Vorgeblättert

Charles Simmons: Das Venus-Spiel, Teil 1

Der Test

Mein Arzt, George Winkle, sagte gern, er behandele den Menschen in seiner Ganzheit. Am Ende einer Konsultation forderte er mich gewöhnlich auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und dann fragte er beispielsweise, wie es um meine Arbeit bestellt sei, wie es meinen Eltern gehe, ob ich genug Bewegung bekomme. Nach sechs Jahren wußte er so ziemlich alles über mich. Dann standen wir gewöhnlich auf, er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: "Ben, Sie sind gesund." Ich war achtundzwanzig, und ich wußte, daß ich gesund war, doch es war eine Art Garantie.
Er fragte mich auch nach meinem Liebesleben, und, wenn es etwas Neues gab, erzählte ich es ihm. Wenn es nichts Neues gab, fragte er, ob ich Soundso noch treffen würde, wobei er den Namen einer alten Freundin erwähnte. Und obwohl er von Soundso schon gehört hatte, erzählte ich ihm alles noch mal. Von Amy habe ich ihm dreimal erzählt.
Amy war eine hübsche junge Frau aus meinem Büro. Sie lebte mit jemandem zusammen, und so gingen wir normalerweise über Mittag in meine Wohnung. Ich holte unterwegs Sandwiches, sie brachte den Wein mit. Wir machten immer dasselbe. Es war ein Ritual. Winkle hatte besonderes Vergnügen bei Akt Numero drei, wenn wir es von hinten machten. Ich benutzte das Wort "hinten", er sagte immer "Achterkatz!", und ich fügte hinzu: "Es war, als würde man mit einem Cello schlafen", wobei ich auf die Perspektive anspielte. Das regte ihn an. Einmal sagte ich: "Nein, wie mit einer Viola d'amore." Den Witz kapierte er nicht. Er war gelegentlich etwas schwer von Begriff.
Vor kurzem bestellte er mich nun zu sich, obwohl noch gar nicht Zeit für einen Check-up war, forderte mich auf, Platz zu nehmen, und sagte: "Ben, ich bin an einem Test beteiligt."
Ich wartete darauf, daß er fortfuhr. Statt dessen nickte er, als er wollte er seine eigenen Worte bekräftigen. Er blickte mir in die Augen und nickte noch mal.
"Ich möchte Ihnen davon erzählen, Ben."
Ich wartete.
"Doch da gibt's ein Problem."
Ich sagte schließlich: "Wo liegt das Problem, Doktor?"
"Das Problem ist, daß Sie Stillschweigen bewahren müssen."
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
"Vielleicht wollen Sie unter diesen Umständen nichts davon wissen."
"Doktor, wenn Sie mir davon erzählen wollen, dann schießen Sie los."
"Absolut vertraulich", sagte er.
"Einverstanden."
"Weil es da eine kleine Frage der ... Rechtmäßigkeit gibt."
"Warum wollen Sie mir dann überhaupt davon erzählen ?"
"Weil ich möchte, daß Sie daran teilnehmen."
"An dem Test ?"
"Ja, an dem Test."
"In Ordnung. Schießen Sie los."
"Das Medikament nennt sich Venus", sagte er und begann umständlich zu erklären, worum es ging. Offenbar hatte eine große pharmazeutische Firma Beträchtliches an Zeit und Geld in ein Mittel für postoperative Adhäsion investiert. Ich sagte, ich wisse nicht, was das sei. "Nicht wichtig. Wichtig ist, daß das Mittel nicht funktioniert hat. Doch einer der Chemiker, ein Mann namens Ivo, hat beschlossen, auf eigene Faust weiter daran zu arbeiten. Er hat in dieser und jener Richtung herumexperimentiert. Es funktionierte immer noch nicht. Dann versuchte er Kombinationen mit anderen Mitteln, und wenn auch nichts in Richtung Adhäsion funktionierte, entwickelte es bei einer Kombination eine starke...sexuelle Wirkung." Er beugte sich über den Schreibtisch. "Ich spreche nicht von Viagra. Ich spreche von Niagara."
"Inwiefern Niagara?"
"Eine Milliarde Dollar, insofern."
"Wo liegt die rechtliche Problematik?"
