Hans Joachim Schädlich

Kokoschkins Reise

Roman
Cover: Kokoschkins Reise
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010
ISBN 9783498064013
Gebunden, 190 Seiten, 17,95 EUR

Klappentext

Fjodor Kokoschkin, rüstiger Mittneunziger, emeritierter Professor, Biologe, Spezialität Gräser und Halme, an Bord der Queen Mary 2 auf der Überfahrt von Southampton nach New York: jeder Tag auf See ein kleines Kapitel - Tischgespräche, die Speisekarte, die Abendunterhaltung von Hut-Parade bis Karaoke-Bar, ein diskreter Flirt. Kokoschkin kehrt von seiner Reise in seine Vergangenheit zurück: nach St. Petersburg, wo die Bolschewiken 1918 seinen Vater ermordeten. Von dort damals Flucht über Odessa nach Berlin. In Templin erhält Fjodor eine Freistelle im Internat, findet Arbeit und die Freundin Aline im Botanischen Garten Berlin. Studium. Als die Nazis sich breitmachen, erneute Flucht, nach Prag diesmal, durch Vermittlung der amerikanischen Botschaft ein Stipendium in den USA. Die russischen Schriftsteller Bunin, Chodassewitsch und die Berberova sind wichtig in seinem und seiner Mutter Leben ... Kokoschkins wechselvolles Schicksal ruft lebhaft die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihren Verfolgungen, Schicksalen und Emigrationen wach.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 24.06.2010

In dieses vergleichsweise schmale Buch eines literarischen Schwergewichts passt aus Sicht von Alexander Cammann ein ganzes Jahrhundert, weshalb er den Autor Hans Joachim Schädlich als Kandidaten für den nächsten Büchnerpreis vorschlägt. Der 95-jährige Protagonist des Romans, der Exilrusse Kokoschkin, begibt sich im jahr 2005 auf eine Schiffspassage von Europa nach New York, die auch in das Zwischenreich von Wirklichem und Unwirklichem, vor allem aber an signifikante Orte des 20. Jahrhunderts führt, beschreibt Cammann. In Gesprächen an runden Restauranttischen gerate man in andere Zeiten und an andere Orte, habe Teil an Schnappschüssen oder seelischen Tiefenbohrungen, die in Epizentren des Totalitarismus führen. Ständig werde die Geschichte von Schädlich überformt oder verwandelt, sehe man Historie zum gleichnishaften Grundrauschen der menschlichen Existenz werden.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 05.04.2010

Bei soviel geschichtlichem Material, wie Hans Joachim Schädlich es in seinem Roman "Kokoschkins Reise" zusammenträgt, reibt sich Rezensent Christoph Schröder verwundert die Augen. Aber dank seiner Gabe, die Sprache mit "naturwissenschaftlicher Exaktheit" zu beherrschen und dabei einen "verwirrend hohen Grad an Anschaulichkeit" zu schaffen, gelingt es Schädlich, einhundert Jahre Zeitgeschichte von der russischen Oktoberrevolution bis zur Zerstörung des World Trade Centers auf knapp 200 Seiten zu erzählen. Die Erlebnisse seines 95-jährigen Protagonisten teilt der Autor dabei in zwei Handlungsstränge auf: in ersterem diskutiert der Romanheld bei seiner sechstägigen Fahrt auf der "Queen Mary 2" unter anderem über die Exklusivität kompliziert-verschraubter Menükarten und den Umgang mit islamischen Extremisten, im zweiten begleitet der Rezensent ihn durch ein bewegtes Leben, welches im von den Bolschewiken besetzten St. Petersburg beginnt und über das nationalsozialistische Berlin schließlich in die USA führt. Nur ein "fabelhafter" Autor wie Schädlich könne all dies in knappen, aber eindringlichen Einzelbildern erzählen, so der gebannte Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 26.03.2010

