Essay

Die Umerziehung der Schahiden

Ein Porträt Buwadi Dachijews, stellvertretender OMON-Kommandant der Tschetschenischen Republik. Von Anna Politkowskaja
10.10.2006. "Es gibt in Tschetschenien immer mehr geradlinige Einzeller. Jemanden zu töten bedeutet für sie gleichviel wie Tee zu schlürfen. Einen Menschen zu verstehen, der im voraus zum Feind erklärt wurde, weil er anders lebt, ist für einen Einzeller unmöglich." Der Perlentaucher übersetzt eine der letzten Reportagen Anna Politkowskajas für die Nowaja Gazeta. Die Reporterin porträtiert hier eine Ausnahme: Buwadi Dachijew, den stellvertretenden OMON-Kommandant der Tschetschenischen Republik, der an der Grenze zu Inguschetien erschossen wurde.
Im offiziellen Tschetschenien sind widersprüchliche Menschen äußerst rar. Einer der Letzten von ihnen ist tot - Buwadi Dachijew.

Am 13. September wurde der stellvertretenden OMON-Kommandant der Tschetschenischen Republik, Buwadi Dachijew, in dem inzwischen hinlänglich bekannten Schusswechsel zwischen tschetschenischen und inguschischen Milizen am Grenzkontrollpunkt zwischen Tschetschenien und Inguschetien nach einer lebensgefährlichen Kofverletzung getötet. Ohne überhaupt auf die Hintergründe dieses Schusswechsels einzugehen - sie sind geklärt, wurden überall verbreitet und kommentiert -, möchte ich etwas über Buwadi berichten, was zu seinen Lebzeiten nicht geschrieben werden durfte. Ich möchte damit nicht allein das Andenken eines Menschen ehren, der mir während des Krieges oft half, meine Arbeit zu tun, noch dazu in Augenblicken, wo ein Verzicht auf Hilfe ein durchaus letales Ende hätte bedeuten können.

Buwadi war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, er bestand aus lauter Widersprüchen, aus zwei Hälften. Wenn es dazu irgend welche Assoziationen gab, so war es das Grabmal Chrustschows auf dem Friedhof des Neujungfrauen-Klosters in Moskau. Eine Hälfte ganz schwarz, die andere - ganz weiß.

Einerseits war Buwadi durch und durch ein Militär, wie es sie in Tschetschenien zuhauf gibt, ein Offizier der sogenannten Moskau treuen tschetschenischen Streitkräfte; doch war er keiner jener neuen Sorte, die entstand, als in Kadyrows Aufgebot Kriminelle und Terroristen die Führung übernahmen. Er war ein Vertreter der seinerzeitigen Dudajew-Opposition, der seit 1995 treu ergeben im tschetschenischen OMON diente, was eine absolut prorussische und prinzipienfeste Haltung bedeutete - Tschetschenien war lediglich ein Teil Russlands. Dafür erhielt er Medaillen und den Tapferkeitsorden und wurde zum Obersten ernannt. Als Maschadow und Bassajew an der Macht waren, lebte Buwadi in Tschetschenien, ohne Prinzipien. Dann kam der zweite Krieg, er begann in den vordersten Reihen gegen Maschadow und Bassajew zu kämpfen.

Mitunter war er dabei äußerst brutal. Nennen wir die Dinge bei ihrem Namen: die tschetschenischen OMON-Leute sind keine harmlosen Burschen, die kein Wässerchen trüben können - dort arbeiten Menschen, um zu schießen, und sie schießen, um zu töten, bis es sie selbst erwischt. Der OMON hat immer wieder Menschen verschleppt, verschwinden lassen, geprügelt und weiß Gott was alles getan.

Es war im August in Grosny, bei meiner allerletzten Begegnung mit Buwadi: er hielt den Blick gesenkt und biss wütend in eine Melone, als wäre sie an irgend etwas schuld, war nervös und futterte das rote Fruchtfleisch mit der Gier eines Verhungernden in sich hinein; er tat alles, um das Gespräch über den tschetschenischen Studenten abzuwürgen, den der OMON verschleppt und in seiner Gewalt hatte, der dann aber spurlos verschwunden war. Und nun rennt Aminat Kulojewa, Pensionistin und Mutter des Studenten Alichan Kulojew, gemeinsam mit anderen betroffenen Müttern durch ganz Tschetschenien und fleht alle, die ihr begegnen, an, sie mögen bei Buwadi ein gutes Wort für sie einlegen - vielleicht kann er sagen, wo ihr einziger Sohn ist.

Ich habe es, übrigens, getan. Doch Buwadi schwieg: da gibt es nichts zu antworten - da war ein Student - weg ist er.
Buwadi:" Er hatte sich überhaupt nichts zuschulden kommen lassen".
"Und warum habt ihr ihn dann nicht laufen lassen?"
Buwadi schwieg und zerstückelte die Melonenschale.

