Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
22.09.2004. Ein phantastischer Wutausbruch Frida Kahlos, Männergespräche bei Sandor Marai, der Untergang als Event bei Bettina Rheims und Elmar Holensteins buntes Kartenwerk zur Philosophiegeschichte.
Taugenichtse

Der 1892 in Ungarn geborene New Yorker Fotograf Nickolas Muray war in den 30-er und 40-er Jahren Freund und Liebhaber von Frida Kahlo. Er hat sie immer wieder fotografiert. Jetzt liegen diese Aufnahmen in einer imposanten Edition vor. Es sind zum großen Teil sorgfältige, detailversessene Selbstinszenierungen Frida Kahlos. Keine Strähne, kein Haar ihres die Oberlippe schmückenden Damenbarts, entging ihrer Aufmerksamkeit. Jedes Accessoire ist genauestens abgestimmt auf jedes andere. Kein Team von Stylisten hätte sie besser ausstatten können.

Es sind diese prächtigen Farbaufnahmen, die den ersten überwältigenden Eindruck des Buches hervorrufen. Betrachtet man den Band genauer, stößt man auf schwarz/weiß-Bilder, die ein ganz anderes Bild zeigen. Da gibt es Fotos, die wie Schnappschüsse wirken. Frida Kahlo mit langem, herabhängendem Haar und gesenktem Kopf und einem bitteren Mund. Schon in der nächsten Sekunde aber hat sie den Kopf wieder gehoben und streckt ihn, dem Betrachter die vollen Lippen zeigend, stolz in die Kamera. Es gibt eine Aufnahme aus dem Jahre 1938, die sie zusammen mit Diego Rivera zeigt. Er umarmt sie. Sie hat den rechten Arm um seinen Hals gelegt, mit dem linken scheint sie den Fotografen abzuwehren, während Rivera diabolisch in die Kamera grinst. Es ist ein Bild, bei dem beide so tun, als handele es sich um einen Schnappschuss, dem man ansehen sollte, dass er keiner ist. Nickolas Muray hat das großartig eingefangen. Der Band macht neugierig auf andere Arbeiten dieses Fotografen.

Salomon Grimberg hat eine Einleitung zu den Aufnahmen geschrieben, die aufklärt über die Beziehung von Frida Kahlo und Nickolas Muray. Es werden ausführlich bisher unbekannte Briefe Frida Kahlos zitiert, deren bewundernswerte von Wut gespeiste Klarsicht dem Paris der Zwischenkriegszeit den Goldgrund nimmt, auf dem es sonst so gerne gemalt wird:

"... ich bin die ganze Sache so leid, dass ich beschlossen habe, alles sausenzulassen und aus diesem beschissenen Paris abzuhauen, bevor ich durchdrehe. Du kannst Dir nicht vorstellen, was diese Leute für Kanaillen sind. Ich könnte kotzen. Sie sind so verdammt 'intellektuell' und mies, dass ich sie nicht länger ertragen kann. Es ist wirklich zu viel für mich. Lieber hocke ich mich auf den Markt von Toluca und verkaufe Tortillas, als etwas mit diesen schäbigen Pariser 'Künstlern' zu tun zu haben. Sie sitzen stundenlang in den 'Cafes', wärmen ihre feinen Ärsche und quatschen ununterbrochen über 'Kultur', 'Kunst', 'Revolution' und so weiter, und so fort. Sie halten sich für Gott, phantasieren den aberwitzigsten Unsinn zusammen und verpesten die Luft mit immer neuen Theorien, die nie Wirklichkeit werden. Am nächsten Morgen haben sie nichts zu beißen im Haus, denn keiner von ihnen arbeitet. Statt dessen leben sie wie Parasiten von den ganz reichen Schachteln, die ihr 'künstlerisches Genie' bewundern. Abschaum sind sie, nichts als Abschaum. Ich habe noch nie gesehen, dass Diego oder Du Eure Zeit mit blödem Klatsch oder 'intellektuellen' Diskussionen verschwendet hättet, und deshalb seid ihr richtige Männer und keine lausigen 'Künstler'. So eine Scheiße! Es war sinnlos hierherzukommen, nur um zu sehen, warum Europa vor die Hunde geht und wie diese ganzen Taugenichtse den Hitlers und Mussolinis Tür und Tor öffnen. Ich schwöre Dir, dass ich diesen Ort und die Leute hier hassen werde, solange ich lebe. Sie haben etwas so Falsches und Unechtes an sich, dass sie mich in den Wahnsinn treiben."