Schädlich - ein Meister. Für Helmut Böttiger steht das nicht erst mit diesem Roman fest. Allerdings kommt hier Hans-Joachim Schädlichs von Böttiger gepriesene Fähigkeit zur Reduktion bei gleichzeitiger Intensitätssteigerung wiederum und offenbar besonders zur Geltung. Böttiger findet hier weder psychologisierende Innenschauen oder ausschweifende Dialoge noch eine kommentierende Erzählhaltung oder Ornamentales vor. Und doch steckt für ihn in Schädlichs Berichtsprache, genauer zwischen den Zeilen, was ein guter Roman braucht: Vorstellungskraft und Beobachtungsgabe nicht zu knapp. Wenn es also Schädlich gelingt, mit seinem schiffsreisenden, sich erinnernden Helden ein ganzes Jahrhundertpanorama zu entwerfen, Imaginäres und Reales in einer komplexen Spiegelkonstruktion, einem spielerischen Verweissystem sich kreuzen zu lassen, Prag und Berlin und Petersburg, dann wundert es Böttiger weniger, als dass es ihn begeistert. Wie leicht, warnt er uns Unwissende, ist die Prosa dieses Autors zu unterschätzen.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.03.2010

Zu wissen, was wichtig ist, was nicht, hält Hubert Spiegel für das A und O großer, wenngleich karger Erzählkunst. Dass Hans Joachim Schädlich sie beherrscht, kann uns Spiegel versichern, hat er mit diesem Roman doch den Beweis vor Augen. Die Geschichte des nach siebzig Jahren Emigration in seine russische Heimat zurückkehrenden Helden teilt sich für Spiegel in zwei Ebenen: Die Schiffsreise im Jahr 2005 und die Rückschau auf einen exemplarischen, im 19. Jahrhundert wurzelnden Lebenslauf. Dass Schädlich kein historisches Panorama entfaltet, sondern mit aller Zurückhaltung und Distanz von diesem Leben erzählen kann, knapp, konzentriert und prägnant, ohne doch auf die großen Gefühle, auf Trauer, Schmerz, Liebe verzichten zu müssen, imponiert Spiegel sehr.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 16.03.2010

Mit hohem Lob bedenkt Rezensentin Beatrice von Matt diesen Roman von Hans Joachim Schädlich. "Kokoschkins Reise" - im Zentrum steht der Biologe Fjodor Kokoschkin, der 1918 aus Russland in die USA fliehen musste, und der jetzt mit seinen 95 Jahren Europa besucht und sich erinnert - erzählt für sie eine politische Geschichte. Sie attestiert dem Autor, gekonnt die Balance zu wahren zwischen der "Erkundung eines ungeschützt erlebten Geschicks" und der "Erhellung des Weltgeschehens im 20. und frühen 21. Jahrhundert". Berührend findet sie insbesondere die Mutter Sohn-Geschichte, die Schädlich vor dem Hintergrund von Kokoschkins Flucht erzählt. Auch sprachlich hat sie das Werk überzeugt. Sie würdigt Schädlichs "Kunst der äußersten sprachlichen Verknappung", die schon in früheren Werken "Staunen und Bewunderung" erweckt habe.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 13.03.2010

Mit großer Begeisterung hat Rezensentin Maike Albath Hans Joachim Schädlichs neuen Roman gelesen, in dessen Zentrum sie ein "typisches Schicksal des 20. Jahrhunderts" stehen sieht, hier verkörpert durch einen 95-jährigen Wissenschaftler. Auf nur 190 Seiten werde innerhalb des sehr präzisen Rahmens einer Schiffsreise aus Europa nach New York im Jahr 2005 eine "bedrängende Geschichte von Vertreibung, Flucht und Exil" erzählt. Und zwar in leichtfüßig wie knapp erzählten Rückblenden, die der Kritikerin zufolge immer wieder durchsetzt sind von gegenwärtigen Schilderungen der Abendunterhaltungen auf dem Schiff. Beim Lesen wechsele auch der Leser zwischen den Zeitebenen und Wirklichkeitsausschnitten mühelos hin und her: Petersburg 1918, Petersburg im Sommer 2005, Odessa 1920, der Berliner Viktoria-Luise-Platz in der Gegenwart und 85 Jahre zuvor, und dem Prag von 1933 und 1968. Dies und die poetischen, hochverdichteten Momente faszinieren die Rezensentin.