Essay

Der schlüpfrige Puritanismus der USA

Von Pascal Bruckner
29.08.2011. Die Häme der amerikanischen Medien im Fall DSK ist das Symptom einer ans Unheimliche grenzenden sexuellen Verklemmtheit, für deren Durchsetzung Feministinnen mit der religiösen Rechten paktieren. Wir können viel von Amerika lernen, aber bestimmt nicht die Kunst zu lieben.
Vor einigen Jahren verbrachten wir unseren Familienurlaub an einem Strand in Florida. Meine Tochter, damals zwei Jahre alt, beschloss nach dem Baden, ihren Badeanzug auszuziehen, er störte sie. Sehr schnell entstand eine gewisse Unruhe unter den anderen Sommerfrischlern, die betreten zu uns blickten. Einige Minuten später erschien ein bis an die Zähne bewaffneter Sheriff, der mit seinem Arsenal eine ganze Stadt hätte zerstören können, und herrschte uns an: Es drohe uns eine Geldstrafe, wenn wir die Kleine nicht wieder anzögen. Die aber hielt das für ein Spiel und fing an umherzulaufen. Wir liefen hinter ihr her und der Sheriff hinter uns. Unter großem Gelächter schafften wir es, sie einzufangen, aber dem Koloss in Uniform gefiel dies gar nicht: Im Land von Onkel Sam ist Nacktheit am Strand verboten, selbst für Säuglinge.

Amerika hat offenkundig ein Problem mit dem Sex, das aus seinem protestantischen Erbe rührt, aber es will auch der ganzen Welt Lektionen erteilen. Das Land für puritanisch zu halten reicht nicht aus, denn hier herrscht ein verdrehter Puritanismus, der nach der sexuellen Revolution die Sprache der freien Liebe spricht und mit einer florierenden Pornoindustrie koexistiert. Es handelt sich genau gesagt um einen schlüpfrigen Puritanismus: denn wozu haben die Affären um Bill Clinton oder Dominique Strauss-Kahn gedient? Dazu Erotik zu verdammen, um besser über sie reden zu können, um sich über Wochen und Monaten vor aufreizenden Details die Lippen zu lecken, um mit falscher Empörung Fellatio, Sperma und Genitalien vor Augen zu führen. Die obszöne Begeisterung, mit der Kenneth Thompson die "angegriffene" Vagina seiner Klientin Nafissatou Diallo heraufbeschworen hat, spricht in dieser Hinsicht Bände. Man sagt, dass im Fall von Bill Clinton eher die Lüge als die Affäre mit einer Praktikantin im Weißen Haus bestraft wurde. Dies ist offensichtlich falsch, denn George Bush hat über die Massenvernichtungswaffen im Irak gelogen, was eine unendlich gravierendere Täuschung war, und er wurde deswegen nicht belangt. Hätte er mit seiner Assistentin geschlafen, hätte man ihn sofort auf eine Galeere verbannt, aufs Rad gespannt und ausgepeitscht. Aber Kapitalverbrechen wiegen, scheint es, weniger schwer als Ehebruch.

Das mediale Establishment jenseits des Atlantiks, das Frankreich so bereitwillig durch einen seiner Repräsentanten verurteilt, scheint die Folterungen von Abu Ghraib bereits vergessen zu haben: Trauben nackter Männer, die einer auf den anderen gehäuft wurden oder zum Masturbieren gezwungen, auf Befehl namentlich von Sergeant Lynndie England, die einige der Männer an der Leine hinter sich her zog (Frauen in Machtpositionen sind nicht besser als Männer, das wissen wir seit der Nazizeit). Folter gibt es überall, selbst in demokratischen Ländern, aber nur ein Land, das an seiner Sexualität krankt, kann sich solche Misshandlungen ausdenken. Erstaunlich auch, dass Dick Cheney und Donald Rumsfeld der Korruption und der Anstiftung zu gewaltsamen Verhören verdächtigt, aber nach 2008 von der Justiz ihres Landes nie verfolgt wurden, die doch so darauf brennt, das kleinste amouröse Delikt zu verfolgen.

