Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Reza Aslan: Kein Gott außer Gott. Teil 2

10.07.2006.
1. Das Heiligtum in der Wüste

Das vorislamische Arabien


Arabien, 6. Jahrhundert n. Chr. Das Heiligtum in der Wüste
Im trockenen, unfruchtbaren mekkanischen Becken, umrahmt von den kahlen Bergen der arabischen Wüste, steht ein kleines, rätselhaftes Heiligtum, ein gedrungener, würfelförmiger Bau, den die alten Araber Ka?ba nennen. Das dachlose Gebäude, eingesunken in einen sandigen Grund, besteht aus unverputzten Steinen. Seine Mauern, so niedrig, daß, wie es heißt, eine junge Ziege sie mühelos überwinden kann, sind ringsum mit schweren Tüchern verhüllt. In den grauen Stein sind zwei kleine Türen gemeißelt, die in das Innere des Heiligtums führen. Hier, in einem engen Schrein, wohnen die Götter des vorislamischen Arabien: der syrische Mondgott Hubal; die mächtige Göttin al-Uzza, die bei den Ägyptern Isis und bei den Griechen Aphrodite hieß; al-Kutba, der nabatäische Gott der Schrift und der Weissagung; Jesus, der menschgewordene Gott der Christen, und seine heilige Mutter Maria.
In und im Umkreis der Ka?ba befinden sich insgesamt rund dreihundertsechzig Bildnisse, die sämtliche Gottheiten der Arabischen Halbinsel repräsentieren. In den heiligen Monaten, wenn in der Stadt Mekka die Wüstenbasare und die großen Jahrmärkte stattfinden, strömen Pilger von überallher in diesen unfruchtbaren Landstrich, um ihren Stammesgottheiten zu huldigen. Sie umtanzen die Kultbilder, singen Lieder zum Lobpreis der Götter, bringen ihnen Opfer dar und bitten sie um Gesundheit und Wohlergehen. In einem einzigartigen Ritual, dessen Ursprung im dunkeln liegt, sammeln sich dann die Pilger und umrunden die Ka?ba siebenmal; manche bleiben stehen und küssen die Ecken des Heiligtums, bevor sie, vom Menschenstrom erfaßt, weitergedrängt werden.
Die heidnischen Araber, die sich um die Ka?ba versammeln, glauben, ihr Heiligtum sei von Adam, dem ersten Menschen, errichtet worden. Sie glauben, dieses ursprüngliche Gebäude sei von der Sintflut zerstört und von Noah wieder aufgebaut worden. Sie glauben, daß danach die Ka?ba jahrhundertelang in Vergessenheit geriet, bis Abraham sie wiederentdeckte, als er seinen erstgeborenen Sohn Ismail und seine Konkubine Hagar besuchte, die er auf Drängen seiner Frau Sara in diese Wüste geschickt hatte. Und sie glauben, daß an dieser Stelle Abraham seinen Sohn Ismail geopfert hätte, wenn Gott ihm nicht versprochen hätte, daß auch Ismail, wie dessen jüngerer Bruder Isaak, zum Stammvater eines großen Volkes werden würde, dessen Nachkommen jetzt wie ein Wüstensturm durch das sandige mekkanische Tal wirbeln.
Natürlich sind das nur Geschichten, die ausdrücken sollen, was die Ka?ba bedeutet, nicht, wo ihre tatsächlichen Ursprünge liegen. In Wahrheit weiß niemand, wer die Ka?ba erbaut hat oder wie lange sie schon existiert. Wahrscheinlich ist das Heiligtum nicht einmal der eigentliche Grund für die Heiligkeit des Ortes. Unweit der Ka?ba befindet sich der Brunnen Zamzam, der sich aus einer reichen unterirdischen Quelle speist und dessen Wasser der Überlieferung zufolge Hagar und Ismail vor dem Verdursten rettete. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, daß eine Quelle mitten in der Wüste für die nomadischen Beduinenstämme Arabiens ein heiliger Ort werden konnte. Die Ka?ba selbst wurde womöglich erst viele Jahre später erbaut, nicht als arabisches Pantheon, sondern als Aufbewahrungsort für die geweihten Gegenstände, die beim Ritual des Zamzam-Brunnens zum Einsatz kamen. Ältesten Überlieferungen zufolge befand sich innerhalb ihrer Mauern eine in den Sand gegrabene Vertiefung mit "Schätzen", die von einer magischen Schlange bewacht wurden.
