Vorgeblättert

Leseprobe zu Viktor Jerofejew: Die Akimuden. Teil 1

05.08.2013.
I RUSSLAND DEN TOTEN


In Moskau glaubt keiner keinem was, und aus dem Grund kommt es öfter mal zu Handgreiflichkeiten. Da stehe ich also in der Schlange vor einem Schalter der Sparkasse in der guten alten schattigen Pljuschtschicha, auf der hundertjährige Fichten wachsen und alteingesessene Moskauer wie gehörnte Schnecken still auf und ab kriechen. In der Bank dichtes Gedränge wie zu Sowjetzeiten, und vor mir fragt ein Mann mittleren Alters im beigen Jackett die reizende junge Bankangestellte:
     "Welches Datum haben wir heute?"
     Sie antwortet:
     "Den Fünfzehnten."
     "Und welchen Monat?"
     Ohne jedes Anzeichen von Erstaunen, geradeso als sei niemand verpflichtet zu wissen, in welchem Monat wir uns momentan befinden, erklärt sie:
     "November."
     "Sind Sie sicher?"
     "Ja."
"     Und ich glaube, wir haben Oktober."
     "Nein, November."
     "Nein, Oktober. Ich weiß das besser. Oktober."
     "Selber Oktober!", gibt sie bissig zurück. Gerade noch lieb und entzückend, ist sie nun sauer, verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und ist ganz und gar nicht mehr reizend.
     Doch der Mann mittleren Alters bemerkt ihren Zorn nicht und dreht sich zu mir um:
     "Haben wir jetzt Oktober oder November?"
     "Weiß nicht", sage ich gleichgültig.
     In Moskau gilt 'weiß nicht' als geschickteste Antwort. Man übernimmt keinerlei Verantwortung. Wir sind keine Deutschen, dass wir Verantwortung für das Wissen übernehmen würden, in welchem Monat wir uns befinden.
     "Aber können Sie wenigstens sagen, ob wir Herbst oder Winter haben?", bekniet mich der Mann im beigen Jackett traurig. Ich spüre, dass er langsam aufdringlich wird. Durchaus möglich, dass er ein Verrückter ist, von den Ärzten noch nicht als solcher erkannt. Oder soeben vor unseren Augen verrückt wird. Bei uns in Moskau gibt es nämlich reichlich Verrückte, und da heißt es vorsichtig sein.
     "Für den einen ist es Herbst, für den anderen Winter", antworte ich philosophisch, denn mir schwant, dass es zu Handgreiflichkeiten kommen kann, und ich sehe mich nach möglichen Fluchtwegen um.
     Die Bankangestellte verliert endgültig die Geduld, verrenkt den Kopf so, als wollte sie ihn aus ihrer Schalteröffnung herausstecken, durch die selbst Geldscheine nur mit Mühe hindurchpassen, und schreit, an die Schlange der Wartenden gewandt:
     "Was haben wir heute hier in Moskau, Oktober oder November?"
     Da antwortet ein altes Männlein:
     "Kommt drauf an, nach welchem Kalender, nach dem neuen oder nach dem alten?"
     "Was?"
     Die junge Frau ist verwirrt, sie weiß nichts über verschiedene Kalender, wann und warum es eine Revolution gegeben hat, sie erwartet Aufklärung. Der Mann mittleren Alters, mit seinem schönen Schal von durchaus intellektuellem Äußeren, sagt:
     "Der alte Kalender galt bis zur Revolution, aber er wird jetzt von niemandem mehr benutzt. Sagen Sie mir lieber, was wir jetzt haben: Oktober oder November?"
     Doch das alte Männlein schlägt die Augen nieder und antwortet nicht. Da sagt eine Frau mit karottenroten Haaren:Kincaid, Raja Alem und auch Doulatabadi
     "Da hört sich doch alles auf! Ich komm gerade von draußen. Da ist es Oktober!"
