Außer Atem: Das Berlinale Blog

Apell für eine neue Empfindsamkeit: Lou Yes 'Blind Massage' (Wettbewerb)

Von Elena Meilicke
10.02.2014. Lou Yes Wettbewerbsbeitrag "Blind Massage" erzählt von einer Gruppe blinder junger Männer und Frauen in einem Massage-Institut und erforscht dabei subjektive Kameraperspektiven.


In der Sehstörung zeigt sich das Sehen selbst. Erst wenn das Sehen von etwas nicht mehr funktioniert, kann das Sehen sichtbar werden und als Prozess hervortreten. Gerade deshalb könnte die Sehstörung ein interessantes Objekt für das Kino sein, dem es ja immer um das Sehen und um Sichtbarkeiten geht. Lou Yes Wettbewerbsbeitrag "Blind Massage" über eine Gruppe von jungen blinden Männern und Frauen, die gemeinsam in einem Massage-Institut im südchinesischen Nanjing leben und arbeiten, beginnt in diesem Sinne vielversprechend: der Unfall, der dem kleinen Xiao Ma das Augenlicht raubt, affiziert da gleich das ganze Bild und seine Beleuchtung, Lichtpunkte und fast abstrakte Farbtupfer zucken erratisch über die Leinwand, während die Ränder und Hintergründe des Bildes sich im Dunkeln verlieren. Lou Ye bleibt also der passionierte Anhänger des Point-of-View, als der er sich schon in seinem ersten großen internationalen Erfolg "Suzhou River" (2000) erwiesen hatte, und fügt der experimentellen Erforschung subjektiver Kameraperspektiven eine weitere Facette hinzu.

Auch jenseits der subjektiven Kamera, die versucht, sich der Blindheit simulatorisch anzunähern, bemüht sich "Blind Massage" um eine neue, quasi 'blinde' Filmästhetik: da ist die Aufmerksamkeit für Geräusche und für die intensivierten Berührungen zwischen den Figuren, die sich ständig liebevoll kabbeln, necken, streicheln, sich gegenseitig süße Früchte in den Mund schieben. Wo die Dominanz des Sehsinns endet, scheint auch die Distanz zwischen Körpern zu schwinden. In ähnlicher Weise an der Blindheit orientiert ist auch die weibliche Erzählerstimme aus dem Off, die nicht nur die Geschichte vorantreibt, sondern zu Beginn des Films auch Filmtitel und Credits verliest – als adressiere der Film nicht nur ein sehendes Publikum, oder als wolle er dieses sehende Publikum dafür sensibilisieren, wie Blindheit sich anfühlen könnte.

Trotz all dieser interessanten Ansätze ist "Blind Massage" für mich leider ein gescheiterter Film. Mit wachsendem Befremden habe ich der Aneinanderreihung von tragischen Unfällen und dramatischen Selbstverletzungen zugeschaut und war zunehmend entnervt von einer komplett unmotivierten und folgenlos bleibenden Melodramatik (eindrücklichstes Beispiel: wie kurz vor Schluss der Inhaber des Massage-Instituts plötzlich Blut zu spucken beginnt und ebenso plötzlich wieder damit aufhört). Diese Melodramatik mag der Vorlage geschuldet sein, einem Roman des chinesischen Schriftstellers Bi Feiyu aus dem Jahr 2008, der vielleicht einfach schlecht adaptiert ist. Ich hatte aber das Gefühl, dass diese Melodramatik auch programmatischen Charakter hat: "Blind Massage" wirkt wie der leidenschaftliche Appell für eine neue Empfindsamkeit, ein Plädoyer für freie Expression und Emotion: weint, schreit, lasst euren Gefühlen freien Lauf! Es kann sein, dass ein solches Plädoyer im chinesischen Kontext seine Berechtigung hat und eine wichtige Position darstellt. Ich habe so viel zärtliche Intimität und offenen Gefühlsausdruck im chinesischen Kino bislang auch nur selten gesehen. Leider haben sie mich kalt gelassen und sind mir rührselig und sentimental vorgekommen.

Elena Meilicke

Tui Na - Blind Massage. Regisseur: Lou Ye. Darsteller: Guo Xiaodong, Qin Hao, Zhang Lei. Volksrepublik China, Frankreich 2014
(Wettbewerb, alle Vorführtermine)