Außer Atem: Das Berlinale Blog

Senegalesisches Stationendrama: Alain Gomis' 'Aujourd'hui' (Wettbewerb)

Von Nikolaus Perneczky
11.02.2012. Manche sagen, die gesamte Geschichte des Films lasse sich aus der Opposition von Louis Lumière und George Méliès, von Realitätsprinzip und Fantasietätigkeit extrapolieren. Übertragen auf das afrikanische, und darin insbesondere das senegalesische Kino, könnte man, ähnlich verkürzend, eine derartige Matrix zwischen dem Gründervater Ousmane Sembène und dem Vatermörder Djibril Diop Mambéty aufspannen, oder, in Erstlingsfilmen gesprochen, zwischen Sembènes "Borom Sarret" und Mambétys "Contra's City". In dieser etwas kruden Analogie wäre "Tey / Aujourd'hui" des franko-senegalesischen Regisseurs Alain Gomis (übrigens der einzige afrikanische Bewerber um den goldenen Bären, sieht man von Kim Nguyens Kindersoldatenfilm "Rebelle" ab) genau zwischen den Stühlen zu verorten. Mit Sembène teilt er die geradlinige, bald didaktische Erzählhaltung und die gelegentliche Zuspitzung ins Satirische, so in einer Szene, in der eine Gruppe heuchlerischer Honoratioren auftritt, die nicht nur sozioökonomisch, sondern auch auf der Ebene der Figurenzeichnung mit der postkolonialen Elite übereinstimmen, wie Sembène sie so unnachgiebig karikiert hat. Von Mambéty überlebt in "Tey" das Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen vor der schlechten Wirklichkeit, buchstäblich (weg aus Senegal) wie in der Form bzw. ihrer spielerischen Öffnung (weg vom sozialen Realismus). Mit beiden großen Brüdern verbindet…


Manche sagen, die gesamte Geschichte des Films lasse sich aus der Opposition von Louis Lumière und George Méliès, von Realitätsprinzip und Fantasietätigkeit extrapolieren. Übertragen auf das afrikanische, und darin insbesondere das senegalesische Kino, könnte man, ähnlich verkürzend, eine derartige Matrix zwischen dem Gründervater Ousmane Sembène und dem Vatermörder Djibril Diop Mambéty aufspannen, oder, in Erstlingsfilmen gesprochen, zwischen Sembènes "Borom Sarret" und Mambétys "Contra's City". In dieser etwas kruden Analogie wäre "Tey / Aujourd'hui" des franko-senegalesischen Regisseurs Alain Gomis (übrigens der einzige afrikanische Bewerber um den goldenen Bären, sieht man von Kim Nguyens Kindersoldatenfilm "Rebelle" ab) genau zwischen den Stühlen zu verorten. Mit Sembène teilt er die geradlinige, bald didaktische Erzählhaltung und die gelegentliche Zuspitzung ins Satirische, so in einer Szene, in der eine Gruppe heuchlerischer Honoratioren auftritt, die nicht nur sozioökonomisch, sondern auch auf der Ebene der Figurenzeichnung mit der postkolonialen Elite übereinstimmen, wie Sembène sie so unnachgiebig karikiert hat. Von Mambéty überlebt in "Tey" das Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen vor der schlechten Wirklichkeit, buchstäblich (weg aus Senegal) wie in der Form bzw. ihrer spielerischen Öffnung (weg vom sozialen Realismus). Mit beiden großen Brüdern verbindet "Tey" das dramaturgische Format des Stationendramas: Ein Mann, seltener eine Frau auf dem Weg zu einem unbestimmten Ziel, der sie an typischen Szenen, Figuren, Zuständen der senegalesischen Gesellschaft vorbeiführt.

Der US-amerikanische Rapper Saul Williams spielt Satché, einen Mann mittleren Alters, der vom Tod eine Vorwarnung erhalten hat. Keine Krebsdiagnose und keine apokalyptische Prophezeiung steht am Beginn von "Tey", sondern die schlichte, nicht weiter hinterfragbare Gewissheit, dass Satché am Ende des Tages sterben wird. Ausgehend vom Kreis seiner Familie begibt er sich sodann auf eine eintägige Reise, die unschwer als allegorische Kompresse eines ganzen Menschenlebens zu erkennen ist - so wie man überhaupt feststellen muss, dass Subtilität nicht Alain Gomis' Sache ist. Dass "Tey" alle Karten auf den Tisch legt, ohne darüber banal zu sein, macht aber gerade seine Größe aus.

Weil "Tey" ein Stationendrama ist, hält er sich mit Kohärenz und erzählerischer Rundung erst gar nicht auf. Hier wird Unterschiedliches, ja Unvereinbares schlicht aneinandergereiht, wechseln die formalen Kalküle und emotionalen Tonalitäten oft und übergangslos. Wie anders soll es gelingen, so viel auf so kleinem Raum unterzubringen? Ein Treffen mit ehemaligen Freunden, das in einem Zerwürfnis endet, ein Besuch im Rathaus, um das offizielle Geleit des Bürgermeisters und seiner heuchlerischen Entourage über sich ergehen zu lassen, ein Galeriebesuch, wo Satché eine alte Flamme wieder aufleben und – es muss schnell gehen – absterben lässt... Wenn dann, wie es den Anschein hat, die Dreharbeiten an einem Punkt von Streiks und öffentlichen Demonstrationen unterbrochen wurden, hat Gomis keine Schwierigkeit, auch diese, dem Drehbuch äußerlichen Ereignisse in den Film eingehen zu lassen – und zwar gerade nicht als Einbruch des Realen in die filmische Fiktion, sondern als weitere Station seiner grundsätzlich heterogenen Erzählbewegung.



Dass Williams' Französisch sehr holprig ist, macht dabei gar nichts, da seine Figur ohnehin kaum etwas zu melden hat. Den Menschen begegnet er mal staunend, mal traurig, mal vertraulich, aber immer eher als Wahrnehmender, Empfangender denn als Akteur seines eigenen Lebens. Die typische Einstellung des Films ist eine empathische Großaufnahme von Williams' zwischen Adoleszenz und Mannesalter changierenden Gesichtszügen, filmogene Physiognomie eines halb angefangenen, halb verbrauchten Lebens.

Nikolaus Perneczky

"Aujourd'hui - Tey ". Regisseur: Alain Gomis. Mit Saul Williams, Aissa Maiga, Djolof M'bengue, Anisia Uzeyman u.a., Frankreich, Senegal 2011, 86 Minuten. (Vorführtermine)