Dorothea Dieckmann

Guantanamo

Roman
Cover: Guantanamo
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004
ISBN 9783608935998
Gebunden, 160 Seiten, 16,00 EUR

Klappentext

Rashid ist aus Hamburg. Als er nach dem Afghanistan-Krieg nach Indien reist, um eine Erbschaft von seiner Großmutter anzutreten, schließt er sich einem jungen Afghanen an und fährt weiter nach Pakistan, wo er in eine antiamerikanische Demonstration gerät. Er wird festgenommen und nach zwei Gefängnisnächten im Laderaum eines Flugzeugs auf den kubanischen Stützpunkt der USA geflogen. Bevor man ihn in einen Drahtkäfig sperrt, verbringt er einige Stunden gefesselt am Boden, mit Blindbrille, Ohrschützern und Atemmaske. Schnell hat er jedes Raum- und Zeitgefühl verloren.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 21.12.2004

Andreas Langenbacher hat sich von Dorothea Dieckmanns Roman "Guantanamo" überzeugen lassen. Er erinnert an die Diskussion um Dieckmanns Text beim Klagenfurter Literaturwettbewerb Ende Juni. Der Kritik, die nach Dieckmanns Lesung vorgetragen wurde - es war von erborgter Tragödie und Authentizität die Rede, von Innerlichkeit am falschen Objekt, von Anverwandlung eines Themas, über das man noch viel zu wenig Faktisches wisse, als dass es zum Inhalt eines fiktiv identifizierenden Erzählens gemacht werden dürfe - mag er sich nicht anschließen. Im Gegenteil. Er hebt hervor, dass Literatur alles solle, dürfe und könne, wenn es mit existenzieller und zugleich experimenteller Ernsthaftigkeit geschehe. Genau dies trifft seines Erachtens auf Diekmanns Roman zu. In ihrem durch "exakte Recherche" und "emphatische Nähe" geprägten Roman erzähle sie die Geschichte Rashids, der durch einen unglücklichen Zufall in amerikanische Gefangenschaft gerät, wo ihm ein Geständnis der Taliban-Komplizenschaft abgetrotzt werden soll. Dabei gelinge ihr nicht nur eine "glaubwürdige Innenansicht einer Traumatisierung". Zugleich verweise Diekmann auf die untergründige Verbindung von Ausnahmezustand und Literatur: "Überleben durch Fiktion und Freiheit durch Lüge, Rekonstruktion der eigenen Biografie unter unausweichlichem Zwang, das sind denn auch die skandalös anmutenden Verbindungen von Lager, innerer Belagerung und Literatur, die unterschwellig durch Dieckmanns Erzählung rumoren."

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 20.10.2004

Hans-Jürgen Heinrichs war natürlich skeptisch - wie sollte es auch anders sein, wenn eine Autorin den Versuch unternimmt, "ein Drama von derartigen Ausmaßen" wie das Gefangenenlager in Guantanamo "ohne jede Zeugenschaft erzählerisch zu erfassen". Wenn sie, anders gesagt, einen "Bericht aus dem barbarischen Herzen der Zivilisation" schickt, ohne dort gewesen zu sein. Doch am Ende ist er überzeugt, dass der Versuch gelungen und dieses Buch von großer Wichtigkeit ist. Denn am Beispiel des Gefangenen Rashid demonstriere Dieckmann kraft ihrer Einfühlung, wie es ist, wenn man vom Menschen zum Verdächtigen wird, vom Gesprächspartner zum Verhörten, wenn man den Stillstand von Körper und Seele einübt, um zu überleben. Das Lager, zitiert Heinrichs den Holocaust-Zeugen Andrzej Szczypiorski, ist Leere - "genau dieses Gefühl will uns Dorothea Dieckmann ohne jede Beschwichtigung, in einem Ton nahezu unaushaltbarer Dichte, Schärfe und Atemlosigkeit vorführen, man könnte auch sagen: einhämmern". Und es passiert inmitten der Zivilisation, sanktioniert durch die Institutionen der Demokratie.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 02.09.2004

Einen "so prekären Stoff" wie das Gefangenenlager Guantanamo nach "derartig schlichten literarischen Konventionen" zu erzählen, hält Rezensent Eberhard Falcke einfach für "unmöglich". Er wirft Dorothea Dieckmann vor, mit ihrem Roman über das Schicksal eines Häftlings aus Aktualitätsgründen eine Geschichte zu erfinden, bevor die, die wirklich betroffen sind, "eine Chance haben, sich zu äußern." Zwar sei der Text auf den ersten Blick erzähltechnisch "glänzend fabriziert", doch der anfangs faszinierend "drängende" Stil kippe bald um in eine "hohl klappernde Litanei". Der Rezensent fragt sich, wie die Autorin das Innere eines Gefangenen aus dem eigenen Inneren "zusammenfantasieren" könne und lässt keinen Zweifel daran, dass er dies für unmöglich hält. Respekt kann Autoren wie E. E. Cummings gezollt werden, die Gefangenschaft selbst erlebt haben und daher auch literarisch verarbeiten könnten. Dieckmanns Buch stehe dagegen für eine Literatur, die auf "clevere Formulierungsgabe plus Internet-Information" setzt.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 31.07.2004

"Gut gemacht" ist nicht gut genug, meint Oliver Pfohlmann, der die Qualitäten dieses Buches anerkennt, seine Konzeption im Großen und Ganzen aber fragwürdig findet. Dorothea Dieckmann habe sich hineinversetzen wollen in das Erleben eines nach Guantanamo verschleppten - Käfig, Verhöre, Folter, Klaustrophobie, "der Verlust des Selbst" -, was ihr mit Fleiß (Internet, Psychologie) und schriftstellerischer Imagination auch gut gelungen sei: Der Roman, schreibt Pfohlmann, "evoziert mit peinlich genauen Beobachtungen die psychischen und physischen Auswirkungen des Verlusts jeglicher Intimsphäre, von sensorischer Deprivation und Folter, von Informations- und Kommunikationsentzug." Sympathisch also, das Ganze, aber leider "mit eingebautem Verfallsdatum" (bei Erscheinen der ersten authentischen Berichte) und - so Pfohlmanns Hauptkritik - von allzu billiger Empörung. Der Verschleppte ist unschuldig (ungläubig, unpolitisch), die Frage der Moral stellt sich also nie, ist immer schon entschieden. Nicht, dass der Rezensent das Unrecht von Guantanamo in Frage stellen will, er hätte sich nur gewünscht, dass die Perspektive des zu Unrecht gefolterten, so nützlich bei der literarischen Einfühlung, durch andere ergänzt würde. "Was hätte aus Dieckmanns Experiment werden können", sinniert der Rezensent, "hätte die Autorin auf einer zweiten Erzählebene die Möglichkeit einer solchen einfühlenden Rekonstruktion vom fernen Europa aus problematisiert"!
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