Essay

Die Blindheit westeuropäischer Historiker

Von Adam Krzeminski
15.03.2006. Luciano Canforas "Kurze Geschichte der Demokratie", die vom Beck-Verlag abgelehnt wurde, ist ein Skandal: Nicht nur wegen ihrer Passagen über Deutschland, sondern auch wegen der Äußerungen über Polen. Dass das Buch in die renommierte, von Jacques Le Goff betreute Reihe "Europa bauen" aufgenommen wurde, zeigt die Blindheit der westeuropäischen Historiker gegenüber Ostmitteleuropa.
Die Deutschen als Verbündete der Polen in der Geschichtspolitik? Allerdings. Diese Erfahrung machte gerade Luciano Canfora, der 63-jährige Autor einer "Kurzen Geschichte der Demokratie", die in Italien, Frankreich und Spanien schon erschienen ist und demnächst auch in Großbritannien auf den Markt kommt. Abgelehnt hat sie dagegen der Münchner C.H. Beck Verlag. Und es ging unter anderem um Polen - um die Interpretation des Hitler-Stalin-Pakts und die Politik Stalins als vermeintlich drittem Weg zwischen der westlichen parlamentarischen Demokratie und dem Faschismus.

Zur Verteidigung Canforas - eines in Italien angesehenen Historikers und Autors einer geschätzten Caesar-Biografie - traten sein italienischer Verlag und die dortigen Medien an. Man warf den Deutschen Zensur vor - aber nicht wegen Polen, sondern weil Canfora die Bundesrepublik der Adenauerzeit mit General Francos Spanien vergleicht.

Detlef Felken, Cheflektor des C.H. Beck Verlags, hält diese Vorwürfe für unsinnig. Schließlich habe C.H. Beck die (auch in Polen bekannte) Arbeit von Norbert Frei "Vergangenheitspolitik" über den Stillstand der Abrechnung mit dem Nazismus in der Adenauerzeit herausgebracht. Auch von Zensur könne keine Rede sein - wer wolle, könne Canforas Buch gerne drucken, nur C.H. Beck wolle nichts mit ihm zu tun haben. Denn der Italiener habe ein Pamphlet gegen die Demokratie geschrieben - "er greift die westlichen Demokratien als ein System der Ausbeutung an und versucht, die sogenannten Volksdemokratien zu rehabilitieren, deren Degenerationen er lediglich für tragische Fehler oder Folgen von Interventionen von außen hält".

Gut ist alles, was gut für die UdSSR ist


Canfora ist ein italienischer Eurokommunist. In seinem Buch widmet er viele Seiten dem Massaker an den Pariser Kommunarden im Jahre 1871 und der Folterung von Algeriern durch die Franzosen während des Algerienkriegs, aber den GULag oder die stalinistischen Säuberungen erwähnt er mit keinem Wort. Stalin hält er für einen großen Staatsmann und die kommunistischen "Volksdemokratien" für eine höhere Entwicklungsstufe der Demokratie als parlamentarische Demokratien. Und so sieht der Italiener den Hitler-Stalin-Pakt:

"Bekanntlich fühlten sich die Sowjets von der bewusst unentschlossenen Verhandlungsführung der Engländer und Franzosen betrogen und schlossen den Vertrag sozusagen im Geist von Brest-Litowsk, wenngleich in einer gänzlich anderen politischen Situation: diesmal, um sich vor dem drohenden Krieg zu schützen, damals, um sich dem Krieg der Großmächte zu entziehen. Im Rückblick war es einfach, den Mythos einer 'Aufteilung' Polens - ein neues Kapitel in der Geschichte der zahlreichen polnischen Teilungen - zwischen Hitler und Stalin zu konstruieren. Die Wahrheit ist, dass Polen 1938/39 ein geradezu hysterisch antisowjetischer Staat war, der sich Hitlerdeutschland gegenüber ausgesprochen willfährig zeigte. Der polnische Außenminister Beck agierte förmlich im Schulterschluss mit Nazideutschland (inklusive dem Beschluss der polnischen Regierung am 11. August 1938, ihre Vertretung beim Völkerbund aufzugeben). Und nach dem Münchener Abkommen im September 1938 beteiligte sich Polen mit der Besetzung des Bergbaugebiets Teschen an der Teilung der Tschechoslowakei. Die polnische Politik in den Monaten vor dem Hitler-Stalin-Pakt beschrieb Hugh Seton-Watson, der große westliche Historiker Osteuropas, folgendermaßen: 'Im Vertrauen auf ihre Stütze in der Armee und Polizei und 'schlau' die einzelnen Grüppchen der Opposition gegeneinander ausspielend, beteten die Bonzen der Regierung, dass die Krise möglichst lange andauern möchte. Inzwischen trafen sie kleine Vorbereitungen sowohl in der Heimat als auch an den Grenzen'. Die UdSSR gewann ihrerseits Territorien zurück, die nach dem Frieden von Brest-Litowsk 1918 verlorengegangen waren (und durch Versailles nicht zurückgegeben wurden)."

Die Widersinnigkeiten und Entstellungen sind wirklich überwältigend. Canfora verschweigt nicht nur das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt, das die Grenze für die neuerliche Teilung Polens zog, sondern auch den Frieden von Riga 1921 und den Bruch der Nichtangriffserklärung von 1934 durch Stalin. Er übergeht auch die Tatsache, dass Polen das mehrmals von Hitler unterbreitete Angebot einer gemeinsamen Aggression gegen die UdSSR zurückwies. Die Vorbereitungen Stalins und Hitlers für die gemeinsame Aggression gegen Polen dagegen bezeichnet der italienische Professor als einen "Präventivfrieden", der "einen günstigen Rahmen für die Ausweitung des sowjetischen Einflusses" schuf.