"Ich werde Dich nie vergessen - Frida Kahlo und Nickolas Muray: unveröffentlichte Fotografien und Briefe". Herausgegeben von Salomon Grimberg. Schirmer/Mosel, München 2004. 128 Seiten, 91 teils farbige Abbildungen, 39,80 Euro. ISBN: 3829601204.


Zeitlupe

Sandor Marai hat Zeit. Er hatte sie für seinen Ruhm und er hatte sie wieder für seinen Nachruhm und das erste, das dem heutigen Leser bei der Marai-Lektüre auffällt, ist, dass er sie auch beim Schreiben hatte und dass wir sie beim Lesen brauchen.

Nein, das stimmt nicht. Es fällt nicht auf. Jedenfalls nicht als erstes. Das erste, das uns auffällt, ist die Spannung. Man will nicht aufhören mit lesen. Es ist eine Spannung, die nicht aus der Handlung kommt, sondern aus den Sätzen. Wer es schafft, sich vom Buch zu lösen und sich zu überlegen, was passiert ist, was ihn so gepackt hat, der wird feststellen, dass nichts passiert ist. Marai beschreibt, und als wäre das nicht schon langweilig genug, er beschreibt auch noch Gedanken. Aber er macht es so, dass man das Buch nicht beiseite legen kann, sondern jeder Windung der Überlegungen seiner Helden folgt als wäre es der Hockenheim-Ring.

Dabei geschieht alles ganz langsam. Ein Richter wird gefragt, was er von der Entscheidung eines Kollegen hält, dann geschieht eine Seite lang erst einmal nichts, bis endlich die Antwort kommt: "Das Urteil ist von unbilliger Härte." Aber der Leser war nicht der Antwort entgegen die Zeilen hinuntergerast, sondern ist den Selbstzweifeln, den Abwägungen, dem zaghaften Hinundher des inneren Monologes des Helden mit einer Konzentration gefolgt, die er niemals wird aufbringen können zur Ordnung seiner eigenen Angelegenheiten. Er liest die Antwort und liest ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde innezuhalten weiter, denn er kann nicht lassen vom Buch und von den Gedanken des Helden. Es ist als hätte Sandor Marai den Leser in eine Nanomaschine verwandelt, die schwer atmend den wie durch eine Zeitlupe verlangsamten Gehirnströmen der Protagonisten folgt.

Wer das liebt, der wird auch Sandor Marais "Die Nacht vor der Scheidung" lieben. Es ist wieder das nächtliche Gespräch zweier Männer, wieder zieht ein ganzes Leben sich auf wenige Stunden zusammen und wieder wird alles dadurch nicht etwa schneller, sondern der Blick zurück lässt alles erstarren. Endlich läuft alles so langsam ab, dass man es erkennen kann. Das hilft nichts mehr. Es ist viel zu spät etwas zu ändern. Aber es steht auch keine Entscheidung mehr an. Es gibt nur noch den Schock der Erkenntnis.
Sandor Marai: "Die Nacht vor der Scheidung". Aus dem Ungarischen von Margit Ban. Piper Verlag, München Zürich 2004. 220 Seiten, 17,90 Euro. ISBN 3492042872.


Schöner Schreck

Die Fotos stammen aus den vergangenen 13 Jahren. Sie zeigen Models, Stars, Berühmtheiten aus Mode- und Film. Ines de la Fressange zum Beispiel steht in einem rosa Kleid auf blau-weißen Kacheln in einer ländlichen Küche auf sehr hochhackigen roten Schuhen und auf ihrer rechten Hüfte balanciert sie ein Kind mit Namen Violette. Sonst kommen in diesem Band Kinder kaum vor. Als Accessoires dienen meist die üblichen Verdächtigen: Zigaretten, Arm- und Halsbänder, Ketten und Perücken. Freilich auch Strickzeug, Schleier und Messer. Die Fotos sind knallbunt und auf teuerste Weise trashig, also tres chic.

