Essay

An die französischen Neinsager

Von Jürgen Habermas
11.05.2005. Eine Linke, die den Kapitalismus zähmen und zivilisieren will, würde sich mit einem "Nein" zur europäischen Verfassung zum falschen Zeitpunkt für die falsche Seite entscheiden.
Die europäische Einigung ist lange genug von den politischen Eliten vorangetrieben worden. Solange alle davon profitierten, waren's die Bürger zufrieden. Das Projekt hat sich bisher durch seine Ergebnisse allein legitimiert. Aber im Europa der 25 bahnen sich Verteilungskonflikte an, für die diese Art der output-Legitimation nicht mehr ausreicht. Die Bürger sind mit dem bürokratischen Steuerungsmodus unzufrieden, die Akzeptanz lässt auch in der Bevölkerung der europafreundlichen Mitgliedstaaten nach. Das Tandem Frankreich und Deutschland ist aus dem Tritt geraten und bestimmt nicht mehr die Richtung der Tour.

In dieser Situation hatte die französische Regierung den Mut zum Verfassungsreferendum. Als Deutscher, der über den Kleinmut seiner Politiker enttäuscht ist, beneide ich Frankreich. Diese französische Republik hat noch ein Bewusstsein von den demokratischen Maßstäben einer Tradition, hinter die sie nicht zurückfallen will. Der Akt der Verfassungsgebung vollzieht sich durch die polarisierten Meinungen und dissonanten Stimmen, durch das kumulierte "Ja" und "Nein" der Bürger hindurch. So könnten wir mit den vielstimmigen Diskursen, die aus der französischen Presse über den Rhein zu uns dringen, zufrieden sein - wenn es da nicht ein Problem gäbe. Wir, die wir von jenseits der nationalen Grenzen nach Frankreich schauen, wissen, dass es ebenso unsere Verfassung ist, die am Votum der Franzosen scheitern kann.

Auf die gleiche Weise sind die Franzosen vom Votum der Engländer, der Polen, der Tschechen und aller anderen abhängig. Während im normalen Fall ein Volk über seine eigene Verfassung beschließt, muss die europäische Verfassung aus den übereinstimmenden Voten von 25 Völkern hervorgehen, und nicht aus einem gemeinsam gebildeten Willen der europäischen Bürger. Denn noch besteht keine europäische Öffentlichkeit, keine grenzüberschreitende Bündelung von Themen, keine gemeinsame Diskussion. Jedes dieser Voten bildet sich in den Grenzen der jeweils eigenen nationalen Öffentlichkeit. Diese Asymmetrie ist gefährlich, weil der Vorrang nationaler Probleme, beispielsweise Vorbehalte gegenüber der Regierung Chirac, den Blick auf diejenigen Probleme verstellt, die sich mit der Annahme oder Ablehnung der europäischen Verfassung tatsächlich stellen. In jede unserer nationalen Öffentlichkeiten müsste auch das Für und Wider der anderen Nationen Eingang finden.

In diesem Sinne verstehe ich auch die Einladung, mich in den französischen Wahlkampf einzumischen. Nach meiner Auffassung würde sich eine Linke, die den Kapitalismus zähmen und zivilisieren will, mit einem "Nein" zur europäischen Verfassung zum falschen Zeitpunkt für die falsche Seite entscheiden.

Natürlich gibt es gute Gründe, den Weg zu kritisieren, den die Einigung Europas genommen hat. Delors ist mit seiner politischen Vision gescheitert. Europa ist stattdessen horizontal, über die Herstellung eines Gemeinsamen Marktes und die Schaffung eines partiell gemeinsamen Währungsgebietes, integriert worden. Die Politische Union wäre vermutlich ohne die Dynamik wirtschaftlicher Interessen gar nicht zustande gekommen. Diese Dynamik verstärkt nur die Tendenz der weltweiten Deregulierung von Märkten. Aber die xenophobische Vorstellung der Rechten, dass die sozial unerwünschten Folgen dieser Entgrenzung durch den Rückzug auf die protektionistischen Kräfte des Nationalstaates abgewendet werden könnten, ist nicht nur aus normativen Gründen dubios, sondern ganz und gar unrealistisch. Die Linke darf sich von diesen regressiven Reflexen nicht anstecken lassen.

Die Regulierungskraft des Nationalstaates reicht längst nicht mehr aus, um ambivalente Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung abzufedern. Was heute als "europäische Gesellschaftsmodell" gerühmt wird, lässt sich nur dadurch verteidigen, dass die Politik den Märkten in Europa selbst nachwächst. Allein auf europäischer Ebene kann ein Teil der politischen Steuerungsfähigkeit zurückgewonnen werden, die auf nationaler Ebene so oder so verloren geht. Die Mitglieder der EU verstärken heute ihre Kooperation auf den sicherheitspolitischen Feldern von Justiz, Strafrecht und Immigration. Eine europapolitisch aufgeklärte und aktive Linke hätte längst auf eine weitergehende Harmonisierung, auch in Bereichen der Steuer- und Wirtschaftspolitik drängen können.