Andererseits war Buwadi ebenso oft brutal wie auch sanft, während viele andere niemals auch nur im Mindesten sanft waren. Die tschetschenischen Militärs teilen sich in solche, die erst überlegen, ehe sie töten, und jene, die sich das Denken längst abgewöhnt haben. Buwadi versuchte zu verstehen, wen er im Visier hatte. Und das hat vielen das Leben gerettet, darunter auch - entsprechend den Gesetzen des Tschetschenienkrieges - gleichsam hoffnungslosen Fällen.

Intern war Buwadi in tschetschenischen Kreisen als der Mann bekannt, der die Witwen der Kommandanten rettete, die als potenzielle Schahiden (Schahid -"der/die für den Glauben Gefallene", die Übers.) generell zu liquidieren waren. Worin bestand diese Rettung? Buwadi entführte sie und nahm sie zu sich in sein Haus, wozu er keinerlei Recht hatte.

Was machten sie bei Buwadi? Sie befanden sich gewissermaßen in Hausarrest, in Quarantäne, wenn man so will. Buwadi kehrte nach dem Dienst heim und führte die ganze Nacht hindurch mit ihnen Gespräche. Hier, in seinem Haus, das einer Kaserne glich, hatte Buwadi potenzielle Schahiden einquartiert - und es ist wahrlich keine Übertreibung, denn sie waren in der Tat absolut bereite Bombenattentäterinnen, die, als sie zu Buwadi kamen, bereits von ihren Männern und deren Kameraden eingeschult und darin ausgebildet worden waren, wie man mit Sprengstoff umgeht und einen Autobus lenkt, um auf Befehl damit jederzeit und überall irgendwo hinein zu krachen.

"Warum mussten Sie das tun?"
"Alle hatten ihre Kinder bei sich."
"Und die Kinder haben auch da gewohnt?"
"Ja, mit den Kindern waren sie da. Ich wollte herausfinden: sind sie alle unrettbar verloren? Werden sie noch imstande sein, die eigenen Kinder groß zu ziehen, oder ist schon 'alles vorbei'?"

Ich schicke voraus: keine einzige von ihnen hat sein Haus als "unrettbar Verlorene" verlassen. Das Ergebnis dieser seltsamen Erziehungsarbeit des OMON - Mannes Buwadi in einem geächteten tschetschenischen Milieu, wie man es sich schlimmer nicht vorstellen kann, waren Mütter, die nach Buwadis Gehirnwäsche tatsächlich zu begreifen begannen, dass sie in erster Linie Mütter waren.

"Anfangs wollten sie nur noch für ihren Mann sterben. Nahmen kein Stück Brot von mir," erzählte Buwadi. "Weil mein Brot von den Verrätern kommt. Rührten ihre Kinder nicht an, als ob sie gar nicht da wären. Sitzen verschleiert da, wie tot, und sonst nichts."
"Und was geschah dann?"
"Ich hab mit ihnen ständig geredet, und nach zwei, drei Tagen begannen sie zu essen. Einige nahmen den Schleier ab, banden sich - wie in Tschetschenien üblich - nur ein Kopftuch um. Eine war dabei, die hat uns bestohlen. Eine Wahhabitin - dass ich nicht lache! Es war aber nur diese eine. Als sie allmählich wieder auflebten, brachte ich sie irgendwo unter. Im Ausland, und auch hier, in Russland. Suchte nach Verwandten, damit sie irgendwo, möglichst weit weg von den Großstädten, leben konnten, telefonierte, traf Verabredungen.

Wir reden über seine Motivation: wozu hatte er denn das alles nötig?
"Was kannten sie denn schon, diese jungen Dinger?" erklärte mir Buwadi. "In ihrem Alter waren wir junge Pioniere, fuhren ins Ferienlager, gingen ins Kino, aßen Gefrorenes! Doch sie haben von all dem nie etwas gesehen. Und so ist es eben gekommen. Ich fühlte mich ihnen gegenüber schuldig."
"Und Ihr Resümee über die Schahiden? Sind sie unverbesserlich?"
"Nein, die Wahhabitinnen - die meisten von ihnen sind nicht zu verurteilen. Man hat ihnen bloß das Gehirn vernebelt."

Ich werde die Namen der von Buwadi geretteten jungen Witwen nicht nennen - das ist nicht nötig. Hauptsache, sie wissen selbst, wer gemeint ist und wem sie ihr zweites Leben verdanken. Nachdem Buwadi sie möglichst weit weg vom Kaukasus geschickt hatte, riefen sie ihn immer wieder an, holten seinen Rat ein, was sie in dieser oder jener Situation tun sollten. Bis zum 13. September dieses Jahres.