Denkbar ist auch, daß das ursprüngliche Heiligtum für die alten Araber eine kosmologische Bedeutung hatte. Zahlreiche Götterbilder der Ka?ba standen mit den Planeten und den Sternen in Zusammenhang, und die legendäre Zahl dreihundertsechzig für die Gesamtzahl der Götter deutet auf astrologische Verknüpfungen hin. Das siebenmalige Umrunden der Ka?ba - arabisch tawaf und bis heute das wichtigste Ritual der jährlichen Wallfahrt, des haddsch - könnte die Bewegung der Himmelskörper versinnbildlicht haben. Schließlich war unter den alten Völkern der Glaube verbreitet, daß die Tempel und Heiligtümer der Erde Nachbildungen des kosmischen Berges sind, aus dem die Schöpfung hervorging. Die Ka?ba könnte daher, wie die Pyramiden in Ägypten oder der Tempel in Jerusalem, als axis mundi erbaut worden sein: als Weltachse und Mittelpunkt, als heiliger Ort, um den das Universum kreist, als Bindeglied zwischen der Erde und dem Himmelsgewölbe. Das würde auch erklären, warum einst ein Nagel in ihren Fußboden geschlagen wurde, den die Araber als "Nabel der Welt" bezeichneten. Wie G. R. Hawting nachwies, rissen sich manche Pilger beim Betreten des Heiligtums die Kleider vom Leib und legten sich mit dem Bauchnabel auf diesen Nagel, um mit dem Kosmos eins zu werden.
Doch wie so vieles im Zusammenhang mit der Ka?ba bleiben auch ihre Ursprünge reine Spekulation. Das einzige, was man mit Sicherheit weiß, ist, daß dieses kleine, aus Lehm und Stein gebaute Heiligtum der Mittelpunkt des religiösen Lebens im vorislamischen Arabien des 6. nachchristlichen Jahrhunderts war: in jener faszinierenden, jedoch schwer faßbaren heidnischen Epoche, die die Muslime dschahiliyya nennen, "Zeit der Unwissenheit".

Traditionell definieren Muslime die dschahiliyya als eine Periode der moralischen Verworfenheit und religiösen Zwietracht, in der die Söhne Ismails dem Glauben an den einen wahren Gott abschworen und die Arabische Halbinsel in das Dunkel der Idolatrie stürzten. Doch dann tauchte zu Beginn des 7. Jahrhunderts wie eine Morgendämmerung der Prophet Muhammad in Mekka auf, predigte die Botschaft eines absoluten Monotheismus und einer kompromißlosen Moral. Durch das Wunder der göttlichen Offenbarungen setzte Muhammad dem Heidentum der Araber und der "Zeit der Unwissenheit" ein Ende und begründete die Universalreligion des Islams.
Tatsächlich war die religiöse Welt der vorislamischen Araber weitaus vielschichtiger, als es diese Überlieferung nahelegt. Zwar war die Arabische Halbinsel vor der Ankunft des Islams heidnisch geprägt, aber wie "Hinduismus" ist auch "Heidentum" ein wenig aussagekräftiger, ja herabwürdigender Pauschalbegriff, mit dem der Uneingeweihte eine schier unüberschaubare Vielzahl religiöser Überzeugungen und Praktiken faßbar zu machen sucht. Paganus heißt soviel wie "Bewohner eines ländlichen Bezirks", "grobschlächtiger Mensch"; das Wort wurde von Christen ursprünglich abschätzig zur pauschalen Bezeichnung der nichtchristlichen Bevölkerung verwendet. In gewisser Weise eine durchaus zutreffende Beschreibung. Im Unterschied zum Christentum ist ja das Heidentum kein vereinheitlichtes System religiöser Überzeugungen und Praktiken, sondern eher eine religiöse Perspektive, offen für vielerlei Einflüsse und Interpretationen. Oft, wenngleich nicht immer polytheistisch geprägt, strebt das Heidentum weder nach Universalismus, noch erhebt es einen moralischen Absolutheitsanspruch. Es gibt keinen heidnischen Glauben oder heidnischen Glaubenskanon. Eine "heidnische Orthodoxie" oder "heidnische Heterodoxie" existiert schlichtweg nicht.