Dafür eröffnet die europäische Verfassung nun wenigstens den Spielraum. Sie dient dem Ziel, die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union auch nach der Osterweiterung zu erhalten. Im Europa der 25 müssen die auseinanderstrebenden Interessen nach den in Nizza beschlossenen Verfahren koordiniert werden, weil das Europa der 15 nicht in der Lage war, sich rechtzeitig eine politische Verfassung zu geben. Wenn die EU nach Ablehnung des Verfassungsentwurfs in diesem Zustand verharrt, wird sie zwar nicht unregierbar. Aber sie fällt dann auf ein Niveau der Unbeweglichkeit und der Entscheidungsschwäche zurück, das den Neoliberalen nur recht sein kann. Denn diese hatten ihr Ziel mit dem Vertrag von Maastricht schon erreicht.

Eine Linke, die sich gegen das neoliberale Wirtschaftregime stemmt, muss auch über Europa hinausschauen. Eine im weitesten Sinne sozialdemokratische Alternative zum herrschenden Washington Konsens kann sie nur verfolgen, wenn die Europäische Union Handlungsfähigkeit nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gewinnt. Sie muss ohnehin lernen, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen, wenn sie einem hegemonialen Liberalismus begegnen will, der freie Wahlen und freie Märkte notfalls im Alleingang und mit militärische Gewalt weltweit durchsetzen will.

Es ist Bush, der sich über ein Scheitern der europäischen Verfassung freuen dürfte. Im Rahmen dieser Verfassung könnte Europa nämlich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, die über genügend soft power verfügt, um der Opposition gegen die Weltordnungsvorstellungen der Neokonservativen, auch in den Vereinigten Staaten selbst, den Rücken zu stärken. Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, die Vereinten Nationen und das Völkerrecht zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft ohne Weltregierung fortzuentwickeln. Wir müssen zu einer effektiven Verrechtlichung der internationalen Beziehungen gelangen, bevor andere Weltmächte in die Lage versetzt werden, die völkerrechtswidrige Machtpolitik der Bush-Regierung nachzuahmen.

Den Herausforderungen und Risiken einer Welt im Umbruch können wir nur offensiv begegnen, wenn wir Europa stärken und nicht die verständlichen Ängste der Bevölkerung auch noch populistisch ausbeuten. Die unfreiwillige Koalition des Neins der Linken mit dem reaktionären Nein der Rechten hat eine tragisch Note, weil sie auf einer Illusion der Linken beruht. Sie kommt auf der Grundlage der Illusion zustande, dass ein Nein aus Frankreich die anderen Mitgliedstaaten dazu veranlassen könnte, die Verhandlungen über die europäische Verfassung wieder aufzunehmen. Diese Erwartung ist ein doppelter Irrtum.

Aus der Sicht aller übrigen Nationen hat das französische Nein eine spezifische Bedeutung. Die französische Nation hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die großzügige Initiative zur Aussöhnung mit Deutschland ergriffen. Damit hat sie die europäische Einigung erst auf den Weg gebracht; sie hat dieser auch fortan immer wieder neue Impulse gegeben. Wenn sich dieses Frankreich an der kritischen Wegkreuzung, an der wir heute stehen, von der bisher verfolgten Route abwendet, wird sich eine langanhaltende Depression über ganz Europa ausbreiten.

Ich halte das für eine fast unvermeidliche Folge. Denn Frankreich ist nicht Großbritannien. Wenn das Verfassungsreferendum in England scheitern sollte, was ich nicht hoffe, halte ich eine Trotzreaktion der meisten anderen Mitgliedstaaten für wahrscheinlich. Auf das Scheitern in einem Lande, das immer schon gezögert hat, könnte ein "Nun erst recht!" die Antwort sein. Aber ein Nein aus Frankreich müsste Europa auf lange Zeit lähmen, weil diese Entscheidung eine Signalwirkung für alle anderen europäischen Länder hätte und dort die prekären Stimmungslagen zugunsten der Europagegner umkippen ließe - zugunsten der Nationalisten und Souveränisten aller Couleurs, auch zugunsten der Neoliberalen, für die sich die Verfassung Europas in der bestehenden Wirtschaftsverfassung erschöpft.

Es ist eine groteske Selbstüberschätzung der linken Neinsager anzunehmen, dass die Verfassung nur deshalb neu verhandelt werden würde, weil sich in der perversen Koalition der französischen Neinstimmen auch die von einigen Europafreunden befinden, denen die politische Integration nicht weit genug geht. Denn das ist die zweite Illusion: Wenn es aufgrund des französischen Votums tatsächlich zu einer Neuverhandlung käme, würden diejenigen triumphieren, denen der Verfassungskompromiss zu weit geht. Das Resultat wäre keineswegs eine weitere Vertiefung der europäischen Institutionen, sondern eine Verstärkung des Intergouvernementalismus.

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich die französische Linke treu bleibt. Dann wird sie auch dieses Mal Argumenten und nicht Stimmungen folgen.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf französisch im Nouvel Observateur. Wir danken Jürgen Habermas für die Nachdruckgenehmigung.