Christa Wolf

Stadt der Engel

oder The Overcoat of Dr. Freud
Cover: Stadt der Engel
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
ISBN 9783518420508
Gebunden, 380 Seiten, 24,80 EUR

Klappentext

Los Angeles, die Stadt der Engel: Dort verbringt die Erzählerin Anfang der Neunziger einige Monate auf Einladung des Getty Center. Ihr Forschungsobjekt sind die Briefe einer gewissen L. aus dem Nachlass einer verstorbenen Freundin, deren Schicksal sie nachspürt. Eine Frau, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte. Sie beobachtet die amerikanische Lebensweise, taucht ein in die Vergangenheit des New Weimar unter Palmen, wie Los Angeles als deutschsprachige Emigrantenkolonie während des Zweiten Weltkriegs genannt wurde. Ein ums andere Mal wird sie über die Lage im wiedervereinigten Deutschland verhört: Wird der Virus der Menschenverachtung in den neuen, ungewissen deutschen Zuständen wiederbelebt? In der täglichen Lektüre, in Gesprächen, in Träumen stellt sich die Erzählerin einem Ereignis aus ihrer Vergangenheit, das sie in eine existentielle Krise bringt und zu einem Ringen um die Wahrhaftigkeit der eigenen Erinnerung führt.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 26.06.2010

Rezensent Jörg Magenau sagt es sehr freundlich, aber doch unmissverständlich: Dieser als "Roman" eigentlich falsch deklarierte Text Christa Wolfs mache im Grunde die Verfehltheit ihres gesamten literarischen Erinnerungsprojekts deutlich. Sie kann nicht aus ihrer Haut, die, wie sie selbst eingestehe, die einer "preußischen Protestantin" ist - und zu dieser ihrer Prägung gehört ein tiefinnerer Glaube an die Notwendigkeit authentischen Erinnerns beziehungsweise das Beharren darauf, in der Bohrung nach wahrer eigener Vergangenheit niemals nachzulassen. Hier also bohrt sie nun, vom Jahr 1992, aber auch von der Gegenwart aus und es kommt dabei, findet der Rezensent, wenig mehr heraus als die ihr selbst aber eher verborgen bleibende Erkenntnis, dass es eher nichts bringt. Als geradezu "numinoses" Zentrum wird die von der Autorin lange vergessene, Anfang der Neunziger mit viel Skandal wiederentdeckte IM-Episode umkreist. Wolf kommt und kommt mit sich nicht ins Reine, aber Jörg Magenau fragt sich eben, ob dieses insistente Ins-Reine-Kommen-Wollen nicht das wahre Problem ist. Anderes, die Uninteressantheit etwa von Wolfs Kalifornien-Schilderungen, fällt für ihn dabei zwar auch negativ, aber deutlich weniger ins Gewicht.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 22.06.2010

Das jüngste Buch von Christa Wolf kann Joachim Güntner zumindest nicht begeistern. Dafür ist das Werk zu sehr Bauchnabelschau und zu wenig Roman, moniert der Rezensent. Christa Wolf weise zwar entschieden darauf hin, dass es sich um Fiktives handelt, wenn sie eine Ich-Erzählerin neun Monate als Gast des Getty-Centers nach Santa Monica in Los Angeles reisen lässt. Allerdings sind, wenn die Protagonistin aus der fernen Heimat mit Stasi-Vorwürfen und vernichtenden Pressemitteilungen traktiert wird, die autobiografischen Hintergründe für den Rezensenten unübersehbar. Für den ostalgisch-trotzigen Ton und die Enttäuschung, die aus den Reflexionen über die einstigen Hoffnungen der Ich-Erzählerin auf die untergegangene DDR spricht, scheint Güntner durchaus Verständnis aufzubringen und als Reisebericht oder politischen Traktat mag das Buch für "passionierte Christa-Wolf-Leser" durchgehen. Als Roman allerdings gebricht es dem Werk an "Kunstfertigkeit", urteilt er streng, zumal die handelnden Personen für Güntner allzu blass bleiben.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.06.2010

Im neuen Buch von Christa Wolf gibt es mehr als nur eine Erzählebene und insgesamt eine recht komplexe Textur - nur eines sei das Werk, anders als auf der Rückseite behauptet, doch eher nicht, so der Rezensent Richard Kämmerlings: ein Roman. Wolf geht, und nicht nur das könne man kaum anders als autobiografisch verstehen, zurück in die Jahre 1992 und 1993, in denen sie ein Stipendium in Los Angeles hatte. Dort erlebt sie die teils sehr kritischen Reaktionen auf ihr Eingeständnis, Anfang der sechziger Jahre einmal Stasi-Zuträgerin gewesen zu sein. Der Kern des Buchs ist eine Selbstbefragung, die sich daraus ergibt - nämlich danach, wie sie diese Tatsache einfach vergessen haben konnte. Daneben geht es noch um eine Recherche, viel um deutsche Exilliteraten in Kalifornen, um Star Trek, Walter Benjamin und den amerikanischen Kapitalismus. Die ersten 150 Seiten sind, räumt der Rezensent ein, durchaus mühsam. Danach aber gewinne dieses Buch einer Krise sehr interessante Züge und halte, recht überraschend, sogar noch einen so fantastischen wie versöhnlichen Ausblick bereit. Als so "merkwürdig" wie "bemerkenswert" empfiehlt Kämmerlings den Nicht-Roman zur Lektüre.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 19.06.2010