Mehr noch: Wenn man vom Heidentum der vorislamischen Araber spricht, muß man zwischen dem religiösen Leben der nomadischen Beduinen und dem der seßhaften Stämme unterscheiden, die sich in Städten wie Mekka angesiedelt hatten. Das beduinische Heidentum Arabiens im 6. Jahrhundert umfaßte ein breites Spektrum religiöser Vorstellungen und Praktiken - Fetischismus ebenso wie Totemismus und Manismus (Ahnenkult) -, doch die Auseinandersetzung mit metaphysischen Problemen, insbesondere der Frage eines Lebens nach dem Tod, wie sie in den größeren seßhaften Gesellschaften Arabiens gestellt wurde, fehlte ganz. Das heißt aber nicht, daß die Beduinen eine primitive Götzenverehrung praktizierten, im Gegenteil. Es gibt allen Grund zu der Annahme, daß die Beduinen des vorislamischen Arabiens eine reiche und vielgestaltige religiöse Tradition pflegten. Allerdings verlangte die nomadische Lebensweise eine Religion, die sich der unmittelbaren Nöte und Bedürfnisse annahm: Welcher Gott kann uns zu Wasserstellen führen? Welcher Gott kann unsere Krankheiten heilen?
Das Heidentum der seßhaften Gesellschaften Arabiens hingegen hatte sich von seinen frühesten und einfachsten Erscheinungsformen zu einem komplexen Neoanimismus entwickelt - mit einer Vielzahl göttlicher und halbgöttlicher Vermittler zwischen dem Schöpfergott und seiner Schöpfung. Dieser Schöpfergott hieß Allah, was jedoch kein Eigenname ist, sondern die kontrahierte Form von al-ilah; der Name bedeutet einfach nur "der Gott".Wie seine griechische Entsprechung Zeus war auch Allah ursprünglich eine alte Regen- und Himmelsgottheit, die die vorislamischen Araber zum obersten Gott erhoben. Allah war zwar eine mächtige Gottheit, in deren Namen die heiligsten Eide abgelegt wurden; aufgrund seiner prominenten Stellung im arabischen Pantheon war er jedoch, wie die meisten Hochgötter, nicht der Ansprechpartner für gewöhnliche Gläubige. Nur in der äußersten Bedrängnis wagte man ihn anzurufen. Gewöhnlich wandte man sich an die niedrigeren, leichter zugänglicheren Gottheiten, die als Allahs Fürsprecher fungierten. Die mächtigsten unter ihnen waren Allahs Töchter Allat ("die Göttin"), al-Uzza ("die Mächtige") und Manat (die Göttin des Schicksals, deren Name vermutlich vom hebräischen mana, "Teil", "Anteil", abgeleitet ist). Diese göttlichen Mittler waren nicht nur in der Ka?ba vertreten, sie besaßen auch eigene Heiligtümer anderswo auf der Arabischen Halbinsel: Allat in der Stadt Ta?if, al-Uzza in Nakhlah, und Manat in Qudaid. Zu ihnen beteten die Araber, wenn sie Regen brauchten, wenn ihre Kinder krank waren, wenn sie in eine Schlacht zogen oder sich auf eine Reise durch die gefährliche Wüste begaben, wo die Dschinnen hausten, vernunftbegabte, unsichtbare und ungreifbare Geisterwesen aus rauchlosem Feuer, gleichsam die Nymphen und Feen der arabischen Mythologie.
