J. M. Coetzee

Zeitlupe

Roman
Cover: Zeitlupe
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005
ISBN 9783100108333
Gebunden, 304 Seiten, 18,90 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Ein einziger schicksalhafter Augenblick verändert das Leben von Paul Rayment: Er fliegt durch die Luft. Zuerst denkt er noch, gleich werde er durchatmen und wieder auf sein Fahrrad steigen. Aber er soll nie mehr auf die Beine kommen, schlimmer noch, er verliert eines bei dem Unfall. Nun stakst er auf Krücken, und alles ist in Zeitlupe.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.01.2006

Nachdem J. M. Coetzees jüngster Roman "Zeitlupe" mit "großem Schwung" begonnen hat, hält der Autor den Lauf seiner Geschichte plötzlich an und gibt den "Blick auf die Erzählmaschine" frei, stellt Tobias Döring fest. Erzählen die ersten 12 Kapitel nämlich vom allein lebenden, kinderlosen Raymond, der bei einem Verkehrsunfall ein Bein verliert und der sich nun in einem Leben auf Krücken einrichten muss, so lässt der Autor im 13. Kapitel Elizabeth Costello auftreten, die sich von da an in das Romangeschehen einmischt und den Protagonisten sowie den Leser mit unangenehmen Fragen bedrängt. Costello, die den Lesern aus Coetzees letztem Buch bekannt ist, könne als eine "Sprechrollenfigur" des Autors verstanden werden, meint Döring. Sie bremst die Romanhandlung unversehens aus und lässt von da an die Geschichte "im Passgang" ihren Fortgang nehmen, was nicht nur den Protagonisten Raymond, sondern auch die Leser "irritiert", räumt der Rezensent ein, der sich dennoch nicht dem rundum enttäuschten Urteil der englischen Kritik anschließen will. Coetzee erhebt mit dieser Wendung des Romans den "fortgesetzten Zweifel zum Programm", so der Rezensent, der das zwar unbequem findet, aber dennoch das Buch auch "nicht einfach aus der Hand legen" kann.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 19.10.2005

In J. M. Coetzees jüngstem Roman hat der ehemalige Fotograf Paul Rayment einen Verkehrsunfall, er verliert ein Bein und sieht sich plötzlich mit der "Einsamkeit vor dem Tod" konfrontiert, fasst Jörg Plath zusammen. Wer sich durch diese Inhaltsangabe abgeschreckt fühlt, sollte sich daran erinnern, so der Rezensent, dass der südafrikanische Autor den Literaturnobelpreis "nicht ohne Grund" verliehen bekommen hat. Coetzee inszeniere in seinem "bisher reduziertesten" Buch ein "Kammerspiel", das sich um die "Motive dreht, mit denen der Autor sich seit langem beschäftige: Einsamkeit und Alter, Fürsorge und Liebe. Rayment verliebt sich nämlich in seine Pflegerin, eine verheiratete, dreißig Jahre jüngere Frau mit Kindern, und stürzt deren Familie mit finanziellen Angeboten in die Krise, so Plath weiter, der insbesondere die "umfassenden Erschütterungen", die aus den alltäglichen Widrigkeiten für den Behinderten erwachsen, beeindruckend dargestellt sieht. Coetzee beschreibt in "lakonischer" und präziser Sprache und enthält sich einer wohlfeilen Dramatisierung der Geschehnisse, um mit viel Aufmerksamkeit in "Zeitlupe" einige wenige Tage zu beschreiben, in denen sich das Leben Rayments "zum zweiten Mal entscheidet", lobt der Rezensent. Durch das überraschende Auftauchen von Elizabeth Costello, einer Figur, die man aus "Das Leben der Tiere" von 2004 bereits kennt, gewinnt der Roman eine philosophische Tiefe, die sich aber nirgends zum Seminar auswächst, weil "der Schmerz über die Einsamkeit" immer beherrschendes Motiv bleibt, so Plath angetan. Nur auf den letzten fünfzig Seiten, gesteht der ansonsten völlig begeisterte Rezensent, zieht sich der Roman ein bisschen in die Länge, ansonsten habe man es hier mit einem "schlackenlosen Alterswerk" zu tun, das sich durch "Wärme" und "sicheres Rhythmusgefühl" auszeichnet.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 18.10.2005

Die Rezensentin Angela Schader hat ihre Freude gehabt an der Lektüre des neuen Romans von J. M. Coetzee, der sich einmal mehr in vielschichtigen Vexierspielen ergeht. Gerade noch lerne der Leser den alternden und durch einen Unfall in Pflegebedürftigkeit und Depression gestürzten Paul Rayment kennen, da tauche plötzlich Elisabeth Costello auf, die schriftstellernde und titelgebende Protagonistin aus Coetzees letztem Roman, und mische sich gründlich in Rayments Leben ein. Diese Einmischung kann der zur "Kopflosigkeit" neigende Rayment laut Einschätzung der Rezensentin auch gut gebrauchen: Angesichts der "Kälte", der "Unschlüssigkeit" und des "schildkrötenhaften, linkischen Gehabes", das Rayment an den Tag lege, wirke Costellos Autreten fast wie eine Art "poetische Gerechtigkeit". Ganz allmählich, bemerkt die Rezensentin schmunzelnd, setzen dann Zweifel darüber ein, was oder wer hier "real" ist. Mit der "Mehrschichtigkeit" und der "spielerischen ironischen Distanz", so das angetane Fazit der Rezensentin, gelinge es Coetzee, den Leser nach und nach und offenen Auges in sein Netz aus "fein gewirkten Illusionen" zu ziehen".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 13.10.2005