"Na ja," er blickte von links nach rechts, "wissen Sie, man muß von der FDA, der Food and Drug Administration, die Genehmigung einholen, wenn man ein Mittel erproben will, und man muß denen ganz genau sagen, wozu es gut sein soll. Wir wissen nicht ganz genau, wozu es gut ist, außer daß es ungemein kreativ ist - so nennt Ivo das."
"Sie wollen auch wissen, ob es sicher ist", sagte ich.
"Ach, sicher ist es schon. Das Originalmittel hat sich als sicher erwiesen, und das Mittel, mit dem es kombiniert wurde, hat es immer schon gegeben. Das zweite Mittel ist Ivos Geheimnis. Es ist sogar so, daß die Ärzte, die die Tests durchführen, es nicht selbst verabreichen dürfen. Er taucht persönlich auf und schaut zu, wie die Probanden - er nennt sie Spieler - es schlucken."
"Wie viele Spieler gibt es ?"
"Es gibt sechs Ärzte. Wir haben jeder drei bis fünf Spieler laufen. Ich weiß nicht, wer die anderen Ärzte sind, und die Spieler wissen nicht, wer die anderen Ärzte sind."
"Wieso das denn?"
"Er will vermeiden, daß Suggestion die Ergebnisse beeinflußt."
"Doktor, wenn ich das mal sagen darf, diese Sache, das sieht Ihnen aber gar nicht ähnlich."
"Deshalb ist es ja so aufregend, Ben." Winkle war ein großer Mann mit einem großen Gesicht, das rot wurde, wenn er aufgeregt war. "Da ist noch etwas. Ivo hat seine eigene Firma gegründet. Wenn die Tests vorbei sind, wird sie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, und jeder Spieler bekommt ein Viertelprozent der Aktien, die Ärzte ein halbes Prozent. Das könnte eine Menge Geld sein, Ben, eine Menge Geld."
"Wie viele Spieler testen Sie?"
"Mit Ihnen drei."
"Was passiert mit den anderen beiden?"
Er schüttelte den Kopf. "Ich kann Ihnen nur sagen, daß die Ergebnisse sehr, sehr interessant sind."
"Aber geheim."
"Ich fürchte, ja."
"Wieso ich, Doktor ?"
"Weil Sie ... aktiv sind. Wir wollen jemand ... Aktives."
"Bin ich aktiver als die anderen?"
"Das will ich meinen! Sie sind mein aktivster Patient."
"Können Sie mir nicht wenigstens eine kleine Andeutung machen, was es bewirkt? Wie heißt es?"
"Das Mittel heißt ebenfalls Venus. Ben, ich möchte Ihnen nicht sagen, was es bewirkt. Ich möchte, daß Sie mir sagen, was es bewirkt. Also, wie steht's?"
" Und wenn mir das Ding abfällt ...?"
"Machen Sie's?"
"Teufel auch!"
"Das ist die richtige Einstellung. In Ordnung, morgen, um neun, hier."
"Ist es eine Pille, oder was?"
"Eine Pille. Die beiden Komponenten sind in einer Pille gemischt."
"Welche Farbe hat sie?"
"Rosa."
"In Ordnung, neun Uhr morgens."
Wir standen auf. Er legte mir die Hand auf die Schulter. "Ben, Sie werden es nicht bereuen. Und Sie werden reich sein."
Ivo erwies sich als ein kleiner, dunkelhaariger Mann von etwa fünfzig Jahren mit einer verschrumpelten Hand und einem sardonischen Gesichtsausdruck. Das war mehr als bloßer Schein. Als Winkle uns einander vorstellte, streckte Ivo die verschrumpelte Hand aus, und als ich sie einen Moment lang zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, grinste er. Wir setzten uns. Er trug ein flottes Kamelhaarjackett, ein am Kragen offenes, großkariertes Hemd, ein locker drapiertes Foulardtuch und eine weiße Flanellhose. Er schlug ein Bein über das andere. Keine Socken an den Füßen in den mokassinartigen Schuhen. Dafür, daß er so klein war, hatte er eine mächtige Stimme. "So so, Ben, Sie kommen also an Bord von unserem kleinen Love Boat. Glückwunsch. Sie werden Ihren Spaß haben. Und Sie werden einen Beitrag zum Glück der Menschheit leisten. Der gute Doktor sagt mir, daß er Sie auf die nötige Vertraulichkeit hingewiesen hat. Deren Bedeutung ist gar nicht hoch genug zu veranschlagen." Während er sprach, wippte er kokett mit einem Bein. Er war eine komische Figur, nur daß Winkles ernstes, ja ehrerbietiges Gebaren ihn geradezu gespenstisch erscheinen ließ.

Teil 2