Vorgeblättert

Leseprobe zu David Shields: Reality Hunger. Teil 1

14.02.2011.
j Hip-Hop

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Das Genie borgt auf noble Weise.

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Gute Dichter borgen; große Dichter klauen.

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Kunst ist Diebstahl.

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Warum stagniert der Hip-Hop gerade, warum ist der Rock’n’Roll tot, warum liegt der konventionelle Roman danieder? Weil sie die Kultur um sich herum ignorieren, wo sich neue, aufregendere Formen des Erzählens, der Darstellung und der Repräsentation finden (oder wiederentdecken) lassen.

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Der amerikanische Rhythm & Blues war in den 1950er Jahren in Jamaika enorm populär, aber keiner der dortigen Musiker konnte ihn wirklich authentisch spielen. Die Musikkultur basierte auf DJs, die bei öffentlichen Tanzveranstaltungen Platten auflegten; für diese Veranstaltungen wurden riesige Verstärkeranlagen aufgebaut. Die DJs wirkten dabei in zunehmendem Maße geschmacksbildend und waren bekannt für die ganz spezifische Art von Platten, die sie jeweils auflegten. Mit der Zeit wurde das Plattenauflegen auch zu einer Möglichkeit, so etwas wie einen persönlichen Stil und künstlerischen Ausdruck auszubilden. Die DJs benutzten nach wie vor nur einen Plattenspieler, aber sie entwickelten spezielle Techniken, um die Platten in Sekundenschnelle zu wechseln und die Musik damit bruchlos weiterlaufen zu lassen. Die jamaikanische Musikindustrie begann ihre eigenen Platten zu produzieren, und auch sie wurden von diesen DJs genutzt, die nun speziell für ihre eigenen Tanzveranstaltungen Aufnahmen produzierten und darauf achteten, dass kein anderer diese Platte hatte. Selbst als jamaikanische Musiker in der Lage waren, diese öffentlichen Tänze selbst zu spielen, wollte das Publikum lieber die Bearbeitung und Kombination bereits vorher aufgenommenen Materials.

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Das Sampling, die Technik, einen Teil einer bereits bestehenden Tonaufnahme zu nehmen und ihn in eine «Originalkomposition» einzubauen, stellt eine neue Möglichkeit dar, etwas zu tun, was man schon seit langem tut: mit vorgefundenen Objekten kreativ zu sein. Die Rotation wird fett. Die Beschränkungen werden dünn. Der Mix befreit sich aus den alten Bindungen. Aus alten bilden sich neue Kontexte. Das Skript wird umgeschmissen.

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In den 1960er Jahren entwickelte sich der Dub-Reggae - bei dem Künstler neue Teile über bereits bestehende Musik legten und oftmals neuen Gesang und ausgeprägte Halleffekte hinzufügten - direkt aus der Bewegung der Soundsystem-DJs, die stets darauf aus war, technische Neuerungen in die eigene Arbeit einzubeziehen. Ein Jahrzehnt später begannen King Tubby und Lee «Scratch» Perry damit, Musikaufnahmen zu dekonstruieren. Mit Hilfe ausgesprochen primitiver, prädigitaler Hardware schufen sie, was sie als «versions» bezeichneten. 1962 wurde Jamaika von Großbritannien die vollständige Unabhängigkeit gewährt, und immer mehr Jamaikaner gingen in die Vereinigten Staaten. Es war nur natürlich, dass diese Einwanderer sich im Umfeld der bereits bestehenden «black communities» in Amerika bewegten, insbesondere in New York. Die Neuankömmlinge aus Jamaika brachten die Idee des Soundsystem- DJs mit; durch die afroamerikanische Perspektive gefiltert, nahm die Musik eine andere Richtung, als sie das in Jamaika getan hatte. In vielerlei Hinsicht entstand der Hip-Hop aus der jamaikanischen Idee, das Abspielen von Platten in eine Kunstform zu verwandeln.

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Vom ersten Augenblick an, als ich King Tubby begegnete und sah, wie er arbeitete, wusste ich, dass das ein Mann mit ungeheurem Potenzial war. Er konnte aus den fehlerhaften Aufnahmen, die ihm die Leute brachten, Musik machen, so wie jeder «Ausschuss» für King Tubby Stil ist. Er warf dann die Teile raus, wo ein Mann falsch sang, und fügte stattdessen ein anderes Instrument ein oder er schmiss alles raus zugunsten eines reinen Drum-and-Bass-Rhythmus; dann erst fügte er wieder Gesang hinzu. Man würde niemals merken, dass da etwas falsch gewesen war, denn er bastelte an den Aufnahmen herum, als hätte er seit jeher nichts lieber gemacht. Und er machte das auch noch alles live. Er hat sie nicht Stück für Stück aufgebaut, er hat einfach die Aufnahme laufen lassen und sein Ding gemacht. Wenn man ihm zusieht, ist das, als würde man einem Dirigenten oder Maestro bei der Arbeit zuschauen. Und natürlich war es jedes Mal anders. Er will die Menschen immer überraschen - ich glaube, er will sich mitunter sogar selbst überraschen -, und wenn er die gleiche Melodie zwölf Mal abmischt, hat man zwölf unterschiedliche Versionen.

