Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Rabea Edel: Das Wasser, in dem wir schlafen. Teil 1

13.02.2006.
1.

Meine Schwester wurde auf einem Autobahnrastplatz zwischen zwei halbabgeernteten Weizenfeldern unter den von Vögeln schweren Kabeln der Starkstrommasten gezeugt, die Handbremse scheuerte in Mutters Rücken ein rotes Mal, das durch ihre weiße Bluse leuchtete und das ich eine Woche lang jeden Abend vor dem Zubettgehen mit Coldcreme einschmieren durfte, und als Vater viel zu schnell und mit geöffneten Augen kam, löste sich die Handbremse, und das Auto rollte einige Meter weit, stieß sacht mit der Kühlerhaube gegen den Stamm eines Baumes, der neben den Mülltonnen am Straßengraben seit Jahren dem Wind nachgab und sich krumm und alles andere als elegant in meine Richtung bog und dem Wagen standhielt. Es knirschte, Blech gegen Holz, das Auto blieb stehen, und Vater schloß die Augen.
     Meine Mutter hatte alle Fenster hochgekurbelt und mich in den Schatten unter die Bäume gesetzt. Aus den Mülltonnen roch es süßlich. Ein Motorradfahrer bog auf den Parkplatz ein, klappte das Visier des Helms hoch, blieb auf der Maschine sitzen und betrachtete Mutters Handballen, die sie von innen gegen die Scheibe preßte, ihr helles Haar und den in der Autotür eingeklemmten langen geflochtenen Zopf.
     "Eingeklemmt", wiederholt Gregor und grinst.
     "Ja, eingeklemmt", sage ich und halte seinem Blick stand.
     Wir sitzen auf der Veranda, Gregor hat seine nassen Kleider gewechselt, die mit Kreppband zugeklebten Fenster und alle Türen geöffnet, bis auf eine im oberen Stockwerk, und während ich von diesem Sommer erzähle, in dem Linas und meine Geschichte begann, im Monat der Schlammfliegen, die sich vom See her über das Dorf und später dann über die ganze Stadt legten, steht Gregor auf und läuft im Kreis auf der Veranda herum wie ein hungriges Tier.
     "Setz dich", sage ich, "bitte."
     Gregor läßt sich neben mir an der Hauswand herabgleiten, auf den Holzboden fallen und schüttelt den Kopf. Ich strecke ihm meinen pochenden nackten Fuß entgegen.
     "Was soll das?"
     "Ich habe mir einen Splitter eingetreten, vorhin", sage ich.
     Und während Gregor ohne Widerrede meinen Fuß in die Hand nimmt - "Du mußt ihn raussaugen, schau so", sage ich und presse meine Lippen auf meinen Handballen - und seinen Mund auf meinen linken Fußballen drückt, weiß ich wieder, daß das Thermometer in der Küche zweiunddreißig Grad zeigte, am frühen Morgen schon, als wir losfuhren, und daß Vater mit dem Fingerknöchel einige Male prüfend dagegenklopfte und wartete, daß es wieder fiele; so unvermutet, zusammenhangslos und weit entfernt dieser Gedanke auch von uns beiden, hier auf der Veranda meines Elternhauses, ist, so unvermutet, weil wir nicht wissen, was wir hier zu suchen haben, was zu tun ist und was zu unterlassen und warum ausgerechnet Gregor und ich, warum gerade wir beide übrig sind.

