Juden verhängten Berufsverbote seit 1933 immer wieder frei wurden, das Verschwinden von Konkurrenten, die günstige Kaufgelegenheit, das Schnäppchen beförderten das Schweigen. Später wurden Hausrat und Wäsche, ja selbst eingewecktes Obst und Marmeladevorräte deportierter Juden versteigert oder über örtliche Trödler und Einzelhändler verkauft. Wer einmal direkt oder indirekt von der sogenannten Verwertung nichtarischen Eigentums profitiert hatte, und das waren auch in dieser Stadt Tausende, der wollte vom Schicksal der Enteigneten nichts mehr wissen, dem war es zur Besänftigung des eigenen Gewissens recht, wenn die verbliebenen Juden irgendwann, irgendwie verschwanden. Hauptsache, sie waren weg. Diese Gewissensfessel ließen sich die Deutschen allerorten von ihrer Regierung überstreifen.

Wie zuvor schon die Massenmorde an deutschen Geisteskranken und Behinderten vollzogen die Behörden den Mord an den Juden unter dem Rubrum "Geheime Reichssache". Wirklich geheim blieb wenig. Das eigentliche Geheimnis bestand in der Offerte der Führer an die Geführten, sich aus der Verantwortung zu stehlen: Weil die Deutschen nicht wissen durften, dass ihre Mitmenschen in den Tod deportiert wurden, brauchten sie es nicht zu wissen, konnten wegblicken, verdrängen, ihren Kindern etwas von "Arbeitseinsatz" erzählen. Auf diese Weise blieb den Volksgenossen die moralische Überforderung erspart. Sie folgten dem Angebot, sich mit den mörderischen Tatsachen nicht konfrontieren zu müssen, und wichen so dem Konflikt mit ihrer (christlichen) Herkunftsmoral aus. Das war das zweite Mittel zur Betäubung des Gewissens.

Auf der so geschaffenen Grundlage konnte die staatliche Propaganda den Deutschen eine dritte, ebenfalls unsichtbare Fessel anlegen. Punktuell bestärkten Hitler und Goebbels immer wieder und absichtsvoll die Ahnung, dass mit den Deportierten Furchtbares geschehe, immer wieder sprachen sie in ihren Reden von "der Vernichtung der jüdischen Rasse". So entstand das zunächst noch lose, später fester gespannte Netz des halbbewussten Schuldzusammenhangs, der Verstrickung in unaussprechliche Verbrechen. Das vage Wissen und das starke Nichtwissenwollen machten die Volksgenossen moralisch reglos. Ich zitiere noch einmal aus Thomas Manns Radiorede vom November 1941: "Eure Führer, die euch zu all diesen Schandtaten verführt haben, sagen euch: Nun habt ihr sie begangen, nun seid ihr unauflöslich an uns gekettet, nun müsst ihr durchhalten bis aufs Letzte, sonst kommt die Hölle über euch." Tatsächlich hielten die allermeisten Deutschen still und kämpften bis zum bitteren Ende, bis sie am 8. Mai 1945 mit harter militärischer Gewalt von sich selbst befreit wurden. Sie hatten die frevelhaften Angebote ihrer Volksführer angenommen: Sie hatten Vorteile aus der Enteignung der Juden gezogen, sie hatten die Deportationen gesehen, manches gehört und flüchteten dann in den ihnen angebotenen Ausweg: Ihr dürft das alles nicht wissen, vergesst es schnell! Folglich konnten sie hinterher weder sich noch anderen erklären, wie ihnen geschehen war, und sie behaupteten aus tiefer Überzeugung: Das haben wir nicht gewusst.

Warum aber begehrten so viele Deutsche damals das Hab und Gut der Juden? Warum verstießen sie in so großer Zahl gegen das neunte Gebot? Liest man die antisemitischen Schriften, die seit den 1880er-Jahren in Deutschland verstärkt erschienen waren, dann fällt immer wieder eines ins Auge: die so mächtige Triebkraft des Neides und Habgier. "Wir sind diesem fremden Volksstamme nicht mehr gewachsen", rief Wilhelm Marr aus, der um 1880 den Begriff Antisemitismus in das Weltvokabular einführte und den schnellen sozialen Aufstieg der Juden in das Zentrum seiner Agitation stellte. (In der Revolution von 1848 hatte Marr übrigens zur demokratischen Linken gezählt und der Revolutionsregierung in Hamburg angehört.)