Im vorislamischen Arabien gab es keine Priester und keine heidnischen Schriften, was aber nicht heißt, daß die Götter stumm geblieben wären. Sie taten sich regelmäßig durch den Mund der kuhhan kund, die eine kultische Funktion ausübten. Die kuhhan waren Dichter, die die Aufgabe von Sehern und Weissagern erfüllten und gegen Bezahlung im Zustand der Trance göttliche Botschaften in gereimten Versen übermittelten. Dichter spielten in den vorislamischen Gesellschaften als Barden, Stammeshistoriker, soziale Kommentatoren, Übermittler von Moralvorstellungen und bisweilen auch als Rechtsprecher eine bedeutende Rolle. Doch die kuhhan repräsentierten ein eher spirituelles Dichtertum; sie waren unterschiedlicher sozialer und wirtschaftlicher Herkunft, und auch Frauen gab es unter ihnen. Sie deuteten Träume, klärten Verbrechen auf, kamen verirrten Tieren auf die Spur, schlichteten Streitfälle und erläuterten sittliche Verhaltensweisen. Wie bei der delphischen Pythia waren auch die Orakelsprüche der kuhhan absichtlich dunkel und vieldeutig. Es blieb dem Bittsteller überlassen herauszufinden, was die Götter sagen wollten.
Die kuhhan waren zwar das Bindeglied zwischen Menschen und Göttern, aber sie kommunizierten nicht direkt mit den höchsten Wesen, sondern vermittelt durch die Dschinnen und andere Geister, die somit ein integraler Bestandteil des religiösen Lebens der dschahiliyya waren. Weder die kuhhan noch sonst irgend jemand hatte Zugang zu Allah. Der Gott, der Himmel und Erde erschaffen und die Menschen nach seinem Bild geformt hatte, war der einzige, der in der Ka?ba nicht bildlich dargestellt war. Er wurde "König der Götter" und "Herr des Hauses" genannt, aber er war nicht die zentrale Gottheit der Ka?ba. Diese Ehre gebührte dem syrischen Hubal, der Jahrhunderte vor dem Aufstieg des Islams nach Mekka gebracht worden war.
Obwohl Allah im religiösen Kult des vorislamischen Arabiens nur eine geringfügige Rolle spielt, ist seine herausragende Stellung im arabischen Pantheon ein klarer Hinweis darauf, wie weit sich der heidnische Glaube auf der Arabischen Halbinsel von seinen primitiven animistischen Ursprüngen bereits entfernt hatte. Das vielleicht anschaulichste Beispiel für diese Entwicklung ist das Prozessionslied, das der Überlieferung zufolge die Pilger sangen, wenn sie sich der Ka?ba näherten:

Hier bin ich, o Allah, hier bin ich.
Du hast keinen anderen neben dir,
Nur den, den du neben dir hast.
Er und alles, was ihm gehört, ist dein Eigentum.

Dieser eigentümliche Lobpreis mit seinen unverkennbaren Anklängen an das muslimische Glaubensbekenntnis - "Es gibt keinen Gott außer Gott" - ist im vorislamischen Arabien der vielleicht früheste Hinweis auf das, was der deutsche Philologe Max Müller als Henotheismus bezeichnete: den Glauben an einen einzigen Hochgott, ohne die Existenz anderer, untergeordneter Gottheiten abzulehnen. Das älteste Zeugnis für den Henotheismus in Arabien liefert der Stamm Amir, der im 2. Jahrhundert v. Chr. unweit des heutigen Jemen lebte und einen Hochgott namens dhu-Samawi verehrte, den "Herrn der Himmel". Genauere Einzelheiten über die Religion der Amir sind historisch nicht überliefert, doch die meisten Forscher sind überzeugt, daß der Henotheismus im 6. Jahrhundert n. Chr. der prägende Glaube der großen Mehrheit der seßhaften Araber war, die nicht nur Allah als Hochgott verehrten, sondern ihn mit Jahwe, dem Gott der Juden, gleichsetzten.

