Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Abe Opincar: Am Abend, als ich meine Frau verließ, briet ich ein Huhn. Teil 1

11.09.2006.
Erstes Kapitel

Am Abend, als ich meine Frau verließ, briet ich ein Huhn. Es war ein Huhn mit strammen Schenkeln, das ich mit Olivenöl und Salz einrieb und in das auf 250 Grad vorgeheizte Backrohr schob, wo ich es etwa eine Stunde lang brutzeln ließ. Der butterige Geruch des Huhns erfüllte die Küche. Die Suppe aus Hals, Innereien und Hühnerfüßen köchelte auf dem Herd. Zwei Gäste, meine Frau, mein Stiefsohn und dessen Frau schwatzten und lachten im Eßzimmer und beklagten sich lautstark, sie hätten Hunger. Unsere Sabbatkerzen leuchteten auf ihren silbernen Ständern. Die Challah wartete unter ihrem bestickten Samttuch auf den Segen.
     Jeden Freitagabend saßen wir um den großen Eichen tisch, und jeden Freitagabend segnete ich meinen Stiefsohn und seine Frau, sang für meine Frau Aishes Chayil ("Wer fände wohl eine Frau von Wert? Sie ist weit kostbarer als Perlen ..."), segnete Wein und Brot, servierte Hühnersuppe, tranchierte saftige Brathühner und sprach das Dankgebet nach Tisch ("Gelobt seist du, unser Gott, König des Universums, der die ganze Welt nährt, in seiner Güte, voller Gnade, voller Erbarmen ..."). Lange Zeit dachte ich, mein Leben sei erfüllt und glücklich. Eine Zeitlang war es das auch.
     "Er hat auf meiner Hochzeitsreise meine Zeit vollständig für sich in Beschlag genommen." Das hatte meine Frau zu Star und Bob, unseren Ehe beratern, gesagt, als Erklärung für ihre damalige und heutige Unzufriedenheit. Ich saß da und wunderte mich über das Possessivpronomen, das meine Frau verwendet hatte: "meine" Hochzeitsreise. Aber was wußte ich schon? Nicht sehr viel. Nur eins wußte ich bestimmt: daß ich einem Eheberater-Team namens Star und Bob 185 Dollar die Stunde dafür bezahlte, daß sie sich anhörten, wie meine Frau sich beklagte, ich hätte auf ihrer Hochzeitsreise ständig ihre Zeit in Beschlag genommen.
     "Interessant", murmelte Star und spielte mit ihrer klobigen Folklore-Halskette. Bob zupfte imaginäre Flusen von seiner graubraunen Cordhose. Star wandte sich mir mit großen, mitleidsvollen Augen zu. "Was fühlen Sie jetzt?"
     "Ich fühle", sagte ich, "daß ich jetzt nach Hause fahren und ein Huhn braten muß."
     Wahrscheinlich hat jede gescheiterte Ehe einen geheimen Punkt, an dem Müdigkeit, Verzweiflung und Zorn zusammentreffen. Motive bleiben für immer im ungewissen; die Geschichte ändert sich trotzdem. Als ich die Praxis von Star und Bob verließ, wußte ich, daß ich nie wieder hingehen würde.
     Ich fuhr nach Hause und nahm die Zeit eines Huhns in Beschlag. Wie Millionen von Juden es seit Jahrhunderten am Freitagabend tun, briet ich ein Huhn. Meine Frau machte im Wohnzimmer sauber und summte dabei Some Enchanted Evening. Sie stellte Margeriten in eine Vase. Die Sonne ging unter. Meine Frau zündete zwei Kerzen an und segnete sie. Die Gäste kamen und ein paar Minuten später auch mein Stiefsohn und seine Frau. Unsere Mahlzeit begann.
     Gott schuf den Sabbat und sagte: "Israel soll dein Gefährte sein." Rabbiner fügten erläuternd hinzu: "Und so begrüßt Israel jede Woche den Sabbat, wie ein Bräutigam seine Braut." Auch der Sabbat gibt einen Vorgeschmack vom Himmel, von einer nie enden den Hochzeitsreise. Ich wollte nicht, daß unser Mahl zu Ende ging. Es sollte ewig dauern.
     Unsere Gäste verabschiedeten sich. Mein Stiefsohn und seine Frau blieben noch ein bißchen. Sie stand auf und umarmte mich. "Du bist der Vater, den ich mir immer gewünscht habe." Das war ich die längste Zeit gewesen.
     Sie gingen. Im Haus war es still. Meine Frau räumte den Tisch ab, dann ging sie zu Bett. Ich fütterte den Hund, ging hinaus und starrte auf den Garten, den ich angelegt hatte. Jeder Samen, den ich achtlos in die Erde gedrückt hatte, war aufgegangen. Jede Sonnenblume, jede Bohne, jede Ringelblume, jeder Kürbis, jede Minze, jede Tomate war aus der Erde geschossen. Die winzigen ein- und zweiblättrigen Pfl änzchen verhöhnten mich.
     Ich schlich mich ins Schlafzimmer, um ein paar Sachen zum Anziehen, ein Buch, das ich gerade las, und eine Ledertasche zu holen. Meine Frau schlief. Unter der Leselampe schimmerten ihre langen dunklen Locken und ihr wunderbar heller Teint. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Ich hätte sie gern noch einmal geküßt. Hätte gern noch einmal ihren Atem geschmeckt. Ich wußte, daß ich sie nie würde glücklich machen können.
     Ein letzter Blick ins Eßzimmer: Mich fröstelte. Die Kerzen in ihren silbernen Leuchtern flackerten. (Sabbatkerzen bläst man nicht aus.) Unser Hund, ein angejahrter schwarzer Labrador, döste unter dem Tisch. In der Küche summte der Kühlschrank.
     Ich nahm mit, was von dem Brathuhn übrig war; in einem Motelzimmer tags darauf war es mein Mittagessen.