Tatsächlich kamen die meisten Juden mit den Anforderungen der Moderne sehr viel besser zurecht als die Mehrheit der Christen. Zwischen 1886 und 1901 sprang der Anteil der jüdischen Schüler, die in Preußen einen höheren als den Volksschulabschluss nach Hause brachten, von 46,5 auf 56,3 Prozent. Das christliche Streben nach höherer als Volksschulbildung kroch im selben Zeitraum von 6,3 auf 7,3 Prozent. Gemessen an christlichen Schulkindern erreichten die jüdischen rund 7,5 Mal so häufig mittlere und höhere Schulabschlüsse. In den Statistiken sticht hervor, wie sehr jüdische Eltern bemüht waren, die Mädchen auf höhere Töchterschulen zu schicken. Um 1900 besuchten in Berlin 11,5 Mal so viele jüdische Schülerinnen eine weiterführende Schule wie christliche.

Der offenkundige Vorsprung kam selbstverständlich an den Universitäten, hernach in den Berufen und Einkommensverhältnissen zum Tragen. 1895 gehörte jeder zweite erwerbstätige Jude zur Kategorie der Selbständigen, jedoch nur jeder vierte Christ. Wohin der christliche Immobilismus führte, veranschaulicht das Steueraufkommen. Im frühen 20. Jahrhundert zahlte ein jüdischer Bürger Frankfurts durchschnittlich viermal so viel Steuern wie ein protestantischer, achtmal so viel wie ein katholischer.

Der bekannte Antisemit Adolf Stoecker, dritter Dom- und Hofprediger in Berlin, behandelte damals die Judenfrage nicht als "Zankapfel konfessioneller Unduldsamkeit" und nicht als Rassenfrage, sondern als "Gegenstand sozialer Besorgnis". Er bezichtigte die Juden der Klugheit. Er prangerte ihren "unheilvollen" Aufstiegswillen an. Halb bewundernd, halb verabscheuend warf er ihnen vor im Preußischen Abgeordnetenhaus vor, wie selbst "arme Juden Hab und Gut hingaben, um ihren Kindern eine gute Bildung zu geben". Stattdessen sollten Juden nach seiner Ansicht endlich "dieselbe Arbeit tun wie ein Deutscher", sich nicht länger "von der groben Arbeit fernhalten", sollten "Schneider und Schuhmacher, Fabrikarbeiter und Diener, Mägde und Arbeiterinnen werden". Gelinge das nicht, würden die Juden, "je länger, je mehr Arbeitgeber werden, dagegen die Christen in ihrem Dienste arbeiten und von ihnen ausgebeutet werden".

Wie war es den unterschiedlichen sozialen Aufstiegsgeschwindigkeiten gekommen? Die lange unterdrückten, zunächst besitzlosen Juden nutzen mit der wirtschaftlichen Emanzipation zu Beginn des 19. Jahrhunderts die einzige Möglichkeit, die ihnen offen stand: den Aufstieg kraft Bildung. Anders als die meisten Christen hatten sie in der alten, untergehenden sozialen Ordnung nichts zu verlieren. Vor allem aber fiel ihnen das Erlernen der fortan zwingend erforderlichen Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen leicht. Anders als die meisten ihrer christlichen Altersgenossen wurden viele jüdische Knaben seit jeher alphabetisiert. Das geschah vorzugsweise auf Hebräisch und mit religiösen Inhalten.