Die Kenner wissen, es geht um Bettina Rheims, um ihre Kunst, auch die schönsten Frauen einer so aufwändigen Behandlung zu unterziehen, dass sie aussehen als wären sie gerade fertig mit ihrer Schicht auf dem billigsten Strich. Wer zum Beispiel Emmanuelle Beart oder Laetitia Casta einmal so sehen möchte, dass er sie nie wieder sehen möchte, der greife nach diesem Band. Manchmal genügen Bettina Rheims ein dick aufgetragenes und dann verwischtes Make Up und ein paar kräftige Laufmaschen, um den erwünschten Effekt zu erzielen. Ein andermal werden Blutspritzer mit demonstrativ unauffälliger Eleganz in einem Badezimmer verteilt, um mit dem blutverschmierten Handgelenk und dem Messer in der Hand der Heldin eine stimmige correspondance zu bilden.

Man wird diese Aufnahmen einmal erkennen als Bilder jener Vorkriegsepoche, da die Menschheit ihren Untergang als Event beging. Der Reiz einer jeden Dekadenz besteht darin, dass sie sich den Schrecken schönfeiert. Das ist ihre Stärke. Bettina Rheims versucht mit dem Schrecken, der die Schönheit ist, fertig zu werden, in dem sie sie schrecklich macht. Das ist ein verharmlosendes Missverständnis. Bettina Rheims möchte selbst schrecklich sein, in dem sie die Schönen verhässlicht. Aber was soll daran schrecklich sein, wenn alle Mühe darauf verwandt wird, Emmanuelle Seigner nicht besser aussehen zu lassen als die Frau von der Poststelle?

Bettina Rheims: "More Trouble". Schirmer/Mosel, München 2004. 240 Seiten, 217 Farb- und Duotone Abbildungen, 68 Euro. ISBN 3829601069.


Pädagogik

Elmar Holensteins Philosophie-Atlas ist überall gelobt worden. Man habe Philosophiegeschichte so noch nie gesehen, heißt es. Oder: der Atlas öffne einem die Augen für die geografische Dimension der Philosophie. Das erste ist sicher richtig. Wer das zweite von sich behauptet, hat sicher recht, aber es ist ein wenig naiv, davon auszugehen, dass andere auch noch nie einen Atlas hinzugezogen haben, um sich klar zu machen, wo Platon und Nagarjuna, Eisai und Einstein, Kant und Hegel, Hume und al Farabi lebten. Es ist schön, in einer Philosophiegeschichte auf Karten zu stoßen, aber Holenstein will keine Philosophiegeschichte sein, sondern ein Kartenwerk zur Philosophiegeschichte.

Ich habe das Schaubild zu Jaspers' Kulturen der Achsenzeit auch noch nicht gesehen, ich sehe aber nicht, was ich durch die fünf verschiedenfarbenen und unterschiedlich großen Torten - Griechenland, Palästina, Iran, Indien, China - hinzugelernt habe. Man versteht die Karte nicht, wenn man den erläuternden Text nicht dazu liest. Bei Erstklässlern ist die Schautafel ein probates Mittel, um die Kleinen dazu zu bringen, zu lesen. Die Einförmigkeit der Buchstaben langweilt sie. Sie erwarten sich nichts Neues von ihnen. Da helfen bunte Karten.

Holensteins Atlas erreicht nichts anderes. Es gibt keine einzige Karte, die einem besser als der beigefügte Text klarmachte, was passierte. Aber, indem wir versuchen, die Karten zu entziffern, beginnen wir den Text zu lesen. Der ständige Wechsel zwischen Text und Karte intensiviert unsere Lektüre und da wir, haben wir den Text verstanden, die Karte noch lange nicht verstanden haben, setzen wir uns länger mit dem Thema auseinander. Das ist der Nutzen der Karten. Wir überlegen uns, was zum Beispiel die zwischen Cordoba und Buchara nach Ost und West weisenden grünen Pfeile auf einer Karte "Philosophie im westlichen Teil der 'Alten Welt' um 'Mittelalter' 5. 15. Jahrhundert" zu bedeuten haben. Wir blicken auf die Legende und erfahren, es handelt sich um "Ausbreitungslinien der Philosophie im Islam und im Judentum". Das mag den einen oder anderen ärgern, dabei ist es in seiner Einfalt doch schon wieder erheiternd.

Elmar Holenstein: "Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens". 41 vierfarbige Karten und Schaubildern, eine Einführung, Begleittexte, Personen- und Geographisches Register. Ammann Verlag, Zürich 2004, 304 Seiten, Format: 20,5 x 30 cm, 43,90 Euro. ISBN 3250104795.