Als ich fünfzehn war, schickten mich meine Eltern nach Frankreich auf die Schule. Die französische Familie, bei der ich lebte, die Rampillons, besaßen ein großes Weingut bei Bordeaux. Aus den Kolonien waren sie nach der marokkanischen Unabhängigkeit 1956 nach Frankreich zurückgekehrt, und wie viele Leute aus den früheren Kolonien waren sie sehr empfi ndlich, was ihre gesellschaftliche Stellung in Frankreich anbetraf. Sie waren gebildet. Sie hatten Geld. Aber für die stockkonservativen alteingesessenen Familien des Weinlandes waren sie Außenseiter. Die Gegend um Bordeaux gilt in Frankreich als sehr traditionsbewußt. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, nahmen die Rampillons die Anstandsregeln der Großbürger von Bordeaux so ernst, wie nur wahre Außenseiter es fertigbringen. Die sonntäglichen Mit tag essen bei den Rampillons waren für mich der reinste Horror.
     Ich hätte ihnen auch nicht primitiver erscheinen können, wenn ich ihre Schwelle auf allen vieren überschritten hätte. Ich kam aus Südkalifornien, was für die Rampillons so weit weg und so exotisch war wie Borneo. Als sie mich aufnahmen, hatten sie wahrscheinlich denselben Ehrgeiz wie eine Familie, die einen Schimpansen adoptiert, in der Hoffnung, ihm die Zeichensprache beibringen zu können. Anfangs fanden sie meine unbeholfenen Verständigungsversuche charmant, doch bald stellte sich heraus, daß mir auch die simpelsten Voraussetzungen für die Teilnahme an einem gutbürgerlichen häuslichen Leben fehlten. Einmal kam ich barfuß ins Fernsehzimmer. Madame Rampillon zog die Augenbrauen hoch, zeigte auf meine nackten Füße und sagte: "Franchement, je trouve ça tres sale." Ich finde das, offen gesagt, sehr unappetitlich.
     Von da an ging ich nur noch barfuß, wenn ich badete. Wahrscheinlich lernt man eine Fremdsprache am besten in einer Atmosphäre der Einschüchterung und Angst. Dann macht man jeden Fehler nur einmal. Die Rampillons waren fest entschlossen, einen zivilisierten Menschen aus mir zu machen, und als Franzosen hielten sie korrekten Gebrauch und perfekte Aussprache des Französischen für den Inbegriff von Zivilisiertheit. Sogar die Hausmädchen und die Arbeiter wurden eingespannt, obwohl Monsieur Rampillon mich warnte, den Akzent dieser Leute solle ich besser nicht nachahmen. Im Haus der Rampillons und auf ihrem weitläufi - gen Besitz konnte ich nicht den Mund aufmachen, ohne sofort von fünf bis sechs durchdringenden Stimmen verbessert zu werden. Wenn ich nach der Schule die Köchin um eine Kleinigkeit zu essen bat und dabei Grammatikfehler machte, erstattete sie Madame Rampillon Bericht, die dann später am Abend dafür sorgte, daß keiner davon unkorrigiert blieb. Sogar Gäste chez Rampillon wurden ermuntert, mir im meisterlichen Gebrauch des Konjunktivs zu assistieren.