Der Bildungswille bezog seine Kraft aus drei Quellen: aus der Religion, der Jahrhunderte langen Rechtlosigkeit und aus der Urbanität. Die Söhne der Juden lernten früh zu fragen, nachzudenken, zu abstrahieren. Sie schulten den Verstand, den Umgang mit Büchern, im gemeinsamen Lesen und Auslegen der heiligen Schriften. So praktizierten sie ihre Religion, die anders als die christliche nicht im Auswendiglernen von Glaubenssätzen bestand, sondern im kontroversen Debattieren. Die derart gebildeten jungen Männer verfügten über eine gediegene, leicht ausbaufähige intellektuelle Basis. Eine analphabetische christliche Familie, zumeist bäuerlicher Herkunft, bedurfte zweier oder dreier Generationen und länger an elementarer Bildung, bis einige ihrer Mitglieder den Sprung in akademische Höhen schafften. Dann litten die eben erst Aufgestiegenen noch für einige Jahrzehnte an Unsicherheiten. So entstand der Neidantisemitismus im Laufe des 19. Jahrhunderts.

Für Wilhelm Marr, übrigens auch für den bekannten hessischen Antisemiten Otto Böckel, stand "das flinke, kluge Israel" gegen "die bärenhäutige germanische Indolenz", standen die Juden, die mit ihren "Talenten wuchern", gegen den "sittlichen Ernst" der (christlichen) Deutschen.

Die Verschlafenen neigen dazu, ihre Trägheit als Tiefsinn, Gründlichkeit oder Innerlichkeit auszugeben. Sie werden zu gehässigen Möchtegerns, suchen den Rückhalt in der Gruppe und steigern gemeinsam ihr schwaches Selbstwertgefühl, indem sie andere abwerten. Ihnen kam die Rassentheorie wie gerufen. Sie erhob die Verlangsamten, Desorientierten, Faulen und Begriffsstutzigen zur geistigen und seelischen Spitze der Menschheit. Jetzt zählte nicht mehr die individuelle Leistung, sondern die Zugehörigkeit zur angeblich höherstehenden Rasse. Auf solche Weise wurden und werden die Gefährdeten, die wenig Selbstbewussten und die mit Minderwertigkeitsgefühlen beladenen zu den Gefährlichen.

Das Markus-Evangelium (Mk 7, 1-23) berichtet von einem theologischen Streit zwischen Jesus und einigen Schriftgelehrten um die alttestamentarischen Reinheitsgebote. In dieser Diskussion erklärte Jesus die Essensvorschriften aus folgendem Grund für unwichtig: "Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein." Hernach baten ihn die Jünger, diesen ihnen rätselhaften Satz noch einmal zu erläutern. Jesus antwortete: Habgier, Bosheit, Hinterlist, Neid, Verleumdung und Hochmut "kommen von innen".

Solche allzu menschlichen Schwächen zersetzen das soziale Miteinander. Sie zerstören Vertrauen, lassen aggressiv werden, führen zur Herrschaft des Verdachts, sie verleiten Menschen dazu, ihr Selbstwertgefühl zu erhöhen, indem sie andere erniedrigen. Kollektiver Neid bildete 1933 die Vorstufe zum Hass und machte die beneideten Juden zu Vogelfreien, nahm ihnen den Schutz althergebrachter religiöser und juridischer Normen. Die im neunten und zehnten Gebot Gottes angesprochenen niederträchtigen Gedanken kommen, wie Jesus sagt, "von innen, aus dem Herzen der Menschen". Sie zerfressen die Moral und ebenen den Weg für das Böse.

Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen

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Seit 2004 veranstaltet der Pfarrer der Stadtkirche Darmstadt einen Predigtzyklus zu fünf der Zehn Gebote. Er lädt für diese Predigten Schriftsteller ganz unterschiedlicher Couleur ein und gibt das Thema, also das Gebot, über das zu sprechen ist, vor. In diesem Jahr waren das bisher Sibylle Lewitscharoff (2.Gebot), Götz Aly (9. Gebot, dessen Predigt wir hier veröffentlicht haben) und Ralf Beil (3. Gebot). Es folgen noch Josef Reichholf (14. März, "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst"), Heinrich Steinfest (21. März, 10. Gebot) und Barbara Hahn (28. März, 6. Gebot)

Till Aly bestritt den orgelmusikalischen Teil mit Mendelssohn und Messiaen.