Der Leser fasst sich an den Kopf. Denn da akzeptiert Canfora 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in vollem Umfang den stalinistischen Grundsatz: Alles, was der UdSSR diente, war historisch richtig. Das ist nicht weit entfernt von Putins Äußerungen, denen zufolge der Zerfall der UdSSR ein Unglück für das Schicksal nicht nur Russlands, sondern auch Europas war.

Felken hat völlig Recht, wenn er schreibt, dass die erwähnten Fragmente von Canforas Buch "skandalös" sind. Er hat auch Recht, wenn er konstatiert, die polnischen antirussischen (und antideutschen) Ressentiments "hysterisch" zu nennen, bedeute, "sowohl die polnischen Erfahrungen in der Vergangenheit zu ignorieren als auch diejenigen, die erst noch folgen sollten. Diese Hysterie war mehr als begründet..."

Stalin - ja, Walesa - nein

In seinen reichlich willkürlichen Auszügen aus der Geschichte der Demokratie konzentriert sich Canfora auf das antike Griechenland, Italien, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und natürlich Russland - von der obscina (der traditionellen Dorfgemeinschaft) bis zur UdSSR. Kein Wort über die mehrere Jahrhunderte lang bestehende polnisch-litauische Res publica mit ihrer Tradition der Freiheit, der Adelsdemokratie und der Toleranz. Kein Wort über den Großen Sejm und die Verfassung vom 3. Mai, immerhin die erste Verfassung in Europa. Der italienische Historiker bemerkt nicht das grundlegende Dilemma des zaristischen Systems nach 1815 - eine liberale konstitutionelle Monarchie im Königreich Polen und eine Autokratie in Russland. Als Väter der Demokratie im 19. Jahrhundert sieht er Mazzini und Garibaldi, doch die polnischen oder ungarischen Freiheitsbewegungen nimmt er nicht wahr.

Die Verschweigungen und Verdrehungen, die der C.H. Beck Verlag aufgegriffen hat, sind um eine horrende Tatsache zu ergänzen. Canfora widmete in seinem Buch Wladyslaw Gomulka - dem "polnischen Titoisten" - einige Seiten warmer Worte, erinnerte aber nicht mit einem Wort an Solidarnosc, die große Eruption im Jahr 1980 und den Runden Tisch 1989. Er rühmt Stalin, aber erwähnt nicht ein einziges Mal den Namen Lech Walesa.

Dieses Buch - auch wenn es effektvoll geschrieben ist - lässt sich nicht verteidigen, weder intellektuell, noch moralisch. Es ist ein Skandal, dass es in die geschätzte internationale Reihe "Europa bauen" aufgenommen wurde, die von dem herausragenden französischen Mediävisten Jacques Le Goff betreut wird.

Europa bauen ohne Osten

1993, als Le Goff die Edition der Reihe "Europa bauen" begann, schrieb er die hehren Worte: "Europa wird gebaut. Getragen von großen Hoffnungen. Doch erfüllen werden sie sich nur, wenn sie der Geschichte Rechnung tragen. Ein geschichtsloses Europa wäre ohne Herkunft und ohne Zukunft." Bisher sind in dieser Reihe 20 Titel erschienen. Unter den Autoren sind renommierte Historiker: Hagen Schulze, Joseph Fontana, Charles Tilly, Aaron Gurjewicz, Umberto Eco, Massimo Montanari, Werner Rösener, Peter Brown... Ihre Bücher sind glänzend geschrieben. Kühne Gedankenwürfe. Messerscharfe Polemiken.

Doch Ostmitteleuropa muss man in ihnen hauptsächlich in den Fußnoten suchen. In den Personenregistern finden sich Polen, Ungarn oder Balten nur in therapeutischen Dosen. In Hagen Schulzes "Staat und Nation in der Geschichte Europas" gibt es lediglich Kosciuszko, der auf dem Wiener Kongress auftaucht, um die Restitution Polens einzufordern. In Charles Tillys "Europäischen Revolutionen" kommt zwar Stenka Razin vor, nicht aber Walesa. Erstaunlich ist auch die Klassifizierung der Revolutionen des Jahres 1989 in Mitteleuropa - in der DDR fand eine Revolution statt, in Polen dagegen nicht so ganz. Einige Informationen über Polen kann man in Tillys Darstellung im Kapitel über Russland finden. Der Autor schreibt, im 16. Jahrhundert sei die Res publica aggressiv gewesen, aber ihre Teilung habe Russland dann eine verhältnismäßig stabile Grenze im Nordwesten gesichert.

Diese Bücher sind in großem Maße ein Erbe der achtziger Jahre, als die Historiografie von einer Geschichtsbetrachtung durch das Prisma der Großmächte dominiert wurde. Aber schon damals schrieb Norman Davies an seinem Buch "Europe. A History", in dem er sich bemühte, nicht nur die Machtzentren zu berücksichtigen, sondern auch periphere Länder und Kulturen, die dennoch oft die Rolle von Katalisatoren europäischer Prozesse spielen.

Dennoch ist das Beharrungsvermögen unter Historikern nach wie vor enorm. Um so größere Anerkennung gebührt dem C.H. Beck Verlag, der mit seiner Weigerung, Canforas Buch zu publizieren, die westeuropäische Öffentlichkeit auf ein drastisches Defizit an Wissen über die Geschichte unseres Teils von Europa und auf eine ominöse Bagatellisierung des Stalinismus aufmerksam gemacht hat.

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Aus dem Polnischen von Silke Lent.


Der Artikel erschien im Original am 31.12.2005 in der Gazeta Wyborcza.