Die Präsenz der Juden auf der Arabischen Halbinsel kann, zumindest theoretisch, bis ins babylonische Exil tausend Jahre zuvor zurückverfolgt werden, auch wenn es 70 n. Chr., nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer, und erneut 132 n. Chr., nach dem antirömischen messianischen Aufstand Simon Bar Kochbas, weitere Migrationen gab. In ihrer Mehrheit bildeten die Juden eine wohlhabende, äußerst einflußreiche Diaspora, die mit ihrer Kultur und ihren Traditionen in das soziale und religiöse Milieu des vorislamischen Arabien vollständig integriert war. Ob als arabische Konvertiten oder als Einwanderer aus Palästina, die Juden nahmen Anteil an allen Bereichen des sozialen Lebens in Arabien. Gordon Newby zufolge gab es überall auf der Arabischen Halbinsel jüdische Kaufleute, jüdische Beduinen, jüdische Bauern, jüdische Dichter und jüdische Krieger. Jüdische Männer nahmen arabische Namen an, und jüdische Frauen trugen arabischen Kopfschmuck. Selbst wenn einige dieser Juden Aramäisch (oder zumindest eine korrumpierte Form des Aramäischen) sprachen, war ihre Hauptsprache doch Arabisch.
Trotz ihrer Kontakte zu größeren jüdischen Siedlungen im Nahen Osten hatten die Juden Arabiens eigene Spielarten des traditionellen jüdischen Glaubens und jüdischer religiöser Praxis entwickelt. Sie teilten viele religiöse Vorstellungen mit ihren heidnischen arabischen Nachbarn und pflegten gemeinsame volksreligiöse Praktiken, darunter Magie, Orakel und die Verwendung von Talismanen. Neben kleinen, rabbinisch geprägten Gemeinschaften in einigen Regionen der Arabischen Halbinsel gab es jüdische Seher, die kohanim, die in ihren Gemeinden kultische Funktionen ausübten und, wie die heidnischen kuhhan, den göttlichen Willen erkundeten und durch Orakel mitteilten.
Zwischen den Juden und den heidnischen Arabern herrschte eine symbiotische Beziehung: Nicht nur waren die Juden stark arabisiert, auch die Araber waren von jüdischen Glaubensvorstellungen und Praktiken nachhaltig beeinflußt. Beleg dafür ist die Ka?ba, deren Ursprungsmythen auf ein semitisches Heiligtum (arabisch haram) hindeuten, das in der jüdischen Tradition verwurzelt war. Adam, Noah, Abraham, Mose und Aaron waren allesamt lange vor dem Aufstieg des Islams auf die eine oder andereWeise mit der Ka?ba verknüpft. Und der geheimnisvolle schwarze Stein, der bis zum heutigen Tag in der südöstlichen Ecke des Heiligtums eingemauert ist, scheint ursprünglich mit dem Stein in Verbindung zu stehen, auf dem Jakobs Kopf bei seinem berühmten Traum von der Himmelsleiter ruhte.
Die Verbindung des heidnischen Arabien zum Judentum wird plausibel, wenn man sich vor Augen hält, daß sich die Araber, wie die Juden, als Nachkommen Abrahams betrachteten, dem sie nicht nur die Wiederentdeckung der Ka?ba zuschrieben, sondern auch die Einsetzung der Wallfahrtsriten, die dort praktiziert wurden. Abraham genoß in Arabien so große Verehrung, daß er im innersten Heiligtum der Ka?ba sogar ein Bildnis hatte und gemäß heidnischer Tradition als Schamane dargestellt wurde, der durch das Werfen von Lospfeilen ein Orakel verkündet. Daß Abraham weder ein Gott noch ein Heide war, spielte für die Araber sowenig eine Rolle wie die Verbindung ihres Gottes Allah zum jüdischen Gott Jahwe. Für das arabische Heidentum des 6. Jahrhunderts, das sich für alle möglichen religiösen Gedankenwelten offen zeigte, war der jüdische Monotheismus keineswegs tabu. Die heidnischen Araber nahmen das Judentum vermutlich als eine Ausdrucksform ihrer eigenen religiösen Gefühle wahr.
Dasselbe gilt für die arabische Wahrnehmung des Christentums, das wie das Judentum auf der Arabischen Halbinsel von großem Einfluß war. Die arabischen Stämme waren von Christen umgeben. Im Nordwesten lebten syrische, im Nordosten mesopotamische und im Süden abessinische Christen. Im 6. Jahrhundert n. Chr. war der Jemen der Dreh- und Angelpunkt christlicher Aktivitäten in Arabien. Die Stadt Nadschran galt als Zentrum der arabischen Christenheit, und in Sanaa war eine große Kirche erbaut worden, die eine Zeitlang mit Mekka um den Status der wichtigsten Pilgerstätte der ganzen Region wetteiferte.