     Darauf der Opa:
     "Ich guck mal nach." Und begibt sich Richtung Tür.
     Wenn das kein Veteran ist! Noch vor kurzem erschienen die Alten anlässlich hoher Feiertage in Moskau in altmodischen, bei uns im Land fabrizierten grünen Hüten oder Baretts und mit einer Unmenge blitzender Medaillen an den Jacken. Diese ruhmreichen Kämpfer, die Deutschland besiegt und halb Europa erobert haben, sind leider schon nahezu ausgestorben, aber die Dankbarkeit ihrer Enkel hat sie noch erreicht; die befestigen das Sankt-Georgs-Bändchen an ihren Autos und pappen Aufkleber mit der Herzenslosung an den Kofferraum: "Spassibo dedu sa pobedu!" - "Danke, Großvater, für den Sieg!"
     Die Bankangestellte in der grünen Uniform mit weißem Krägelchen schlägt vor Wut mit der Faust gegen die Scheibe, die sie von uns trennt, und zwar so, dass das Glas von oben bis unten einen Sprung bekommt, und schreit los:
     "Mir reicht's!", brüllt sie. "Ich kündige! Ach was, ich wandere aus!"
     Der Mann im beigen Anzug, der sieht, dass die Angestellte der Sparkasse drauf und dran ist, eine folgenschwere Entscheidung zu treffen, sagt mit einem unerwartet gutmütigen Lächeln:
     "Machen Sie sich nichts draus. Wenn Sie möchten, dann ist es eben November. Mir ist das egal."
     Ich nicke ihm zu, und er nickt zurück, fragt mich aber trotzdem versuchshalber:
     "November also?"
     "Scheint so."
     Da schlägt die Eingangstür zu. Unser Opa, Veteran, wer weiß, kommt mit leuchtenden Augen zurück.
     "Ich hab's überprüft!", ruft er. "Draußen schneit es. Da, sehen Sie!" Er zeigt einen runden Schneeball vor; offenbar hat er eine Handvoll Schnee vom Boden aufgeklaubt. "Also Dezember. Bald ist Silvester!"
     So ist es immer in Moskau. Man betritt eine Sparkasse im Oktober, wartet in der Schlange, bis man an der Reihe ist, und - hast du nicht gesehen - man verlässt sie im Dezember. Moskau ist eine Stadt mit Launen.
     Wäre ich ein amerikanischer Spion und von der CIA nach Moskau geschickt, um herauszufinden, was die Leute hier so denken, bekäme ich eine schwere Depression. In Moskau lebt jeder für sich und denkt auf seine Weise. Alle haben ein großes Chaos im Kopf, aber jeder hat sein eigenes, und um sich in ihrem Chaos zurechtzufinden, sind die Leute hier entweder innigst miteinander befreundet, oder sie hauen sich gegenseitig die Köpfe ein. Mehr noch, im Laufe eines Tages können die Leute mehrmals ihre Meinung ändern. Morgens kann der Moskauer als Freund der Demokratie und "Spartak"-Fan aufwachen, tagsüber kann er nationalistische Gefühle entwickeln, will auf einmal die Sowjetunion zurückhaben und findet Europa zum Kotzen, und am Abend ist er von "Spartak" enttäuscht.
     Alles hängt in Moskau von Koinzidenzen ab. Da läuft eine hübsche junge Frau durchs frühlingshafte Moskau und trägt einen so kurzen Rock, dass man sie auf der Metro-Rolltreppe besser nicht von unten her anguckt, und auf einmal trifft ihr Blick auf den eines vollbärtigen Priesters. Der sieht sie nicht einmal tadelnd an, eher entrückt, nicht wie ein Mann. Und plötzlich kehrt sich in ihrem Kopf das Unterste zuoberst, sie vergisst alles, rennt in die nächste Zwiebelturmkirche, wickelt sich einen staubigen Lappen um die miniberockten Hüften, steht sich beim Gottesdienst zwei Stunden die Beine in den Bauch und verlässt danach in Tränen aufgelöst und voller Ergriffenheit die Kirche. Oder dieselbe junge Frau im Minirock fährt die Rolltreppe hoch, und hinter ihr steht ein tschetschenischer Bergbewohner, guckt ihr hinterher, sieht den schmalen Streifen ihres roten Stringtangas und schnalzt mit der Zunge, und plötzlich wird sie zur Fremdenfeindin, sie kommt aus der Metrostation, geht auf die Straße und skandiert mit allen anderen im Chor: "Moskau den Moskauern!"