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Anfang der 1970er Jahre wurden viele Technologien allgemein zugänglich, unter anderem tragbare PA-Anlagen, Mehrkanalmischpulte und der Plattenspieler mit Magnetantrieb, wie er von der Firma Technics hergestellt wurde.

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Man braucht für das Zeug keine Band. Man klaut die Beats von jemandem anderen, und dann mixt und scratcht man - nur mit dem Plattenteller und dem eigenen Mund - den ganzen Scheiß auf das Level, auf dem sich der eigene Kopf befindet.

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Lil Wayne, die Nine Inch Nails oder Radiohead sind höchst populäre Künstler, die jüngst das etablierte Musikbusiness umgingen und ihrem Publikum die Musik via Internet umsonst zur Verfügung stellten. Der Vermittler wurde ausgeschaltet; die Zuhörer können einen Blick hinter die Kulissen auf ein work in progress erhaschen. Lil Wayne kann veröffentlichen, was immer er will, wann immer er will, und der Fan bekommt Zugang zu viel mehr Material als bei der üblichen Veröffentlichung eines Albums. In allen drei genannten Fällen zogen die Verkäufe an, nachdem die Künstler das neue Album zuerst teilweise oder auch vollständig verschenkt hatten. Ihre Fans belohnten sie dafür, dass sie diese intime, direkte Verbindung zu ihnen hergestellt hatten.

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Im Jahr 2008 verkaufte Damien Hirst, der reichste bildende Künstler der Welt, sein Werk «direkt» an Interessenten, und zwar über eine Auktion bei Sotheby’s und nicht mittels der traditionellen Methode über Galerien; es war der größte derartige Verkauf, den es je gab: 287 Kunstwerke, 200 Millionen Dollar Erlös.

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Was ist Aneignungskunst? Aneignungskunst ist, wenn man klaut, das Klauen aber zum Prinzip macht, denn indem man den Kontext verändert, verändert man auch die Konnotation.

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Wirklichkeitsbasierte Kunst kidnappt ihr Material und entschuldigt sich nicht dafür.

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Meine Vorliebe fürs Zitieren, die ich mir stets bewahrt habe - warum sollte ich mir deswegen Vorwürfe machen? Im Leben zitieren die Menschen, was ihnen gefällt. Deshalb haben wir in unserer Arbeit ebenfalls das Recht, zu zitieren, was uns gefällt.

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Elaine Sturtevant, amerikanische Künstlerin, geboren 1930 in Lakewood, Ohio, ist bekannt für Arbeiten, die vollständig aus Kopien von Werken anderer Künstler bestehen - Beuys, Warhol, Stella, Gonzalez-Torres usw. Ihre Entscheidung, einen Künstler zu kopieren, fi el dabei jeweils lange, bevor der jeweilige Künstler breite Anerkennung fand. Beinahe alle Künstler, die sie kopiert hat, gelten heute als bedeutende Künstler.