Den nächsten Roman von J. M. Coetzee wünscht sich Jochen Jung "bitte ohne Frau Costello". Elizabeth Costello, die man schon aus früheren Werken Coetzees kennt, taucht plötzlich beim eigentlichen Protagonisten Paul Rayment auf und begleitet ihn fortan mit Tipps und Zurechtweisungen als "persönlicher kategorischer Imperativ". Rayment hat Pech: Bei einem Unfall verliert er sein Bein und muss nun lernen, mit dieser Behinderung umzugehen. Eine Frau von der öffentlichen Fürsorge hilft ihm dabei. Ausgerechnet in sie verliebt sich Rayment. Und dann taucht Frau Costello auf und macht das sich anbahnende junge Glück mit ihren Vorträgen zunichte. Jung stört zum einen die ungeklärte Rolle Costellos: Ist sie nun die eigentliche Autorin des Romans und der Mann eine von ihr erfundene Figur? Kommentiert sie das Geschehen nur oder kann sie es lenken? Zudem leidet der Rezensent daran, dass Costello von Coetzee als Sprachrohr für seine mannigfaltigen Ansichten vom 20. Juli 1944 bis zum Tierschutz missbraucht wird. Das zerstört sie und macht sie "einfach langweilig". Und der Roman, der so verheißungsvoll und mit "verschwenderischer Intelligenz" mit der alternden Costello einsetzt, verkommt nach einer kurzen Verschnaufpause zu einer bloßen "Sammlung intelligenter Vorträge".

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 30.09.2005

Unbeeindruckt von den Mäkeleien der Kritikerkollegen aus anderen Redaktionen stellt Lothar Müller den neuen Roman von J.M. Coetzee als ebenso zeitgemäßes wie zeitloses Monument der Kunstform Roman vor. Voller Bewunderung schildert er, wie Coetzee ganz auf die Illusionskraft des Imperfekt - Es was einmal ... - verzichtet und den Erzähler zur merkmalslosen, stummen Gestalt mit ausgestrecktem Zeigefinger gefrieren lässt. "Hier", schreibt er, "wird den Figuren die Schädeldecke von außen aufgeklappt, hier fährt das Präsens in ihre Herzen hinein wie die Sonde eines Chirurgen". Protagonist ist einer, dem ein Unglück zustößt: Paul Rayment verliert bei einem Unfall ein Bein, ihn ereilt, so Müller, ein Schicksal, das sich "als Zufall maskiert", hinter dem aber dieselbe "Grausamkeit der alten Götter" wirkt, die in der antiken Mythologie die Figuren bewegt. Coetzee lässt die Willkür geschehen und inszeniert einen virtuosen "Streit zwischen den Dämonen des Alters und des Verfalls und denen der Liebe und Vitalität". Sie streiten um ihr Opfer, das zudem von einer ganz besonders störrischen Figur behelligt wird: Elizabeth Costello, Protagonistin von Coetzees Roman-Essay, "Abenteurerin des Geistes", tritt auf. "Wie sich Paul Rayment gegen diese Plage zur Wehr setzt", konstatiert der Rezensent und offenbart eine gänzlich ungeahnte Qualität des Romans, "ist ein erzählerisches Kabinettstück von spröder, aber beträchtlicher Komik."
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 24.09.2005

Richtig schlau vermag Rezensent Gerrit Bartels nicht zu werden aus J. M. Coetzees jüngstem Roman um einen alten Mann, der bei einem Unfall ein Bein verliert und - verständlicherweise - nicht in der Lage ist, gelassen mit seiner Behinderung und Pflegedürftigkeit umzugehen. Denn kaum habe sich der Leser auf die "luzide" und virtuos "präzise" rekonstruierte Innenwelt des alten und behinderten Rayment eingestellt, klingele es an der Tür und da steht die Schriftstellerin Elisabeth Costello, die Protagonistin aus Coetzees letztem und gleichnamigem Roman. Mit ihrem Auftreten, so der einigermaßen verblüffte Rezensent, beginnt gewissermaßen "ein anderes Buch", eine Art "Romanspiel", das sich gleichermaßen als Triumph und Bekämpfung der Illusion gibt. Was Costellos Präsenz bewirken soll, bleibt für den Rezensenten unklar: Entweder, vermutet er, gaukelt Coetzee Costellos Existenz nur vor oder aber er stelle dem auch erkenntnistechnisch hilfsbedürftigen Rayment eine orientierende Instanz zur Seite. Wie dem auch sei: Das "intellektuelle Dialog-Tennis" der beiden Kontrahenten über das Alter, die Liebe und die Scham findet der Rezensent grandios. Und vielleicht, so das Fazit des Rezensenten, müsse man diesen "durchsichtig-verzwackten Roman" als Vorführung jener Definition des Romans sehen, wie sie Elisabeth Costello im letzten Roman gegeben hat. Demnach ist der Roman "ein Versuch, das menschliche Schicksal an jeweils einem Fall zu verstehen". Schade sei allerdings, dass Costello im Laufe des Romans immer mehr an Substanz gewinne, wohingegen die anderen Figuren zunehmend verblassen.