Die Häuser versanken in einem braunen Teppich, der von den Bewegungen der Insekten flimmerte. Sie stiegen von den Algen im See hinter den Schrebergärten auf, setzten sich auf Fensterscheiben und Werbeschilder, überzogen die Kuppelgläser der Straßenlampen und die Gehsteige, und binnen weniger Minuten und ohne daß man sich versah, verschluckte man die Insekten, die einem in Mund und Nasenlöcher flogen, die Augen tränten vom Herauswischen abgerissener Flügel und Chitinteilchen, und Vater ließ die Scheibenwischer über das Glas laufen, bis er durch die Schlieren aus zerquetschten Insekten die Straße nicht mehr sah, den Blinker setzte und auf den Rastplatz einbog. Unsere Nachbarn fegten mehrmals am Tag die Gehwege vor den Häusern, die Terrassen und Veranden, sie putzten jeden Morgen die Fenster, um durch die Scheiben in den anderen Gärten nach dem Rechten sehen zu können, aber die Plage hielt an, und nach drei Wochen kehrten auch sie nur noch die toten Fliegen zusammen, so wie Vater, und füllten die Mülleimer damit.
     Ich mußte pinkeln. Mutter hielt mich über dem Feld ab, ihr Zopf baumelte über ihre Schulter und schlug mir ins Gesicht. Sie setzte mich unter die Bäume in den Schatten, hockte sich ebenfalls ins Gras, zog den Slip wieder hoch, ließ den Rock über die weißen Knie fallen.
"Warte hier, ja?" sagte sie, und im Vorbeigehen zupfte sie mir einige Fliegen aus dem Haar. Dann lief sie zum Auto, schaute einmal nach rechts und links, setzte sich mit hochgezogenem Rock auf die Rückbank und schlug die Tür zu.
     So begann unsere Geschichte. Linas und meine. Sie begann im Juli, im Monat der Schlammfliegen, zwischen den durch den Wind verbogenen Bäumen am Straßengraben und den Hochspannungsmasten, auf deren Leitungen die Vögel schaukelten, auf der anderen Straßenseite ein Traktor, der Furchen in die trockene Erde zog, und das einzige Geräusch, das mir von diesem Moment in Erinnerung geblieben ist, ist das Knirschen von Metall auf Holz. Ich habe Mutters Atemkreise an der Scheibe gesehen, Mutters starren Blick über meinen Kopf hinweg auf einen fernen Punkt weit hinter mir im Feld, aber ich habe außer diesem Knirschen, als der Wagen gegen den Baum links von mir rollte, nichts gehört, während ich mir die Fliegen aus den Augen wischte.

An einem Nachmittag sechseinhalb Monate später fiel das Licht als breiter, alles sich in diesem Licht Befindlichen einander angleichender, heller Strom in den Garten, über das von Vater mit Sand von der benachbarten Baustelle aufgeschüttete Viereck mit Schaukel und gleichermaßen auf die Terrasse und in das darüberliegende elterliche Schlafzimmer, in dem meine Mutter seit Stunden leise wimmerte und gegen den Schmerz anatmete.
     Die Abendsonne wärmte nicht, es war Anfang Februar. Ich saß auf der Schaukel, kniff die Augen zusammen und schlenkerte mit den Beinen.

Am Morgen noch hatten wir nebeneinander am Zaun gestanden, Mutter hielt eine Hand um das Holz gepreßt, zwischen ihren Fingern blätterte der Lack vom Zaun, weiß und in langen Splittern, und wir spielten "Ich sehe was, was du nicht siehst", aber Mutters Augen waren wäßrig, an den Rändern gerötet, sie war unruhig und müde und fand meine Farben nicht. Sie holte ein paarmal tief Luft. Lina trat in ihrem Bauch um sich, und Mutter nahm meine Hand und drückte sie auf die kleine Rundung unter ihren Brüsten.
     "Ich spüre da nichts", sagte ich, zog meine Hand weg und wandte mich dem verlassenen Vogelnest zu, das ich in der Frühe in der Efeuwand unseres Hauses entdeckt hatte, die Jungen darin mit weit aufgerissenen Schnäbeln, keine Amsel weit und breit.
     "Rot und gelb?" sagte sie und schüttelte den Kopf.
     "Ja, ganz einfach", sagte ich, "gib dir Mühe!"
     "Ich weiß es nicht, Schatz", sie gab mir einen Kuß auf die Stirn, "du hast gewonnen, ja."
     Im Nest drängten die frisch geschlüpften Jungen die Köpfe zusammen, sie streckten ihre spitzen roten Zungen in die Luft, Mutter atmete mit einen langem Pfeifen aus, und Vater holte uns hinein, nachdem ich zehnmal und ohne Mühe gewonnen hatte.
     Wir setzten uns um den Küchentisch, Vater kochte Tee, stellte mir Kuchen hin, rückte seinen Stuhl an Mutter heran und hielt ihren Bauch mit beiden Händen, als wollte er ihn forttragen. Mutter lächelte darüber und strich ihm wie einem Kind durchs Haar. Ich zerteilte den Mürbeteigboden mit der Gabel, schob die Krümel zu kleinen Haufen und zählte das Knacken in der Heizung, um Mutters unterdrücktes Stöhnen nicht zu hören. Mutter stand auf, der Stuhl kippte um, sie lief im Kreis um den Küchentisch, die eine Hand in die Wirbelsäule, die andere gegen Linas kleinen Kopf unter ihrer kaum gewölbten Bauchdecke gedrückt, und von hinten sah man ihr nicht an, daß sie meine Schwester austrug. Mutter summte.
     "Mariechen saß weinend im Garten, in den Armen ihr totes Kind, der Matrose, der hat sie verraten ? mhmhmhmh, mmh, mhmh ?"
     Vater runzelte die Stirn. Er streckte eine Hand nach Mutter aus, aber sie wich ihm aus, lief weiter im Kreis um uns herum und lächelte.

Teil 2