Vorgeblättert

Monika Maron: Wie ich ein Buch nicht ...., Teil 1

27.01.2005.
Vom Scheitern I-III

Worüber zu sprechen ich mich hier aufgefordert fühle, ist etwas sehr Intimes, über das ich öffentlich eigentlich gar nicht sprechen möchte. Mir wurde zwar gesagt, ich dürfe dieses Amt gestalten, wie ich es wünsche, aber das ändert nicht viel, denn auf jeden Fall soll ich ja über Bücher sprechen und über das Schreiben und über mein Verhältnis zu Büchern und zum Schreiben; und das empfinde ich als geradezu exhibitionistisch. Seit jeher hat mich die Frage nach meinem Lieblingsbuch, die einem übrigens erstaunlich oft gestellt wird, meistens von Journalisten, in Verlegenheit gestürzt, weil ich erstens kein Lieblingsbuch habe, sondern in bestimmten Lebensaltern bestimmte Autoren mehr geliebt habe als andere und weil ich an Tschechow etwas anderes bewundere als an Kafka, und an Uwe Johnson etwas anderes als an Natalia Ginzburg oder Philip Roth.

Weil ich zweitens so viele Bücher, die ich hätte lesen müssen, nicht gelesen habe und darum nicht weiß, ob nicht eines dieser ungelesenen Bücher mein eigentliches Lieblingsbuch ist.

Und drittens erschreckt mich der Gedanke, was ich alles über mich verraten würde, wenn ich mein Lieblingsbuch, das ich aber nicht habe, preisgäbe.
Eine andere Frage, die mir seltener von Journalisten als von Lesern oder Zuhörern gestellt wird, sich aber ebenso gegen eine Antwort sperrt, ist die nach dem Grund, nach dem Warum; warum schreiben Sie?
Ich vermute, daß diese Frage so beliebt ist, weil viele Menschen hin und wieder das Bedürfnis verspüren, selbst ein Buch zu schreiben, daß sie in sich eine Geschichte bewahren, die sie für mitteilenswert halten, aber nicht die Kraft oder den Mut finden, mit dem Schreiben anzufangen, und nun wissen wollen, worin sich jemand, der es wirklich getan hat, von ihnen unterscheidet. Ich weiß auf diese Frage natürlich keine Antwort. Die Antwort wäre die Frage. Der eine tut es, und der andere tut es nicht.

Vielleicht ist es eine frühe Erfahrung, daß etwas, über das man nicht sprechen will oder kann, sich einem Stück Papier anvertrauen läßt und daß Konfusion, in Sprache gefaßt, Gestalt annimmt; daß also etwas, das als Zuviel, als störender Dberschuß an der eigenen Person empfunden wird, sich plötzlich als sinnstiftende Möglichkeit offenbart. Und wenn eine solche Erfahrung mit dem Lesen einhergeht und eines Tages der Blick auf das eigene Leben darin nach einer Form sucht, nach einer erzählbaren Form, kann der Wunsch entstehen, den unzähligen Büchern ein eigenes hinzuzufügen.

Warum ist es mir eigentlich zu intim, von meinen poetischen Vorstellungen, vom Gelingen und Mißlingen des Schreibens zu erzählen? Und warum habe ich solche Gefühle nicht, wenn ich in einem Roman erzähle, wie ein Mann und eine Frau miteinander im Bett liegen, zumal jeder annehmen wird, daß ich dergleichen nicht aus der Beobachtung, sondern aus eigener Erfahrung beschreibe?

Wenn ich über das Schreiben spreche, muß ich über mich sprechen; ich weiß nicht, wie und warum andere schreiben. Wenn ich einen Roman schreibe, spreche ich nicht über mich, auch nicht, wenn es so scheint. Die Versuchung, in dem erzählenden Ich eines Romans den Autor zu suchen oder gar zu erkennen, ist offenbar so groß, daß sogar die, die es besser wissen, davon nicht absehen können. Aber dieses Ich ist eine andere Person und nicht ich. Ich bin ihr verfügbares Material.