Frankreich für den Irak zu bestrafen, für Roman Polanski, für die Gesetze gegen den Schleier und den Niqab, diese widerspenstige Nation, die an ihren lockeren Sitten festhält, wieder auf Linie zu bringen - darin besteht letztlich der Zweck der Affäre DSK zu einem Zeitpunkt, in dem Amerika am Boden liegt und bequeme Sündenböcke für seinen Niedergang sucht. Ein Beispiel von tausend? Im sehr seriösen Magazin Newsweek vom 29. Juli erklärt die Korrespondentin Joan Buck ihren Lesern die archaische Sexualität der Franzosen: Bei den barbarischen Galliern schlafen die Journalistinnen mit allen Politikern, aus Spaß oder um sich Quellen zu sichern, das Recht der ersten Nacht ist eine Institution, im Büro müssen die Sekretärinnen ihren Arbeitgebern zu Diensten sein, um ihre Jobs zu behalten, alle Personen weiblichen Geschlechts gelten als Schlampen, und das Land oszilliert ständig zwischen Marquis de Sade und Simone de Beauvoir. Wir kneifen uns, wir reiben uns die Augen, nein, wir lesen nicht gerade eine Ausgabe der Prawda während des Kalten Krieges. Es ist betrüblich, dass in Frankreich so viele Medien, so viele große Geister, gelähmt von den Ereignissen, die Nation zur Reue aufriefen, ohne selbst die mindeste ernsthafte Recherche durchzuführen. Wir sollen an unserem Busen ein Ungeheuer genährt haben, wir müssen für den Machismo, der uns in den Genen steckt, büßen.

Tatsächlich ist in den USA ein Phänomen aufgetreten, das es in Europa nicht gibt: ein Bündnis von Feminismus und der republikanischen, ultrakonservativen Rechten. Diese beiden Kräfte haben sich im Namen unterschiedlicher Interessen vereinigt, um den Deckel wieder auf das zu legen, was die sechziger und siebziger Jahre geöffnet haben. Deshalb sind so viele feministische Intellektuelle, wie die aufs Franzosen-Prügeln spezialisierte Joan Scott, schlicht und einfach zu Propagandistinnen des Außenministeriums geworden, mit dem Auftrag, urbi et orbi den American Way of Life zu bringen. Das erklärt die Atmosphäre des moralischen McCarthyismus, der dort Liebesangelegenheiten umweht und der die hellsichtigeren Amerikaner schon länger alarmiert. Bereits Anfang der neunziger Jahre wurden - bei Androhung sofortiger Entlassung - strikte Bestimmungen für alle ausländischen Professoren an den Universitäten erlassen: Niemals eine Studentin im geschlossenen Zimmer empfangen, es sei denn, man lässt ein Band mitlaufen, niemals allein den Aufzug mit einer Studentin nehmen und natürlich niemals mit einer Frau der Fakultät, auch nicht einer volljährigen und einverstandenen, eine Beziehung aufnehmen. Auch im Büro sind die Arbeitsverhältnisse einer Vielzahl von Regeln unterworfen: eng anliegende Kleidung, zweideutige Gespräche und anstößige Äußerungen vermeiden, keine intime Beziehungen zwischen Kollegen befördern, es sei denn sie münden in eine Ehe. Erinnern wir uns an jene Universität von Ohio, die Anfang der neunziger Jahre, unterstützt von der führenden feministischen Organisation jener Zeit, eine Charta erlassen wollte, die intime Handlungen zwischen Studierenden reglementieren wollte. Alle Phasen der Annäherung - Busen berühren oder nicht, Oberteil ausziehen und so weiter - sollten im vorhinein bis ins kleinste Detail schriftlich abgestimmt und einer Aufsichtsperson vorgelegt werden. Der Vorschlag ist zum Glück nicht durchgekommen. Dieser verrückte Kodex ist das Los einer Gesellschaft in Panik ohne jede Liebeskultur, die jeden einzelnen ihrer Lustpolizei unterwerfen will.