Es war ungefähr im Jahr 2002... Oder vielleicht ganz am Ende des Jahres 2001. Winter. Ein schwieriger Winter - Schießereien, Explosionen, aber wenigstens steht Kadyrows Sohn noch in der Ecke, wenn sich die Erwachsenen unterhalten. In Grosny gibt es jede Menge an Untergrundgemeinden, und zumeist sind es Halbwüchsige - 14- bis 16-jährige.

"Sie tun mir so leid", erzählte Buwadi, der oftmals Vernichtungsaktionen gegen sie befehligt hatte. "Wir umzingeln sie - sie wissen, dass sie bald sterben werden, und ich höre übers Funkgerät, worüber sie sprechen."
"Wieso taten sie Ihnen leid?"
"Nun, das ist wie mit den Schahiden. Sie haben noch gar nicht gelebt, überhaupt nichts gesehen. Für mich ist das wie eine persönliche Schuld, dass man ihnen die Kindheit gestohlen hat. Wie oft baten sie mich, schrien es aus den Häusern heraus, die wir umstellt hatten: "Lass mich sterben, Onkel!" Und ich ließ sie in die Luft fliegen, denn ich wusste, was passiert, wenn wir sie lebend fassen. Und mitunter überbrachte ich ihren Eltern noch ihre letzten Worte."

Aus irgend einem Grund erinnerten wir uns in diesem August wieder besonders ausführlich an die Geschichten von den Jungen der Untergrundgemeinden, die er liquidiert hatte. Buwadi war froh gewesen, dass es damals noch nicht das idiotische Gesetz gab, das eine Rückgabe der Leichname verbot.
"Ich selbst habe Eltern die Leichen übergeben. Wie könnte ich das jetzt noch bewerkstelligen?"
Damals, 2002 oder 2003, diskutieren wir darüber, wer seiner Meinung nach die Wahhabiten sind. Und was man mit ihnen tun soll. Damals hörte man von Seiten der prorussischen Tschetschenen über die Wahhabiten lauter Verunglimpfungen, nur Beschimpfungen, und man brachte sie um, ohne mit der Wimper zu zucken.
Doch Buwadi erlaubte es sich, folgendes laut zu sagen:
"Unter ihnen gab es Banditen. Und absolut anständige Menschen. Aber umgebracht wurden sie alle."

Ich habe das Bild vor Augen, wo er das zu mir sagt. Das zweite Stockwerk in dem "weißen Kasten", dem OMON-Gebäude in Grosny - das Büro des damaligen OMON-Kommandanten Mussah Gasimagomedow, der später getötet wurde. Da schlendern seltsame, betrunkene Offizier der russischen Sondereinheiten ("die Russen") mit entrücktem Mörderblick umher - die "Todesschwadronen" des Inland-Geheimdienstes und des Militär-Nachrichtendienstes. Genosse Buwadi im Krieg. Buwadi stellt einen Imbiß und Flaschen hin - und erklärt auch ihnen etwas.
"Anständige Menschen? Wieso anständig - wenn überhaupt!" Und wiederum erzähle ich etwas Schreckliches aus dem Leben jener, die sich als Wahhabiten bezeichneten.
Buwadi schneidet mir das Wort ab:
"Mein Bruder war Wahhabite. Er war ein absolut anständiger Mensch. So anständige Menschen sind mir nie wieder begegnet. Weder vor ihm. Noch nach ihm. Anständig in jeder Hinsicht - in seinem Denken und seinem täglichen Handeln. Hat nicht getrunken, nicht geraucht, nichts Ungutes getan."
"Hat er Sie bearbeitet?"
"Niemals. Er hat mir nichts aufgezwungen."
"Und wo ist er jetzt?"
"Er ist tot."
Und nach einer halben Schweigeminute sagt er mit unbeschreiblichem Stolz, ja sogar mit Freude und einem Lächeln, als hätte der Bruder den Nobelpreis erhalten:
"Er ist im Kampf gefallen. Wie es sich gehört."
Wer in diesem Augenblick trank oder aß, hielt inne. Für diese Art von Stolz auf einen Wahhabiten mitten im Bollwerk der antiwahhabitischen Bewegung, konnte man ganz schnell dem Bruder nachfolgen.

Danach folgte Kadyrows Sohn. Und wie er Buwadi hasste! Ständig versuchte er, ihm den Terroristen anzuhängen: "Du unterstützt sie!" Den ganzen Sommer hindurch versuchte er, Buwadi aus dem OMON hinauszuschmeißen, ihn aus Tschetschenien zu verjagen. Als die Tschetschenisierung ihre übelsten Formen annahm und im Lande die Niedertracht als ebenso ehrenvoll galt, wie Tapferkeit, begann man Buwadi, einem Krieger bis ins Mark, seinen Bruder vorzuhalten und Buwadi zu beschuldigen, er liebäugle mit den Terroristen, weil er in seinem Haus Rettungskurse für Schahiden eingerichtet habe.