Als proselytische Religion machte das Christentum jedoch nicht an den Rändern des arabischen Siedlungsgebiets Halt. Dank konzertierter Missionierungsbestrebungen hatte sich bereits eine ganze Reihe arabischer Stämme geschlossen zum Christentum bekehrt. Der größte dieser Stämme waren die Ghassaniden im Grenzgebiet zwischen dem römischen und dem arabischen Kulturkreis, die eine Art Pufferstaat zwischen dem christlich-byzantinischen Reich und den "unzivilisierten" Beduinen bildeten. Sie betrieben aktiv die Missionierung Arabiens, gleichzeitig schickten die byzantinischen Kaiser ihre Bischöfe ins Innere der Wüste, um die heidnischen Araber in den Schoß ihrer Kirche zu holen. Doch die Ghassaniden und die Byzantiner predigten sehr unterschiedliche Versionen des Christentums.
Mit den Konzilien von Nizäa 325 n. Chr., das die göttliche und zugleich menschliche Natur Jesu bekräftigte, und Chalcedon 451 n. Chr., das die Dreifaltigkeitslehre in der christlichen Theologie verankerte, erklärte die römische Orthodoxie einen Großteil der Christenheit im Nahen Osten zu Häretikern. Da der Gedanke der Trinität im Neuen Testament nicht explizit formuliert wird (der Begriff wurde Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. von Tertullian von Karthago geprägt, einem der ältesten und rigorosesten Kirchenväter), wurde er weder von allen frühchristlichen Gemeinden übernommen noch als verbindlich formuliert. Montanistische Christen wie Tertullian glaubten, Jesus besitze zwar dieselbe göttliche Qualität wie Gott, nicht jedoch in derselben Quantität wie dieser. Modalistische Christen betrachteten die Trinität als die Verkörperung des einpersönlichen Gottes in drei zeitlich aufeinanderfolgenden Seinsstufen: als Vater, als Sohn und schließlich als Heiliger Geist. Nach Auffassung der nestorianischen Christen hatte Jesus zwei völlig unterschiedliche Naturen (eine menschliche und eine göttliche), während für die gnostischen Christen, insbesondere die Doketisten, Jesus nur scheinbar Mensch, in Wirklichkeit jedoch Gott war. Und dann gab es noch die Arianer, die die Trinität Gottes rundweg ablehnten.
Nachdem das Christentum in Rom Staatsreligion geworden war, trat an die Stelle dieser unterschiedlichen Auffassungen über Jesu Identität eine einzige rechtgläubige Lehre, die am klarsten durch Augustinus von Hippo (gestorben 430) formuliert wurde: der Sohn sei "eines Wesens" mit dem Vater, ein Gott in drei Personen. Mit einem Mal wurden die Montanisten, die Modalisten, die Nestorianer, die Gnostiker und die Arianer zu Ketzern erklärt und ihre Lehren unterdrückt.
Die Ghassaniden waren Monophysiten wie viele Christen, die dem eisernen, immer fester werdenden Zugriff Konstantinopels entzogen waren. Sie lehnten die nizänische Lehre von der zweifachen Natur Jesu ab und vertraten den Glauben an eine einzige, göttlich-menschliche Natur Jesu, auch wenn sie, je nach Zugehörigkeit zu einer Denkschule, unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Die Schule von Antiochien betonte stärker die menschliche Natur Jesu, während die Schule von Alexandrien seine Göttlichkeit hervorhob. Die Ghassaniden waren also zwar Christen und Vasallen des Byzantinischen Reiches, teilten jedoch nicht die theologischen Auffassungen ihrer Schutzherren.
Werfen wir erneut einen Blick auf die Ka?ba, um zu verstehen, welche Spielart des Christentums in Arabien Fuß faßte. Überlieferungen zufolge wurde das Bildnis Jesu, das sich im Innern des Heiligtums befand, von Baqura aufgestellt, einem koptischen, d.h. monophysitischen Christen der Schule von Alexandrien. Wenn das stimmt, kann Jesu Präsenz in der Ka?ba als Hinweis auf die Dominanz des monophysitischen Glaubens an Christus als vollständig göttlicher Gottmensch gewertet werden - eine Christologie, die für die heidnischen Araber durchaus akzeptabel war.