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Auf der Suche nach Songs, die sich sampeln, und nach Melodien, die sich verwenden ließen − ich durchwühlte den kulturellen Müllhaufen auf der Suche nach etwas, das mir zusagte −, ging ich die Billboard-Charts in der Kategorie Rhythm & Blues sowie die Top- 40-Charts von Ende der 1940er Jahre bis heute durch. Mit Hilfe der Suchfunktion von iTunes konnte ich von fast jedem Song einen zwanzig Sekunden langen Ausschnitt hören. Es war faszinierend zu erleben, wie sich die Popmusik Jahr für Jahr wandelte und veränderte, insbesondere in den R&B-Charts (die Black Music verleibte sich neue Songs und Technologien stets viel schneller ein). Es war, als würde man einen Stop-Animation-Film anschauen und sehen, wie dieses Objekt (der zentrale Stil der jeweiligen Zeit) wie eine Pflanze wächst und schrumpft, aufsteigt und fällt, anschwillt und in sich zusammensackt: wie der Swing schrumpft und sich aufspaltet in Gospel und Rhythm & Blues, wie der R & B sich zum Soul verlangsamt, wie sich der Soul zum Funk verhärtet, der Funk sich zu Disco auswächst, und wie Disco unter dem eigenen Glanz zusammenbricht und zum Hip-Hop wird, versteckt im Untergrund. Erst nachdem ich die gesamten Charts durchgegangen war und meine Notizen noch einmal durchgesehen hatte, merkte ich, dass es bei den Songs, die ich zum Sampeln ausgesucht hatte, so etwas wie einen Trend gab. Die Zahl der ausgewählten Songs blieb in den 1950er und 1960er Jahren relativ konstant, doch Ende der 1970er Jahre nahm sie drastisch ab. Aus den 1980er Jahren nahm ich nur ein paar wenige Songs, aus den 1990er Jahren überhaupt keinen. Warum sagen mir Songs seit Ende der 1970er Jahre offenbar recht wenig? Obwohl die Aufnahmetechnik jedes Jahr immer besser wurde, hat die Musik im Zuge dieser Entwicklung etwas verloren; sie wurde zu perfekt, zu komplett. Deshalb haben sich so viele Künstler dafür entschieden, Samples und andere bereits bestehende Quellen in verschiedenen Formen zu verwenden: In diesem technologischen Innovationsrausch ist uns unterwegs etwas abhanden gekommen, und wir gehen zurück, um es wiederzufinden, aber wir wissen nicht, was es ist. Wenn wir gentechnisch veränderte, orange leuchtende Bananen essen, kriegen wir nicht, was wir brauchen, und wir wissen, dass etwas fehlt. Wir klammern uns an etwas, das «wirklich» oder organisch oder authentisch ist. Wir wollen rauere Klänge, grobere Bilder, unbearbeitetes Filmmaterial, das nicht durch Hightech und die bestehenden Möglichkeiten zensiert wurde.

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Rapper bekamen den Titel MC (Master of Ceremonies), weil sie als Moderatoren öffentlicher Tanzveranstaltungen begannen, und als sich die Form weiterentwickelte, nahmen sie sich immer mehr Freiheiten in dem, was sie zwischen und während den Platten, die sie auflegten, sagten. Das «MCing» wurde zu einem Kanal künstlerischen Ausdrucks − die Stimme des Moderators oder die Stimme des Cutters, die mit dem gewählten Programm verschmilzt. Das Kunstmaterial enthält heute größere kulturelle Sedimentklumpen. Alles in der Geschichte der Medien lässt sich verwenden: Künstler malen Bilder auf Landkarten, platzieren Fotos inmitten von Comiclandschaften, Kanye West klebt seinen eigenen Song «Gold Digger» mit «I Got A Woman» von Ray Charles zusammen. Es ist aufregend, Dinge zu entstellen, inmitten derer wir leben, ganz gleich ob es sich dabei um eine Aufnahme von Otis Redding oder um eine Backsteinmauer handelt.

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Die Geburt des Jazz: Musiker verwendeten das, was verfügbar war, auf neue Weise − Instrumente von Marschkapellen, die vom spanisch- amerikanischen Krieg übrig geblieben waren. Der Jazz machte sich zudem verschiedene Musikformen zunutze, vom Ragtime bis zum Blues und der klassischen Musik des Impressionismus. Später legte der Jazz improvisierte Phrasen über bekannte Showmelodien. Oder man denke an eine Coverversion: Eine bereits bestehende Komposition wird von einem anderen Künstler bearbeitet. Die Originalkomposition besteht weiter, und die neue tanzt gleichsam auf der alten, wie ein Redakteur oder Bearbeiter, der die Randspalten mit seinen Notizen füllt. Der Hip-Hop und Dancefloor-DJs nehmen Stückchen von verschiedenen Songs, die innerhalb der Kultur bereits existieren, und verbinden sie entsprechend ihren eigenen Bedürfnissen und Stimmungen miteinander. Volksüberlieferung in Aktion: neue Verwendung für Dinge fi nden, indem man die Teile, die einen ansprechen, nimmt und den Rest verwirft.