     Was wohl aus der Schönen geworden wäre, hätte ihr der Kaukasier, anstatt mit der Zunge zu schnalzen, einen großen Blumenstrauß geschenkt? Wer weiß? Nun, und wenn dieser Blumenfreund aus dem Kaukasus ihr zuerst Blumen geschenkt hätte und danach, sagen wir, in einer dunklen Gasse über sie hergefallen wäre, ihren roten Stringtanga zerrissen hätte, der ihn auf traurige Gedanken gebracht hat, dann wäre sie echt in die Bredouille geraten. An wen sich jetzt wenden? Doch nicht an die Polizei? Denn da wird man über sie, ihren Minirock und ihren zerfetzten roten Stringtanga ausgiebig Witze reißen, und man könnte sie sogar in Wort und Tat beleidigen. Die junge Frau regt sich auf, beginnt die aufgedunsenen, selbstzufriedenen Gesichter der Gesetzeshüter zu hassen, und am folgenden Tag geht sie auf den Triumph-Platz, wo sie auf einer Demonstration der "Unzufriedenen" die Führer unserer systemfremden Opposition kennenlernt, die, falls sie nicht verhaftet werden, sie nach Hause einladen und ihr die Augen für das "blutige Regime" öffnen, während sie ihr das Knie tätscheln. Oder aber die Polizei nimmt alle fest, sie auch, schleift sie an Händen und Füßen in einen Bus, da wird sie gefilzt und schließlich in einen "Affenkäfig" gesperrt.
     Derart machtbesessene Polizisten habe ich nirgendwo sonst gesehen, außer vielleicht in Afrika. Und da steht in den Polizistengesichtern geschrieben, dass ihnen alles erlaubt ist und sie alles Mögliche durchprobiert haben, was sie nur konnten, nachdem sie wie Adam vom Apfel der Erkenntnis abgebissen und ihn auf den Asphalt ausgespuckt hatten, da er sich als ungenießbar erwies.
     Im "Affenkäfig" geben sie ihr den Rest, und danach kriegt sie psychische Probleme, hat Angst, mit dem Aufzug zu fahren oder Fisch zu essen, denn an Fisch kann man sich schrecklich vergiften.
     Oder aber sie hat intimen Kontakt zu den Polizisten und auch zu den Führern unserer systemfremden Opposition und verliert danach schlagartig jegliche Illusionen, was Männer betrifft, und dann geht sie mit ihrer Freundin Tanjka oder Swetka oder mit beiden zusammen ins Bett. Mädchen flattern und vögeln fleißig … Auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten, die der Laokoon-Skulptur ähneln, betritt lautlos Tanjkas Vater, ein Major, die Wohnung. Mit einer Einkaufstasche voller Lebensmittel. Der Offizier ist verwirrt. Tanjka blinzelt ihm vom Sofa aus zu.
     "Was willst du hier?"
     "Was zu essen bringen."
     "Geh spazieren! Komm heute Abend wieder!"
     "Ich setz mich ein bisschen in die Küche. Trinke einen Tee."
     "Was hab ich dir gesagt: Hau ab!"
     Die nackten Mädels wiehern.
     "Soll ich die Tasche dalassen?", fragt der Major verlegen.
     "Hau ab!", brüllt Tanjka.

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