Mord und Ratschlag

Begabte Vatertocher

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
05.07.2002. Die Krimikolumne. Heute: Astrid Paprotta weiß nicht nur, wie Psychopathen morden, sondern auch wie sie denken.
Astrid Paprottas "Sterntaucher" führt den Leser auf einen Friedhof in Frankfurt am Main. Dort liegt, mit unnötig vielen Messerstichen "übertötet" und liebevoll zugedeckt, der achtzehnjährige Kleinkriminelle Robin Kammer. Daneben steht sein Bruder Dorian, ein Streifenpolizist. Gegen ihn muss Kriminalhauptkommissarin Ina Henkel nun ermitteln. Katja Kammer, die Mutter der Brüder, scheint verschwunden. Sie war eine berühmte Sängerin, irgendwo zwischen Jazz und Rock. Weil sie wild, zärtlich und gefährlich gelebt, sich mit keiner beruhigenden Ödnis abgefunden hat, ist sie sozial furchtbar abgestürzt und musste ihre Söhne in eine Pflegefamilie geben.

Alle drei Kammers waren in ein grässliches Milieu geraten: unter Sadisten, die wollen, dass ihr Opfer nicht freiwillig mitspielt, sondern ernsthaft verletzt wird und Todesangst empfindet. Solche Folterpartys sind geheim und teuer, ebenso wie die Videos, die dabei gedreht werden. Wer hingeht, macht sich erpressbar. Manche Teilnehmer schämen sich, andere prahlen, dort würden doch nur Asoziale bestraft. Dorian Kammer, durch den Verlust seiner Mutter schon vorher traumatisiert, ist noch ein halbes Kind, als er in einer abgelegenen Hütte im Riederwald schwer misshandelt wird. Später wird er Streifenpolizist, um sich am "Pack" zu rächen, aber das kann er schon nicht mehr richtig steuern. Er wird verrückt.

Psychische Krankheiten sind literarisch schwer zu fassen. Krimiautoren, die beschreiben wollen, wie Psychotiker schubweise von Wahnvorstellungen geleitet werden, verlaufen sich oft in lächerlicher Ahnungslosigkeit. Die studierte Psychologin Paprotta dagegen hat in der Psychiatrie gearbeitet und gelernt, woran Seelen zerbrechen und was sie vielleicht heilt. Ihr nimmt man ab, dass Dorian Kammer als junger Erwachsener seine Mutter nicht mehr erkennt, aber unbewusst ihre Nähe sucht, und dass er nach wenigen Tagen nicht mehr weiß, wie sein Bruder gestorben ist, obwohl er dabei war. Der tote Robin setzt sich in Dorians Körper fest, tut ihm weh und spricht. Schon in "Mimikry" (1999), ihrem ersten Thriller, hatte Paprotta ein stimmiges Bild einer Psychopathin gezeichnet. Damals hatte Kommissarin Henkel Mühe, die berufliche Distanz zu wahren, scherte aus ihrem Polizeiteam aus und brachte sich in große Gefahr.

Diesmal geht es ihr so ähnlich. Henkel entwickelt zu Katja Kammer, noch bevor sie sie aufgespürt hat, ein besonderes Verhältnis. Das hat mit dem Sterntaucher zu tun, dem Vogel, der dem Roman den Titel gibt. Die Sängerin war, bevor sie ins Elend geriet, eine ungewöhnlich einfühlsame, respektvolle Mutter. Ihren kleinen Söhnen hat sie gerne von Vögeln erzählt, von der Rötelschwalbe, dem Fitislaubsänger, dem Kanariengirlitz und der Trottellumme. Über den Sterntaucher hat sie sich ausgedacht, er hole die Sterne nicht nur "von oben", sondern finde sie "überall, am Himmel und auf der Erde und im Wasser". Wie ein solcher Sterntaucher, immer mutig auf der Suche nach dem Glück, kommt Katja Kammer auch der recherchierenden Ina Henkel vor; selbst fühlt die Dreißigjährige sich zu routiniert, verbeamtet über den Beruf hinaus. Sie ist gern mit ihrem Freund Tom zusammen, schläft oft mit ihm, stört sich aber an seiner Zufriedenheit. Er will einfach nur angenehm leben und findet es beruhigend, wenn "nichts passiert". Man darf sich den Roman nicht als reines Schmerzensstück vorstellen: Die Passagen, die von Krankheit, Leid und Gewalt handeln, sind sorgsam austariert mit Szenen gelingenden Lebens.

Handwerklich überzeugt Paprotta, deren Geburtsjahr vom Verlag übrigens nicht zu erfahren ist. Überflüssiges hat sie weggelassen, und ihr gelingen lustige Dialoge, etwa zwischen Ina und ihrem grobianischen Kollegen Alexander Kissel. Erheiternd auch, wie die Vatertochter - welche begabte Frau wäre keine? - sich gegenüber Tom über ihre Mutter ereifert, die die Geschmacklosigkeit besessen hat, sich einen neuen Lebensgefährten zuzulegen, obwohl sie doch erst seit sechs Jahren Witwe ist. Auch die Kameraposition gefällt: Paprotta nimmt abwechselnd die Perspektive von Ina Henkel und Dorian Kammer ein, so weiß der Leser in einigen entscheidenden Momenten mehr als die Polizistin. Das ist quälend spannend.

Zur Ökonomie der erzählerischen Mittel gehört, dass nicht alle Rätsel gelöst werden. Letztlich nicht einmal das zentrale. Katja Kammer, von Ina endlich erkannt, behauptet, sie habe Robin getötet, weil er vor Bosheit nicht mehr er selbst gewesen sei. Einiges spricht aber dafür, dass ein Geisteskranker das Messer geführt hat, und das ist Katja eindeutig nicht. Deckt sie den wahren Täter, über seinen Tod hinaus? Das wäre Liebe und ein grauenhafter, versöhnlicher Schluss.


Astrid Paprotta: "Sterntaucher". Roman, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002, 406 S., 19,90 Euro. (Zur)

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