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Facebook und MySpace sind vulgäre Maschinen zur Produktion persönlicher Essays. Auf jedermanns Facebook-Seite findet sich ein Fragebogen, auf dem man gebeten wird, persönliche Informationen anzugeben − alles vom Alter bis zur sexuellen Orientierung. Der Nutzer von MySpace kann einen Soundtrack für seine Seite wählen, Bilder von sich selbst einstellen, Downloads bereitstellen und die grafische Gestaltung ändern, wie und so oft er will. Viele Leute halten ihre Seiten dauernd auf dem aktuellsten Stand und liefern über die Blog-Funktion fortlaufende Kommentare zu ihrem Leben. Millionen von Kleinanzeigen für das eigene Ich. Über meine jüngeren Brüder erfahre ich über ihre Facebook-Seiten mehr, als das je im tatsächlichen Gespräch der Fall war. Sie verfassen detaillierte Schilderungen ihrer jeweiligen Persönlichkeit und nehmen alles sehr ernst (wie das viele tun) in ihrem aufrichtigen Bestreben, mit anderen zu kommunizieren, aber auch das «Bild», das sie nach außen abgeben, zu kontrollieren. Jede Seite ist eine zurechtgebogene Version der Wirklichkeit − zu wenig ausgefeilt, um Kunst zu sein, aber zu reflektiert, um bloße Reportage zu sein. In dieser neuen Landschaft bekommt jeder einen Kanal. Es ist offenbar letztlich das Schicksal jedes Mediums, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner «heruntergeschliff en» zu werden, der zugleich demokratisch, befreiend, erheiternd, nichtssagend, ohrenbetäubend und verwirrend ist. Vom Nutzer generierter Inhalt ist die neue Volkskunst. Wenn eine Achtzehnjährige in Delaware nicht in einem Hollywoodstreifen mitspielen kann, macht sie eben Bilder von sich selbst, auf denen sie aussieht, wie sie sich einen Hollywoodstar vorstellt, und stellt sie auf ihre MySpace-Seite. Wenn die Mitglieder einer Tanzcombo in Missoula es nie auf MTV schaff en, dann leihen sie sich den Camcorder von ihrem Boss, drehen ihr eigenes Video und stellen es auf YouTube. Wirklichkeitsbasierte Kunst aus schierer Notwendigkeit. Ich-Medien. Blogs, Wikis, soziale Netzwerke, Podcasts, Vlogs, Internetforen, E-Mail-Gruppen, iMovie, Twitter, Flickr: Mehr als ein Drittel der amerikanischen Internetnutzer haben Originalinhalte kreiert und sie ins Netz gestellt. Und das Ganze wird jeden Tag ausgeklügelter: An die Stelle der Ketten-E-Mail tritt der Blog, an die Stelle des Blog der Vlog, der seinerseits durch die Webisode oder Webserie ersetzt wird. Die höchst populären Videospiele Guitar Hero und Rock Band machen nicht nur aus einst statischen Inhalten eine interaktive Erfahrung, die neuen Versionen haben auch noch zusätzliche Funktionen, mit denen die Spieler aus den Bausteinen, die das Spiel liefert, tatsächlich neue Musik kreieren können. YouPorn, eine kostenlose Seite ähnlich wie YouTube, auf der die Nutzer ihre selbstgedrehten Pornos präsentieren können, ist zu einer der populärsten Pornoseiten geworden. Ein weiteres Beispiel dafür, wie wirklichkeitsbasierte Kunst auf Graswurzelebene, unter Nichtexperten an Boden gewinnt, ist Karaoke. Karaoke ist eine generalisierte Version des live gespielten Hip-Hop. Man braucht nur wenig Fachwissen oder Equipment, damit die Leute auftreten können, und ganz gleich wie schlecht oder schlecht beraten der Karaoke-Sänger ist, er oder sie benutzt auf jeden Fall bereits bestehendes Material zum Zwecke des Selbstausdrucks, und das Publikum akzeptiert die Tatsache, dass es keine Band gibt und die Musik vom Band kommt. Das Lied existiert bereits in der Kultur und ist allen Beteiligten bekannt. Ebenfalls bekannt ist, dass die Musik eine Neueinspielung und eine bastardisierte Version des Originals ist. Jeder weiß, dass hier nichts Originales abläuft, aber irgendwie wird das Ganze in seiner schwindelerregenden Amateurhaftigkeit zu etwas Originalem. Was beim Karaoke passiert, ist eine Art Einwegvariation von etwas, das innerhalb der Kultur ikonisch ist, etwa eines großen 1980er-Jahre-Hits wie «Billie Jean». Es handelt sich um wirklichkeitsbasierte Kunst fast ohne Kunst. Der einzige Selbstausdruck ist die Einzigartigkeit der spezifischen Interpretation, die der Karaoke-Sänger vorträgt. Und innerhalb des Raums, den der Originalhit bietet, ist alles erlaubt: Kreischen, Rufen, Abwandlung des Texts, Freunden alles Gute zum Geburtstag wünschen − was auch immer der Sänger in den drei Minuten im Rampenlicht machen möchte. Für manche ist es nur ein Gag, aber andere nehmen die Sache durchaus ernst. Zwischen Publikum und Sänger besteht ein Gemeinschaftsgefühl, denn sie sind austauschbar.

Teil 2