Heute ist der 10. Februar 2004, also fast ein Jahr, bevor ich das, was ich jetzt schreibe, vortragen werde. Vor fünf Tagen habe ich beschlossen, das Buch, an dem ich gerade arbeite, von vorne zu beginnen. Auf der Seite 37 konnte ich den Verdacht, ich hätte schon in der Konstruktion, in der Schreibvoraussetzung, einen grundsätzlichen, nicht korrigierbaren Fehler gemacht, nicht mehr abweisen. Im letzten Satz auf der Seite 37 fragt Karoline Johanna: Warum machst du diesen Schwachsinn hier?

Ich schreibe sehr langsam, und 37 Seiten einfach zu verwerfen ist für mich eine harte Entscheidung.Wenn ich aber versuche, die Verpflichtung, in einem Jahr über das Schreiben zu sprechen, mit der ohnehin notwendigen Krisenbewältigung zu verbinden, entgehe ich einerseits der Peinlichkeit, über mich sprechen zu müssen, weil das Ich, von dem ich erzählen werde, ja nicht ich bin; andererseits habe ich, wenn es gelingt, am Ende nicht nur einen Text über das Schreiben verfaßt, sondern auch meine Schreibkrise überwunden.

Als ich meinen Roman "Endmoränen" beendet hatte, fragte ich mich, was mich nun eigentlich am meisten interessiert. So beginne ich fast immer, nur "Pawels Briefe", ein Buch, von dem ich lange vorher wußte, daß ich es würde schreiben müssen, brauchte diese Frage nicht. Nach längerem Überlegen fand ich heraus, daß mich nichts mehr interessierte als der Fortgang der Geschichte. Johanna, die Expertin für germanistische Gebrauchstexte, Biografien, Vor- und Nachworte, hat den Herbst in ihrem Sommerhaus damit verbracht, die ruinösen Reste ihrer früher als sinnvoll empfundenen Lebenskonstruktion zu sortieren und einen ratlosen Blick in die vor ihr liegende öde Restzeit zu werfen. Die Fragen, die sie sich stellt, sind einfach:Was ist eigentlich los? Wie ist es so gekommen? Was soll nun werden?

Statt einer rettenden Antwort findet sie auf dem Heimweg einen ausgesetzten zottigen Hund, festgebunden an einer Autobahnraststätte, und nimmt ihn mit. Damit endet das Buch.

Je länger ich darüber nachdachte, womit ich mich in den folgenden zwei oder drei Jahren beschäftigen wollte, um so sicherer schien mir, daß ich dringlicher als alles andere wissen wollte, was Johanna, nachdem sie aus den Endmoränen in die Stadt zurückgekehrt ist, tut; ob sie, obwohl sie darin weder Sinn erkennt noch Freude findet, weiter Biografien und Nachworte schreibt, oder ob sie es läßt; wie sie mit Achim, dem Kleist-Forscher, weiterlebt; ob sie Igor wiedersieht; und was der Hund in ihrem Leben bewirkt. Ich wollte nicht ein Buch schreiben, weil ich eine mitteilenswerte Geschichte kannte, sondern weil ich herausfinden wollte, wie die Geschichte, die ich in die Welt gesetzt hatte, weitergeht.

Auf keinen Fall aber dürfte ich, wie in "Endmoränen", in der ersten Person schreiben, das fühlte ich genau, weil ich die Wahrnehmungen und Reflexionen nicht allein der deprimierten und ratlosen Johanna überlassen wollte. Und, auch das wußte ich sicher, Johanna mußte aus ihrer Lethargie befreit und Situationen ausgesetzt werden, die zur anderen, mystischen, gefährlichen Seite des Lebens gehören. Ich stellte mir vor, daß sie nun, weil sie einen Hund hat, nächtliche Spaziergänge unternimmt, die sie ohne den Schutz des Hundes nicht gewagt hätte, und daß sie dabei andere Menschen kennenlernt und andere Geschichten hört als am Tag.

Viel mehr wußte ich noch nicht, als ich zu schreiben begann.

Teil 2