Doch Buwadi war nach wie vor stolz auf seinen anständigen wahabbitischen Bruder, und dass er den Kindern ihre Mütter wieder gegeben hatte. Er ließ sich niemals dazu herab, auch nur darüber zu schweigen. In einer solchen Situation wie Buwadi, wo die leiblichen Brüder in alle Richtungen davonlaufen, sind heute sehr viele in Tschetschenien. Der Bürgerkrieg hat die Familien so durchgebeutelt, nachdem er ihre Moral zerstört hat, dass etwas ganz anderes Usus geworden ist: sich öffentlich von den Brüdern loszusagen, wenn sich diese nicht auf die richtige Seite schlagen.

Es gibt zwei Versionen über den Tod von Buwadi. Die erste, die "schwarze", lautet, dass er an den Ort des Feuergefechts zwischen tschetschenischen und inguschischen Milizen fuhr, einem inguschischen Milizionär eine Ohrfeige verpasste und sofort erschossen wurde.

Ich glaube es nicht: schießen ja, doch eine in die Fresse - nein, das war nicht sein Stil, er kannte nur zu gut die Folgen aus einem Streit unter Wainachen.

Die zweite Version: als das Scharmützel losging, war Buwadi nicht dort, er befand sich aber unweit davon und eilte hin, um die Leute zu beruhigen. Er stieg aus dem Wagen, redete auf sie ein, sie mögen aufhören und sich besinnen - da traf ihn eine Salve aus einem Maschinengewehr.

So war es wohl. Und ich bin froh, dass Buwadi bis zum Schluss er selbst war: er versuchte, sie vom Schießen abzuhalten. Obschon er selbst hervorragend bewegliche Ziele treffen konnte. Doch die letzten Stunden seines Lebens verbrachte Buwadi immerhin auf seiner "weißen" Hälfte.
"Alle haben den Krieg bereits satt", sagte er einen Monat vor seinem Tod zu mir. "Alle müssen sich aussöhnen."

Heutzutage herrscht im offiziellen Tschetschenien ein eklatanter Mangel an solchen Menschen - keine Engel, doch solche, die sich betroffen fühlen und leiden. Es gibt in Tschetschenien immer mehr geradlinige Einzeller. Jemanden zu töten bedeutet für sie gleichviel, wie Tee zu schlürfen. Einen Menschen zu verstehen, der, im voraus zum Feind erklärt wurde, weil er anders lebt, ist für einen Einzeller unmöglich.

Was bedeutet "verstehen" in tschetschenischen Verhältnissen? Verstehen bedeutet - Leben zu bewahren. Das ist der Preis der Toleranz, einen anderen gibt es dort derzeit nicht. Dabei glauben so manche nach wie vor, dass die Spielereien mit der Amnestie eine Story über die Kadyrowsche Toleranz sei, und dass er dadurch "Kämpfer rettet" und die Nation bewahrt.

Alles nur Lügen. Man bindet alle mit noch mehr Blut aneinander, auf dass diese Fesseln die Menschen festhalten mögen. Buwadi hingegen wollte durch die Möglichkeit verbinden, ohne sein Zutun zu leben - das war sein Prinzip. Er schenkte den Menschen einen zweiten Versuch, obwohl seine Stellung ihn dazu verpflichtete, selbst den ersten zu unterbinden. Er schenkte, einfach so - und es gibt niemanden, der ihn hier ersetzen kann.
"Hast du wenigstens in dem Haus, in dem du übernachtest, ein Maschinengewehr?" fragte Buwadi besorgt.
"Da gibt es kein Maschinengewehr. Ich will auch keines", murmle ich. "Ich habe die Maschinengewehre schon satt. Sieben Jahre gibt es sie schon. Hast du sie denn noch nicht satt?"

Buwadi schweigt, aber stimmt zu. Auch Buwadi hat die Maschinengewehre und die ewige Angst satt. Er ist todmüde davon, sich nie von der Waffe trennen zu dürfen und im Tarnanzug in einem Haus zu schlafen, das einer Kaserne ähnelt. Es heißt, wer müde ist, stirbt.

*

Diese Reportage vom 21. September 2006 ist die letzte, die Anna Politkowskaja in der Nowaja Gazeta veröffentlichen konnte. Politkowskaja wurde am 17. Oktober in ihrem Wohnhaus erschossen.

Übersetzung aus dem Russischen: Ruth Berg.