Das Christentum auf der Arabischen Halbinsel - in seiner orthodoxen wie heterodoxen Ausprägung - muß auf die heidnischen Araber eine starke Wirkung ausgeübt haben. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, daß die im Koran erzählten biblischen Geschichten, besonders diejenigen, die von Jesus handeln, eine tiefe Kenntnis der christlichen Überlieferungen und Erzähltraditionen bekunden. Es gibt verblüffende Ähnlichkeiten zwischen den christlichen und koranischen Beschreibungen der Apokalypse, des Jüngsten Gerichts und des Paradieses, das die Geretteten erwartet. Diese Ähnlichkeiten stehen dem muslimischen Glauben von der göttlichen Offenbarung des Korans zwar nicht entgegen, zeigen aber, daß die Vorstellung des Jüngsten Tages den heidnischen Arabern durch Bilder und Metaphern übermittelt wurde, die ihnen durch den Kontakt mit dem Christentum in dieser Region bereits vertraut waren.
So wie die Ghassaniden die Grenzen des Byzantinischen Reiches sicherten, schützte ein anderer arabischer Stamm, die Lachmiden, das zweite große Imperium der damaligen Zeit: das Reich der Sasaniden. Als imperiale Erben des altiranischen Königreichs Kyros? des Großen, das Zentralasien tausend Jahre lang beherrscht hatte, waren auch die Sasaniden Zoroastrier, Anhänger der wirkungsmächtigen Lehre des iranischen Propheten Zarathustra, der fast eintausendfünfhundert Jahre vorher gelebt hatte. Zarathustras Kosmogonie, seine Kosmologie und Eschatologie waren von enormem Einfluß auf die Entwicklung der anderen Religionen dieser Weltgegend, besonders von Judentum und Christentum.
Mehr als tausend Jahre vor Christus predigte Zarathustra die Existenz von Himmel und Hölle, den Gedanken einer leiblichen Auferstehung, das Versprechen eines Welterlösers, der eines Tages von einer Jungfrau geboren werden würde, und die Erwartung einer kosmischen Schlacht am Zeitenende zwischen den himmlischen Kräften des Guten und den dämonischen Kräften des Bösen. Im Mittelpunkt von Zarathustras Theologie stand ein einzigartiger Monotheismus mit Ahura Mazda (dem "Allweisen Herrn"), dem Schöpfer von Himmel und Erde, Tag und Nacht, Licht und Finsternis. Wie damals üblich, war jedoch auch für Zarathustra ein Gott als Ursprung von Gut und Böse nicht denkbar. Daher entwickelte er einen ethischen Dualismus, in dem zwei einander bekämpfende Urwesen, Spenta Mainyu ("der wohltätige Geist") und Angra Mainyu ("der feindselige Geist"), für das Gute bzw. Böse verantwortlich waren. Diese Geister, auch als "Zwillingskinder" Ahura Mazdas bezeichnet, waren jedoch keine Götter, sondern lediglich die spirituelle Verkörperung von Wahrheit und Unwahrheit.
Zur Zeit der Sasaniden hatte sich Zarathustras primitiver Monotheismus zu einer streng dualistischen Lehre entwickelt, derzufolge die beiden Urwesen, nunmehr Götter, einen unablässigen Kampf um die menschliche Seele führen: Ohrmazd (Ahura Mazda), der Gott des Lichts, und Ahriman, der Gott der Finsternis und Urbild des christlichen Satans. Der Zoroastrismus ist zwar eine nichtproselytische und - insbesondere aufgrund seiner streng hierarchischen sozialen Ordnung und beinahe fanatischen Obsession von ritueller Reinheit - schwer zugängliche Religion, doch aufgrund der militärischen Präsenz der Sasaniden auf der Arabischen Halbinsel konvertierten doch einige Stämme zum Zoroastrismus, vor allem zu den weniger strengen Sekten des Mazdaismus und des Manichäismus.


Teil 3