Nicht ohne Wohlwollen schreibt Rezensent Lothar Müller über diesen jüngsten Roman Christa Wolfs. Viel auszusetzen hat er daran dennoch. Das beginnt schon damit, dass ihm die Romanform für das, was Wolf hier vorhat, nicht recht einleuchten will. Warum fiktionalisiert sie, was doch so sichtlich mehr als nur einen autobiografischen Kern hat? Bzw. warum geht sie beim Fiktionalisieren andererseits auch nicht weiter, als sie es tut? Im Prinzip versteht Müller schon, dass die Autorin die größtmögliche formale Distanz zum Genre der Stasi-Akte sucht. Um die, bzw. das Wiederauftauchen der Zuträgerakte Wolfs bzw. ihrer Wiedererinnerung an die Existenz dieser Akte im Jahr 1992 geht es im Zentrum des Buchs. Mit einem Stipendium ist die Autorin, als die Wogen der Empörung in Deutschland hochschlagen, in Los Angeles. Diese Distanz nutzt die Verfasserin für Exkurse zur deutschen Exilliteratur, zur kapitalistischen US-Gegenwart und mancherlei, das für den Rezensenten eigentlich nicht zur Sache gehört. Der entscheidende letzte Schritt der Auseinandersetzung, ein Schritt nämlich ins politisch und moralisch Offene, bleibt zu seinem Bedauern aus. Trotz des ausdrücklichen Bezugs auf die Psychoanalyse und auf Walter Benjamin beharre Wolf auf einer Form der "Kontrolle durch die Koordinatensysteme der Moral und Politik". Als Symbol dafür, dass das Buch als Literatur zu kurz springt, sieht Müller den Umgang Wolfs mit ihrem IM-Tarnnamen "Margarete". Was hätte man daraus machen können, seufzt der "enttäuschte" Rezensent. Und was mache Wolf daraus: wenig bis nichts.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 17.06.2010

"Gerechtigkeit für Christa Wolf!" fordert Jens Jessen nach beschwerlicher wie elektrisierender Lektüre dieses Buchs, das er als "Reise ans Ende der Tugend" und auch ans Ende der Selbstgerechtigkeit beschreibt. Zwar dauere es, schreibt Jessen, bis "Schwung in die Sache" kommt, aber dann beginne der "grandios bis zum Quälenden inszenierte Abstieg von den Eiseshöhen der sozialistischen Tugend". Den Rahmen bilde ein Aufenthalt der Autorin als Stipendiatin der Getty-Foundation just in jener Zeit, als ihre Stasi-Mitarbeit als junge Frau bekannt geworden war. Nach ersten Anflügen von Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit werde die mit der Autorin so leicht verwechselbare Hauptfigur und Erzählerin unter der kalifornischen Sonne ganz nüchtern, demütig und weich. Durchwandert, wie man liest aber auch noch einmal das fatale 20. Jahrhundert. Mit literarischer Virtuosität und ungeheurem Sachverstand, der mühelos Zeitebenen wechseln, Identitäten und Selbstbilder miteinander verflechten könne, erschreibe sich Christa Wolf einen Teppich, auf dem sie schließlich den Kämpfen entkommen könne.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 14.06.2010

Gut dialektisch gelangt Arno Widman dann doch noch zu einer positiven Besprechung von Christa Wolfs "Stadt der Engel". So ungenießbar das Buch - kein Roman, meint Widmann, eher eine durch und durch meinungsgeschwängerte Realitätsschilderung - auch sei, so wahr sei es gerade dadurch und so gelungen also als Literatur. Widerständig darf ein Buch für Widmann gern sein. Schließlich kann er es auch mal beiseite legen, wenn's gar zu unerträglich wird. Wenn Wolf ihre Flucht in die USA (vor den Stasi-Vorwürfen in Deutschland) etwa allzu fadenscheinig als Suche ausgibt und alles ihr zum Spiegel gerät für sich und ihr Verhältnis zur DDR. Aber gerade darin steckt für Widmann eben auch die Stärke der Autorin, in ihrer Schwäche, ihrer Distanzlosigkeit, die Wahrheit, der Gewinn für den Leser.