Istvan Örkeny

Minutennovellen

Cover: Minutennovellen
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002
ISBN 9783518223581
Gebunden, 176 Seiten, 12,80 EUR

Klappentext

Ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Terezia Mora. Mit einem Nachwort von György Konrad. Der ungarische Schriftsteller Istvan Örkeny (1912-1979) hat eine literarische Form erfunden: die Mininovelle, deren Lektüre nicht mehr als eine Minute beansprucht und deren Titel unmißverständlich sein muß wie die Nummer einer Straßenbahn. In diesen "Märchen aus dem 20. Jahrhundert" (György Konrad) lesen wir von einem kleinen Mädchen in Rußland, das fasziniert die neue Leica-Kamera betrachtet, mit der die Hinrichtung seiner Mutter aufgenommen wird; von einer Tulpe, die sich vom Fensterbrett stürzt, weil sie keine Tulpe mehr sein will; oder von der Pförtnerin eines Unternehmens, die zwanzig Jahre lang die selbe Auskunft gibt, bis sie eines Tages einen unerhörten Satz spricht und für Sekunden ein Loch in die Welt schlägt.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 04.03.2003

Istvan Örkeny ist der Erfinder der "Minutennovellen", die zwar bestens in unsere kurzlebige Zeit zu passen scheinen, die jedoch aus den fünfziger Jahren stammen, als man ebenfalls keine Zeit zu haben meinte. In Wirklichkeit, vermutet Rezensentin Marie Luise Knott, dürfte den Menschen damals der Glaube an die Zukunft, das Vertrauen in einen langen erzählerischen Atem gefehlt haben. So schrieb Örkeny zwischen 1944 und 1968 an die vierhundert "Minutennovellen", die alles andere als in einer Minute entstanden sein mögen, versichert Knott. Und selbst wenn man sie in einer Minute gelesen habe, gingen sie einem dafür stundenlang nicht aus dem Kopf, weil sie so präzise bestimmte Stimmungen, absurde Begebenheiten des Alltags, kleine Schicksalsmomente auf den Punkt brächten. Wie bei einer wirklichen Novelle, nur schneller, eindeutiger, sagt Knott. Die Rezensentin fühlt sich an die amerikanischen Comicstrips der Zwischenkriegszeit erinnert: wenige präzise Striche, minimaler Text, in dem auf kleinstem Raum die großen Fragen des Lebens abgehandelt werden mussten. Insofern stellten Örkenys "Minutennovellen" eine übersetzerische Herausforderung dar, die Terezia Mora laut Knott hervorragend gemeistert hat.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 15.01.2003

Istvan Örkeny hat selbst einmal von sich behauptet, berichtet Sybille Cramer in ihrer Rezension, seine Lebensgeschichte, die eng mit dem politischen Schicksal seines Landes verknüpft war, hätte ihn immer zur Kürze gezwungen. Örkeny, Jahrgang 1912, verbrachte Jahre im Krieg, in Gefangenschaft, im Arbeitslager, später hatte er Schreibverbot. Insofern passt der Titel "Minutennovellen" bestens auf seine Erzählminiaturen, findet Cramer. Nicht alle "Minutennovellen" seien hundertprozentig geglückt, behauptet Cramer, manche hätten deutlich einen "Sachlichkeitsüberschuss", um die Affekte bei so viel Schicksalsschlägen in Schach zu halten. Richtig gut findet Cramer Örkeny dort, wo er seine Stoffe verfremdet, zu Parabeln umschreibt wie etwas in der Erzählung "Ostmann". Vortrefflich sei auch die Übersetzung von Terezia Mora, lobt Cramer, das Nachwort von György Konrad steuere Erinnerungen an den 1979 verstorbenen Autor bei.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 27.11.2002

Hannelore Schlaffer kommt ebenso wie der Klappentext zu dem euphorischen Schluss, dass mit der Minutennovelle eine neue Gattung geboren sei. Die halbseitigen Texte des ungarischen Autors beschreibt sie als ein ganz anregendes Schreibwerk, die den Leser weit über die Lesezeit hinaus beschäftigen können. Nur auf den ersten Blick handele es sich hier um "Lückenbüßer in einer Gesprächspause". Gummimatratze, Fensterputz oder Heimatmuseum - die Geschichten erscheinen banal aber nicht aufgebläht. Unterhaltsam seien sie gerade deshalb, "weil sie zu keinem Ende kommen". Die Minutenwellen stammen ursprünglich aus einem Gesellschaftsspiel, bei dem der Autor Istvan Örkeny mit seinen Freunden in der Tradition des "mündlichen Erzählens" "blitzschnell" kleine Alltagserlebnisse nacherzählt hatte. Herausgekommen seien, so Schlaffer, kleine Denkanstöße, spitz und fein formuliert, mit viel Liebe zum Zynismus: "Die Minutennovellen erzählen von den Minuten, in denen die Menschen aneinander und an der Wirklichkeit vorbeisehen und gehören deshalb, bei aller oberflächlichen Harmlosigkeit des Sujets, wie alle guten Novellen in die Sparte des schwarzen Humors".

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 08.10.2002

Mit seinen "Minutennovellen", die seit 1968 immer wieder neu aufgelegt werden, und die jetzt in zeitgemäßer deutscher Übersetzung vorliegen, hat sich Istvan Örkeny "in die Literaturgeschichte eingeschrieben", meint Rezensent Andreas Breitenstein. Die Novellen seien als eine Art "Lockerungsübungen" entstanden, während Örkeny an seinen Romanen schrieb. Für den Rezensenten gelingt dem Autor in dieser kurzen Erzählform die "poetische Verdichtung" einer "existenziellen Verzettelung". Örkeny, so Breitenstein, "lockert die Bande der Realität", nimmt ihr die "Eindeutigkeit" und zieht sie ins "Irrationale". Hintergründig und "dialektisch" sei Örkenys Witz, gleichzeitig ironisch, zynisch, aber auch melancholisch. Doch betrachte er seine Figuren nie von einem moralisierenden Standpunkt aus, bei aller "erbarmungslosen Genauigkeit" in der Beobachtung. Seinen Figuren geht es nicht ums Siegen, so Breitenstein, dafür sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich irgendwie zurecht zu finden "in einem Universum, dessen Wahrheit jene des Absurden ist". Diese Novellen, die sich wie "Mosaiksteine" zu einem erst "auf den zweiten Blick" erkennbaren Bild zusammensetzen, hat György Konrad "Märchen des 20. Jahrhunderts" genannt, erklärt der Rezensent und findet diese Bezeichnung treffend, denn so dunkel die Welt auch ist, in allen Texten erklingt eine "Melodie der Hoffnung".

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