Worauf läuft das hinaus? Es reicht nicht, die Lust zu verurteilen, besser noch, man kriminalisiert den heterosexuellen Akt: jeder Mann ist ein potenzieller Vergewaltiger, jede Frau ein mögliches Opfer. Das Kompliment ist die erste Etappe der Belästigung, der Flirt eine Vorstufe der Vergewaltigung, die Galanterie ein Euphemismus für Lust auf Gewalt. Fleisch ist verderblich, Lust gefährlich. Obwohl DSK freigesprochen wurde, bleibt er schuldig: sein Vergehen ergibt sich aus seinem Status. männlich, weiß, reich und europäisch, also dekadent, er kann nichts anderes sein als ein zwanghafter Aggressor. Nicht allein Politiker werden in den USA durch mediale Indiskretionen verfolgt (die beiden letzten Opfer dieser Jagd waren der demokratische Abgeordnete Anthony Weiner, schuldig, via Twitter aufreizende Fotos von sich an Online-Bekanntschaften verschickt zu haben, und Arnold Schwarzenegger, Vater eines unehelichen, mit der Haushälterin gezeugten Kindes). Jeder Amerikaner kann von der demokratischen Inquisition zu Fall gebracht werden. In Frankreich wird ein Seitensprung missbilligt, in den USA verdammt: Er ist mehr als ein Fehltritt, ein Vergehen, das juristische Strafen und psychiatrische Behandlung nach sich zieht. Manche Gruppen zur Unterstützung betrogener Männer und Frauen vergleichen das durch eine solche Dummheit erlittene Trauma mit dem des 11. September. Verrat in der Ehe steht gilt so viel wie Landesverrat, er verletzt den Pakt, der die Bürger zusammenbindet. An der Ostküste gibt es eine tägliche Morgensendung, die von Fällen ehelicher Untreue berichtet und die öffentliche Bloßstellung der Betrüger mit der Demütigung der Betrogenen verbindet, denen DNA-Tests mit dem Beweis, dass das Kind nicht von ihnen ist, vor die Nase gehalten werden.

Wohlgemerkt: Vergewaltigung ist auf beiden Seiten des Atlantiks ein Verbrechen, und es ist ein Fortschritt, dass sexuelle Belästigung als Vergehen geahndet wird. Spannungen zwischen Männern und Frauen bleiben hier wie dort auch nach der Emanzipation bestehen und spitzen sich bisweilen zu. Aber während die Koexistenz in den USA immer wieder an den Rand eines Kriegs zu geraten scheint und wachsame Anwälte stets bereitstehen, um zerstrittenen Eheleuten Geld aus der Tasche zu ziehen, scheint das romanische Europa durch eine alte Gesprächskultur und Toleranz gegenüber menschlichen Schwächen vor diesem Unwesen besser geschützt. Frankreich kennt den Zwiespalt des Herzens, es weiß, dass Begierde unrein ist und sich nur mit diesem Wissen zivilisieren lässt. In den USA ist Sexualität dagegen ein Mittel, das jeden Bürger zum Besitz eines anderen machen kann. Das Privatleben verschwindet, der Imperativ der Transparenz führt zum Triumph der Heuchelei und zur Überwachung aller durch einen jeden.

Wenn sich im Fall Strauss-Kahn bestätigen sollte, dass die Klägerin nicht die Wahrheit gesagt hat, wird seine desaströse Folge sein, dass er die wahren Opfer disqualifizieren wird, die man der Lüge und der Käuflichkeit verdächtigen wird. Weder die Medien noch die Justiz sind an dieser Affäre gewachsen, auch wenn der Staatsanwalt Cyrus Vance ehrlich genug war, die dünne Beweislage einzugestehen. Machen wir uns keine Hoffnung, dass sich bei einer Einstellung des Verfahrens die großen Medien der Ostküste, die den früheren IWF-Direktor bereits gelyncht haben, bevor er verurteilt wurde, dafür entschuldigen werden. Französische Touristen seid wachsam, wenn ihr über den Atlantik fliegt: Wenn ihr jemals Lust bekommen solltet, mit dem einen oder der anderen Einheimischen anzubändeln, besorgt euch eine offizielle Erklärung: Euer Partner, männlich oder weiblich, sollte schriftlich bestätigen, dass er euch erlaubt hat, seinen Körper zu genießen. Wir können viel von unseren amerikanischen Freunden lernen, aber ganz bestimmt nicht die Kunst zu lieben.

Pascal Bruckner

Der Artikel ist im Original in Le Monde erschienen. Wir danken dem Autor für die Nachdruckerlaubnis.

Aus dem Französischen von Thekla Dannenberg.