     Während der Mahlzeiten gutes Französisch zu sprechen und zugleich an die bürgerlichen Tischsitten zu denken war ungefähr so einfach wie gleichzeitig Geige und Tuba zu spielen. Die Rampillons übten sich in Geduld, aber sie hatten es mit jemandem zu tun, der nicht wußte, daß man, Brot ausgenommen, nichts, was eine Kruste hat, mit dem Messer schneiden darf.
     Mein Messer schwebte über einem Stück Quiche, als Monsieur Rampillon mir einen strafenden Blick zuwarf. "Du beleidigst die Köchin. Du gibst zu verstehen, daß die Kruste zu hart ist, um sie mit der Gabel zu durchtrennen." Meine Tisch manieren besserten sich, während ich bei den Rampillons lebte. Außerdem nahm ich ab.
     Nach Monaten harten Trainings, als man nicht mehr befürchten mußte, daß ich meine Quiche mit dem Messer traktieren oder Wörter wie serrurier, Schlosser, auf die blamabelste Weise falsch aussprechen würde, hielten die Rampillons es für unbedenklich, einen bedeutenden Gast zum sonntäglichen Mittagessen einzuladen. Meiner Erinnerung nach war es ein weit gereister ältlicher Professor der Agrarwissenschaften. Um, so vermute ich, mit ihrem Erfolg in der Domestizierung eines exotischen Lebewesens zu prahlen, setzten mich die Rampillons neben den Ehrengast. Vor uns erstreckte sich eindrucksvoll die Sonntagstafel: Damasttischtuch, antikes Kristall, Sterlingsilber, die besten Bordeauxweine. Zunächst lief alles bestens. Ich machte niemandem Schande. Der Professor plauderte mit mir über Südkalifornien. "Ihr junger Amerikaner", sagte er zu Madame und Monsieur Rampillon, "spricht gut Französisch." Sie strahlten.
     Zum Dessert mußte natürlich frisches Obst gereicht werden, und das Hausmädchen brachte Pfirsiche. Alle um mich herum hielten ihren Pfirsich mit der Gabel fest und begannen, ihn routiniert und elegant mit dem Obstmesser zu schälen. Ich starrte meinen Pfirsich an wie eine scharfe Handgranate. Das Schälen eines Pfirsichs mit Messer und Gabel war eine Fertigkeit, die mir die Rampillons nicht beigebracht hatten.
     Gott mag ja seine schützende Hand über Kinder und Betrunkene halten, aber junge Amerikaner in Frankreich lassen ihn kalt. Die Pfirsiche waren ein wenig zu früh geerntet worden. Ich stach die Gabel in meinen, und ich sehe immer noch vor mir, wie er von meinem Teller springt und wie von einer unsichtbaren bösen Macht getrieben auf das Rotweinglas des Professors zusteuert. Es war etwas obszön Unausweichliches an meinem Volltreffer, daran, wie das Kristallglas zerbarst, als es umfi el, und der dunkle Wein sich über das weiße Tischtuch ergoß. Im Geist habe ich die Szene seither tausendmal durchgespielt. Für mich haben Pfi rsich und Weinglas nichts von ihrer makabren Faszination ver loren.
     Franzosen haben in der Tat oft erlesene Tischmanieren. Niemand lachte. Niemand starrte. Niemand unterbrach den Gesprächsfluß. Der Professor warf einfach seine Serviette über die Bescherung. Monsieur Rampillon rief das Hausmädchen aus der Küche herbei. "Ich glaube, unser junger Amerikaner hätte lieber eine Banane."

Teil 2

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